"322 wird Ihnen zusagen. Unser Amor-Zimmer"






Eine Frühstückspension im Wienerwald. Wir waren sehr müde und hatten bereits lange nach einer Übernachtungsmöglichkeit gesucht. Da, im spätherbstlichen Nebel, eine gelbe, vielversprechende Leuchtschrift. Ein Gebäude aus den 1960er Jahren, das zweifellos bessere Zeiten kannte. Auf dem Parkplatz nicht ein einziges Auto. Es dauerte, aber es wurde geöffnet. Der Nachtportier, Betreiber dieser Unterkunft, ein schmieriger Typ von etwa 45 Jahren, der distanzlos anzügliche Bemerkungen machte. Der lange Korridor, in dem links und rechts zahllose Türen auf Zimmer wiesen, kannte nur eine Notbeleuchtung. Das Zimmer am Ende des Korridors, ein muffiger Raum mit geschmacklosen Tapeten und Vorhängen. Als ich später noch einmal zur Rezeption ging, saß der Nachtportier, es war sonst niemand anwesend, vor einem Bildschirm und schaute sich einen Porno an. Ich dachte mir die Zimmer dieser Pension mit Kameraaugen ausgestattet. Ich stellte mir den Typen vor, wie er uns beobachtet, und, wären mehrere Zimmer belegt gewesen, zwischen den einzelnen Zimmern hin- und herzappt. Wie viele Geschichten gibt es nicht, in denen Gasthäuser oder Hotels nichts mit der versprochenen Sicherheit zu tun haben. In Wilhelm Hauffs Märchen "Das Wirtshaus im Spessart" stecken die Wirtsleute unter einer Decke mit den Räubern. In Rainer Erlers Roman "Fleisch" quartieren sich Monica und Mike, sie befinden sich in den Südstaaten auf ihrer Hochzeitsreise, in einem Motel mit dem Namen "Honeymoon Inn" ein. Den beiden wird ein mit einem Schlafmittel versetzter Kaffee verabreicht, um sie als "Organspender" zu entführen.

Wieder in meinem Zimmer, hörte ich ein seltsames Rauschen neben, unter meinem Bett. Als ich den Teppich beiseite rollte, entdeckte ich einen Kanaldeckel. Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich ein Hotelzimmer als bedrohlichen Ort. Schläft man, so ist man verletzlich. Bedrohlich meint etwas anderes als trostlos. Viele Hotelzimmer sind trostlos, aber nicht bedrohlich. Nüchtern betrachtet sahen wir das Zimmer mit den Augen des Kinos. Der Nachtportier als Voyeur scheint geradezu Alfred Hitchcocks Film "Psycho" (1960) entlehnt, auch all meine Assoziationen, die sich dem Kanaldeckel unter dem Teppich verdankten. Norman Bates beobachtet durch ein Loch in der Wand die sich ausziehende Marion Crane. Ihr Blut verschwindet bereits wenige Kinoaugenblicke später in einer Spiralbewegung im Abflussloch der Nasszelle, also in einem Kanal, ihr Körper mit all den Dingen, die an sie erinnern könnten, in einem Sumpf. Nicht nur Marion Crane wird in der Duschkabine ermordet.

"Ich möchte gerne Zimmer 773."
"Das ist leider besetzt. Im Schnitt sind die Zimmer alle gleich."
"Haben Sie noch ein Zimmer, das in der Nähe ist, oder nebenan?"
"Nebenan? Das ist frei."
"Na gut."

In Francis Ford Coppolas "Der Dialog" (1974) tritt an die Stelle des Gucklochs das Mikrophon. Harry Caul mietet sich im Jack Tarr Hotel ein, installiert, unter dem Waschbecken, neben der Toilettenmuschel kauernd, ein Mikrofon in der Wand, um das Geschehen im angrenzenden Hotelzimmer abzuhören. Er wird Zeuge einer heftigen verbalen Auseinandersetzung, eines Mordes. Als er sich später Zugang zum Nebenzimmer verschafft, ist dieses verlassen. Nichts scheint auf ein Verbrechen hinzudeuten. Keine Blutspuren in der Duschkabine, selbst der Abflussstöpsel ist blankpoliert. Alles verkehrt sich in sein Gegenteil. Nicht das vermeintliche Mordopfer, der vermeintliche Mörder kommt um. Die Toilettenmuschel bringt nicht zum Verschwinden. Als Harry die Spülung bedient, quillt ihm aus dem verstopften Abfluss Blut entgegen. Der Abhörspezialist glaubt sich selbst abgehört.

Blaney: "Ein Doppelzimmer bitte."
Seine Freundin Babs Milligan: "Aber doch nicht hier!"
Rezeptionistin: "Wünschen Sie zwei Einzelbetten oder ein Doppelbett für Ehepaare."
"Ein Doppelbett bitte."
"Ja, ist gut." "322 wird Ihnen zusagen, unser Amor-Zimmer."
"Was Sie nicht sagen."
"Ja. Ist sehr gemütlich."
"Würden Sie sich bitte hier eintragen."
"Ja, natürlich."
"Mr und Mrs Oscar Wilde."
Babs: "Was soll das heißen? Hör auf mit dem Blödsinn."
"Entschuldigen Sie. Das macht zehn Pfund plus zwanzig Prozent für Bedienung. Vielleicht möchten Sie's gleich regeln, im Voraus."
"Hier."
"Danke."
"Welches Zimmer bitte?"
"322."
Hotelangestellter: "Folgen Sie mir bitte. 322, das ist hübsch."
"Amor-Zimmer heißt das bei Ihnen anscheinend."
"Da drin haben Amors Liebespfeile schon ein Haufen Herzen durchbohrt, das kann ich Ihnen sagen. Benötigen Sie noch etwas aus der Drogerie?"
"Nein."

Um eine Geschichte zu erzählen, bedarf das Kino unterschiedlichster Informationsträger, die bereits vorab diese oder jene Assoziationen zulassen. All das beginnt bereits bei der Auswahl der Schauspieler, mit der Art und Weise, wie sie gekleidet oder geschminkt werden. Man stelle sich einmal vor, Hitchcock hätte in seinem Film "Die Vögel" (1963) die Rolle der Melanie Daniels mit Suzanne Pleshette, jene der Lehrerin in Bodega mit Tippi Hedren besetzt. Die Geschichte hätte so nicht funktioniert. Etwas ähnliches gilt auch für die Orte des Kinos. Allein durch ihre Auswahl ist die Handlung bereits vorweggenommen. Die Orte des Kinos haben mit dem wirklichen Leben wenig gemein. Anders als im Kino ist der Tod in einer Badewanne eines Hotels eine Seltenheit. Nur in Ausnahmefällen scheint die Wirklichkeit dem Kino entlehnt. Dies gilt etwa für Uwe Barschels Tod, der 1987 im Genfer Luxushotel Beau-Rivage tot in der Badewanne des Zimmers 317 aufgefunden wurde. Ganz anders liegt es bei Dominique Strauss-Kahn, dem vorgeworfen wurde, ein Zimmermädchen in einer Suite des New Yorker Hotels Sofitel zum Oralsex gezwungen zu haben. Was immer geschehen sein mag, solche Geschichten ereignen sich tausendfach. Es hätte nicht den geringsten Skandal gegeben, hätte es sich bei Dominique Strauss-Kahn nicht um eine sehr prominente, also öffentliche Persönlichkeit gehandelt.

Das Hotel verspricht Ruhe, Erholung, Abwechslung. Im Kino ist es allerdings vor allem mit dem Tod assoziiert. In Takeshi Kitanos Film "Hana-Bi" (1997) bricht Nishi, ein Polizist, der eben eine Bank ausgeraubt hat, mit seiner todkranken Frau Miyuki zu einer letzten Reise auf. Die beiden quartieren sich in einem Hotel mit Blick auf den Fuji ein. Nishi in einem niederen Fauteuil. Vor dem Fenster eine Winterlandschaft. Miyuki sitzt vor einem Gemälde mit Kirschblüten. Wie die Kirschblüten verweist die Winterlandschaft auf den Tod. Eine ältere Hotelangestellte: "Wollen Sie wirklich allein fotografiert werden, ohne Ihren Mann?" Miyuki nickt: "Ja." "Gut. Dann drück ich jetzt ab." Miyuki lächelt. Hotelangestellte: "Sehr schön." Sie stellt eine Plastiktasche auf den Tisch: "Das ist ein Geschenk des Hauses. Einen schönen Aufenthalt." Kurz darauf erschießt Nishi seine Frau und dann sich selbst. Abdrücken, um ein Erinnerungsfoto zu machen. Abdrücken, um das Leben zu beenden.

Das reale Hotel lebt von der Diskretion. Bezahlt man, hält man sich an die Regeln, betrinkt sich nicht übermäßig, stört man keine anderen Gäste, hat alles seine Ordnung. Im Kino ist das Hotel dagegen ein Ort der Ungewissheit, ein Ort fraglicher Identitäten. Man denke etwa an jene Hotelszene in Alfred Hitchcocks Film "Der unsichtbare Dritte" (1959), in der Roger Thornhill eine andere Identität attestiert wird.

"Haben Sie nach mir geklingelt?"
"Ja, bitte kommen Sie herein. Wie heißen Sie eigentlich?"
"Ich heiße Else."
"Else. Wissen Sie, wer ich bin?"
"Natürlich. Mr Kaplan."
"Wann haben Sie mich zum letzten Mal gesehen?"
"Gerade eben draußen vor der Tür. Im Flur vor ein paar Minuten. Erinnern Sie sich nicht? Kann ich etwas dafür, dass Sie niemals da sind?"
"Woher wissen Sie, dass ich Herr Kaplan bin?"
"Wer sollen Sie denn sonst sein? Das ist doch Zimmer 796. Also sind Sie der Herr aus Zimmer 796."
"In Ordnung Else, danke."
"Haben Sie sonst noch einen Wunsch?"
"Nein, das wäre alles."

Allerdings entsprechen weder die Anzüge seinem Geschmack, noch seiner Körpergröße.

"Ich bringe den Anzug."
"Oh ja, kommen Sie herein."
"Soll ich ihn gleich in den Schrank hängen, Herr Kaplan?"
"Ja, bitte. Übrigens sagen Sie mir, wann habe ich Ihnen den Anzug gegeben?"
"Gestern Abend, ungefähr um sechs."
"Habe ich Ihnen den Auftrag persönlich erteilt?"
"Aber nein, Herr Kaplan. Soviel ich weiß, gaben Sie den Auftrag telefonisch durch. Sie haben den Anzug beschrieben und gesagt, dass er in Ihrem Schrank hängt, genauso wie Sie es immer tun. Stimmt etwas nicht?"

Wie das Theater kennt das Kino Kulissen. Wie das Theater bedient sich das Kino bestimmter Requisiten. In Hotelgeschichten sind nicht zufällig Anzüge von Bedeutung. In Alfred Hitchcocks Film "Frenzy" (1971) quartiert sich Blaney mit Babs Milligan, die er aus einem Pub kennt, im Hotel "Coburg" ein. Seinen schmutzigen Anzug gibt Blaney dem Portier zur Reinigung: "Sekunde. Geben Sie das bitte in die Reinigung. Und sagen Sie, es wär eilig. Und sie können auch gleich die untere Hälfte mitnehmen, und sagen Sie, sie möchten alles kräftig sprayen." "Sprayen, Sir. Womit?" "Mit DDT, womit sonst. Tod der blutgierigen Wanze, mein Guter, und Vernichtung der heimtückischen Laus. Lassen Sie den Kram reinigen und bügeln." "Ja, Sir."

"Immer nur Arbeit und kein Vergnügen. Ein Mädchen wie du sollte sich heute abend amüsieren anstatt immer nur Anrufe von Geschäftsleuten zu empfangen. Wie wäre es, wenn wir heute abend zusammen essen gingen."
"Nein. Du kannst es dir nicht leisten irgendwo gesehen zu werden."
"Dann essen wir eben hier bei dir, das ist viel gemütlicher."
"Nein, ich kann nicht."
"Und wenn ich darauf bestehe?"
"Ich möchte, dass du mir einen großen Gefallen tust, einen sehr großen."
"Was willst du?"
"Ich möchte, dass du mich verlässt, und zwar sofort. Bleibe bei den Menschen deiner Sphäre und komm nie wieder in meine Nähe. Wir werden uns nicht mehr wiedersehen. Gestern abend war gestern abend und mehr wird nicht sein. Es wird keine Zukunft geben. Also bitte, geh. Keine weiteren Erklärungen. Geh nur einfach."
"Du meinst sofort?"
"Ja."
"Und das ohne Kommentar?"
"Ja."
"Nein, das kann ich nicht machen."
"Bitte."
"Nach dem Essen."
"Nein. Jetzt."
"Nach dem Essen. Fair ist fair."
"Na schön. Aber eine Bedingung stell ich. Dass du zuerst den Hoteldiener deinen etwas mitgenommenen Anzug ausbürsten lässt. So wie du aussiehst kann ich leider nicht mit dir essen gehen."
"In Ordnung."
"Da ist das Telefon."
"Hallo, geben Sie mir den Hoteldiener bitte."
"Einen Moment, da wird gesprochen."
"Wo sind wir?"
"Zimmer 463. Sagen Sie, wie schnell können Sie einen Anzug reinigen und bügeln? Zwanzig Minuten. Fein. 463. Siehst du, es klappt."
"Lass nichts in den Taschen."
"Was kann ein Mann zwanzig Minuten ohne seine Kleidung unternehmen?"
"Man kann zum Beispiel eine schöne kalte Dusche nehmen. Als ich noch ein kleiner Junge war, erlaubte ich nicht einmal meiner Mutter mich auszuziehen."
"Du bist inzwischen gewachsen."
"Ja."
"Sag mir, wie hast du's nur angestellt so zu werden wie du bist?"
"Einzig und allein Glück."
"Nein, das glaub ich nicht, weil du unerzogen und boshaft bist. Hast du schon einmal jemand umgebracht. Ich wette, du könntest ohne dich anzustrengen einen Mann ruinieren, aber bitte lass mich aus dem Spiel."

Während Roger Thornhill eine andere Identität aufgezwungen wird, täuschen andere eine falsche Identität vor. Der Handlungsreisende kann sich als Bankräuber entpuppen. Er hat sich einzig deshalb einquartiert, um die gegenüberliegende Bank besser beobachten zu können. Das Kino kennt komplexere Auseinandersetzungen mit Identität. Hier ist vor allem Michelangelo Antonionis Film "Beruf: Reporter" (1975) zu nennen. David Locke, ein Reporter, versucht in der Wüste des Tschad vergeblich, Kontakt mit Freiheitskämpfern aufzunehmen. Ins Hotel zurückgekehrt, findet er einen mysteriösen Geschäftsmann, der im selben Hotel wohnt und ihm ähnlich sieht, tot in dessen Zimmer. Von seinem Leben angewidert, tauscht Locke die Fotos in den Reisepässen aus und nimmt so die Identität des Toten an. Am Ende des Films, der sich durchgehend mit Fragen der Identität beschäftigt, wird Locke, auf die berühmte Kamerafahrt sei hier nur am Rande hingewiesen, in einem Hotelzimmer ermordet. In Antonionis Beschäftigung mit Fragen der Identität ist das Hotel mehr als nur Kulisse. Mit Hilfe der Architektur gelingen ihm zahllose Perspektivenver-schränkungen und Brechungen. Während Locke am Ende des Films im Hotelzimmer liegt, unterhalten sich draußen zwei Männer auf einer Bank. Ein Hund, ein spielendes Kind mit einem Ball, ein Fahrschulauto, das seine Runden dreht. Das Mädchen, das das Zimmer verlassen hat, kommt hinzu.

Alfred Hitchcock, "Vertigo" (1958). Ähnlich wie die Figuren in "Morels Erfindung" bewegt sich Madeleine in einer Endlosschleife. Sie erinnert an eine in einer Traumwelt gefangene Automate. Madeleine: "Es ist, als ob ich einen langen Korridor entlang gehe, der einmal Spiegelwände hatte, und davon hängen immer noch Bruchstücke an den Wänden, und wenn ich ankomme am Ende des Korridors, ist da nichts als Dunkelheit, und ich weiß, wenn ich in diese Dunkelheit gehe, dann sterbe ich. Aber ich bin nie ganz ans Ende gekommen. Irgend etwas hat mich immer davon bewahrt." Nach dem Tod von Madeleine begegnet Scottie Judy, die ihn an Madeleine erinnert. Tatsächlich ist sie jene Frau, die er aus der Bucht gefischt, in seine Wohnung getragen, abgetrocknet und in sein Bett gelegt hat. Judy hat die Rolle der Madeleine nur gespielt. Er vermag das Original nicht zu erkennen, hält Judy trotz aller Ähnlichkeit für eine andere und sucht mit ihrer Hilfe das scheinbar verloren gegangene Original. All sein Bemühen zielt auf die Erscheinung, auf Oberflächen und Hüllen.

In einem Hotelzimmer.
Judy: "Du willst mich nicht einmal berühren."
Scottie: "Doch, doch, das möchte ich schon!"
Judy: "Könntest du mich lieben - nur mich -, so wie ich bin? Am Anfang, als wir zusammen waren, war alles so schön, so wundervoll ... und dann hast du angefangen mit den Kleidern. Na schön, ich werde all diese Sachen anziehen, wenn du's willst, wenn ich nur weiß, dass du mich gern hast."
Scottie: "Die Farbe deiner Haare!"
Judy: "Oh nein!"
Scottie: "Bitte - es kann dir doch nichts ausmachen."
Judy fügt sich, lässt sich ihre Haare hinten hochkämmen und im Nacken zusammenstecken. Ob Madeleine oder Judy. Da wie dort hat die Kopie den Tod des Originals zur Folge.

Das Hotel ist der ideale Ort für Handlungsreisende, Bankräuber und Berufskiller. In Allen Barons Film "Explosion des Schweigens" (1961) betritt der Auftragskiller "Frankie" Bono aus Cleveland, der über die Weihnachtsfeiertage einen Job zu erledigen hat, mit einem Hotelangestellten ein billiges Hotelzimmer. Während Frankie seinen Mantel ablegt, zieht dieser die Vorhänge zurück und öffnet die Jalousien: "Hoffentlich werden Sie sich bei uns wohl fühlen. Fröhliche Weihnachten." Der Hotelangestellte verlässt das Zimmer. Stimme aus dem Off: "Eingetragen als Fred Moore aus Albany. Voraussichtliche Dauer des Aufenthalts, eine Woche. Geschäftsreise." Der Hotelangestellte öffnet noch einmal die Tür: "Wenn Sie irgend einen Wunsch haben sollten, stehe ich Ihnen zur Verfügung. Fragen Sie nur nach George." Bereits nach einem ungeplanten Mord wird das Hotelzimmer zu einem fraglichen Fluchtpunkt. Frankie geht unruhig im Hotelzimmer auf und ab. Stimme aus dem Off: "Keine Angst, du bist nicht gebrandmarkt, trägst kein Kainszeichen, war ja nicht dein Bruder, aber sonderbar, eigentlich müsstest du eiskalt sein, was ist mit dir, du bist schweißnass, hast wohl versucht beim Hundertmeterlauf erster zu sein, rede dir nur ein, dass im Zimmer tropische Hitze herrscht, übrigens, die Heizung ist abgestellt, natürlich kann man gut schwitzen, und in diesem Schweiß wirst du bleiben bis man die Leiche gefunden und deine kleine sportliche Laienübung gewürdigt haben wird." Gegen alle Regeln des Kinos finden sich auch Berufskiller, die Hotelzimmer meiden. Man denke etwa an Seijun Suzukis "Lied der Gewalt" (1966). Lange vor Coppola lässt Suzuki das Haar einer Toten aus der Toilettenmuschel quellen. Und dann das Waschbecken! Der Killer tötet einen Augenarzt, der eben dabei ist, ein Glasauge zu reinigen, durch einen Schuss, den er aus einem darunter gelegenen Raum durch das abmontierte Ablussrohr abfeuert. Die Kugel trifft das Opfer mitten in der Stirn. Es kann auch der Mund gewesen sein. Hut ab. Heute mangelt es ja an gutem Handwerk.

Rezeption und Portierloge, im Kino Orte der Indiskretion. Das Personal kann unlautere Absichten verfolgen, die Polizei verständigen. In der Morgenzeitung ein Bericht über einen Mord an einer Heiratsvermittlerin. Verdächtigt werde ein Mann mit lederbesetztem Jackett. Der Portier ruft die Polizei.

"He, Gladis, hast Du das gelesen?"
"Das arme Mädchen."
"Das Sportjackett. Hör mal, was hier steht. Die Polizei sucht dringend einen Mann, der gesehen wurde, als er ungefähr zur Mordzeit die Heiratsvermittlung verließ. Als er zuletzt gesehen wurde, trug er ein Tweedjackett mit Lederflecken an den Schultern und Ellbogen sowie einen hellen Reisemantel."
"Komische Art, eine Jacke zu flicken."
"Darum ist es mir aufgefallen, Gladis. Der Bursche in 322 trug so eine."
"Du meinst Mr Oscar Wilde?"
"Das ist doch nicht sein richtiger Name, Gladis. Oscar Wilde, dass ich nicht lache. Es ist der, der von der Polizei gesucht wird. Kapierst du, das ist der Krawattenmörder. Und der ist oben im Amor-Zimmer. Ich will nur hoffen, dass das Mädchen noch keine Krawatte umhat."
"Ausgerechnet im Amor-Zimmer."
"Weißt du Gladis, manchmal kommt mir schon das Kotzen, wenn ich daran denke, was Männer mit Frauen alles treiben. ... ... ... Hallo, ich möchte die Polizei. Ist dort die Polizei. Ich bin Portier im Coburg. Kommen Sie sofort. Ich hab diesen Burschen, nach dem Sie suchen."

Im Gegensatz zur Wirklichkeit werden die Protagonisten oft genug von ihrer eigenen Geschichte eingeholt, treffen sie auf Personen, die sie hier nicht erwarten würden. Tatsächlich setzt eine erfolgreiche Bewirtschaftung Diskretion voraus. Das Hotelzimmer ist kein Lebensort. Es bildet nur einen Fluchtpunkt einer Unterbrechung. Jeder Aufenthalt ist nur ein Einschub. Wer sich erschöpft auf das Bett wirft, tut dies schon im Gedanken an die Abreise. Das Hotelzimmer ist ein leerer, ein geschichtsloser Ort, wenngleich Gebrauchsspuren oder Gerüche uns nur zu deutlich das Gegenteil in Erinnerung rufen. In solchen Zimmern können sich Leidenschaften wie Tragödien ereignet haben.

Ich sitze abends im Eingangsbereich eines Hotels, in dem zumeist Busreisende nur eine Nacht verbringen. Ein Mann mit einem Jungen quartiert sich ein. Die Gesten sind nicht die eines Vaters. So berührt ein Vater sein Kind üblicherweise nicht. So wie der Mann den Jungen betatscht, das deutet eher auf erotisches Begehren. Auch sind die beiden allein. Mutter und Geschwister fehlen.

"Ich hätte gerne ein Zimmer mit Bad, besser zwei Zimmer mit Bad."
"Haben Sie reservieren lassen, Mister ..."
"Humbert ist mein Name. Ich habe mich nicht vorgestellt."
"Ich bedaure. Wir sind besetzt. Wir haben kein Bett mehr frei. Wir haben eine Polizeitagung im Haus ..."
"So?"
"Ist es für Sie und die Kleine."
"Ja, wir sind sehr müde."
Der Hotelangestellte zur Seite gewandt: "Mr Potts, wie war das mit dem Zimmer für Mr Lang."
"Er hat angerufen und abgesagt."v "Dann könnten Sie in 241 einziehen. Es hat aber nur ein Bett."
"Vielleicht könnten Sie noch eine Couch auftreiben oder ein Klappbett."
"Haben wir noch ein Feldbett frei?"
"Die haben wir alle für die Herren der Polizei aufgestellt."
"Trotzdem wird das Zimmer ausreichen. Sie werden sehen. Sie werden sehr zufrieden sein. Das Zimmer ist reich bemessen. Neulich haben drei Herren darin übernachtet."
"Es wird schon gehen, selbst wenn meine Frau noch nachkommen sollte. Ich bin zufrieden, dass wir wenigstens das haben."
"Wollen Sie sich bitte eintragen ..."
"Ja, gerne. ... Was war das für eine Tagung oder Konvention, von der Sie vorhin sprachen."
"Es ist eine Tagung höherer Polzeiangestellter, die in unserem Hotel abgehalten wird."

In Stanley Kubricks Film "Lolita" (1962) reist der Literaturwissenschaftler Humbert mit seiner Stieftochter Lolita, die er krankhaft begehrt und deren Mutter er nur geheiratet hat, um ihrer Tochter nahe zu sein, durch die USA. In einem Hotel versucht er ihr näher zu kommen. Lolita zeigt sich widerspenstig, scheint wenig Lust zu haben, ihrem Stiefvater zu nahe zu kommen. Die beiden allein in einem Hotelzimmer.
Lolita: "Also so hast du dir das gedacht?"
Humbert: "Meinst du ..."
"Ja."
"Ich versteh nicht. ... Weißt du, ich hab doch unten den Portier gefragt, ob sie ein Feldbett haben oder eine Couch."
Lolita in lassziver Pose auf dem Bett: "Eine Couch. Du bist ja verrückt."
"Ich versteh nicht."
"Ganz einfach. Wenn meine reizende Frau Mama herauskriegt, dass wir hier ... dann lässt sie sich von dir scheiden und mich erwürgt sie."
"Ich denke vor allem praktisch. Ich empfinde als Vater große Zärtlichkeit für dich und so lange deine Mutter krank ist, bin ich für dein Wohlergehen verantwortlich, und so lange wir reisen, werden wir sparen müssen. Wir werden viel aufeinander angewiesen sein, zwei Menschen, die ein Zimmer teilen müssen, kommen ... wir sind viel zusammen, sind sehr intim."
Lolita streift ihre Schuhe ab: "Hat das mit der Couch zu tun? Lass uns doch runtergehen und fragen."

Für Liebende ist das Hotelzimmer ein neutraler Ort, weder Ort des einen, noch Ort des anderen. Der Ort ermöglicht keinen Verweis auf die Geschichte des anderen. So bleibt Raum für Phantasien, Wünsche und Begierden. Vielleicht gibt es keinen Ort, wo sie sich näher sein könnten, zumindest in jenem Zustand, in welchem die Zukunft noch eine unbrauchbare Kategorie ist.

"Was willst du als nächstes unternehmen?"
"Ich bin mir darüber noch nicht im Klaren. Es hängt ganz von dir ab."
"Von mir?"
"Natürlich. Du bist doch mein Maskottchen. Nicht wahr? Auf uns, auf eine lange, eine ehrliche Freundschaft. Ich werde dich nämlich von jetzt an nicht mehr aus den Augen lassen, wenn du nichts dagegen hast, mein Herzblatt."
"Wenn ich doch etwas dagegen habe?"
"Oh nein."
"Ich habe meine eigenen Pläne, musst du wissen. Und du hast deine Probleme."
"Wäre es nicht möglich, dass sich meine Probleme und deine Pläne irgendwie miteinander verbinden ließen? Dann brauchten wir uns auch niemals mehr zu trennen. Wir würden es nie mehr nötig haben allein zu arbeiten, zusammenhalten. Verstehst du was ich meine?"

Oder [die beiden haben sich eben aus einer leidenschaftlichen Begegnung gelöst]:
Er: "Geht's dir gut?" Sie: "Ich bin ein bißchen müde. Ich arbeite viel zu viel. Ich habe mir gerade eine neue Wohnung gekauft. Ich hab mein ganzes Geld investiert. Ich kann mich jetzt von meinem Vater und meinen Schwestern lösen." "Es war sehr schön. Viel besser als vor unserer Trennung." "Seit der Trennung sind wir viel entspannter." "Wir dürfen einfach kein Liebespaar sein. Denn dann streiten wir uns nur. Kommst du mit zu meiner Galerie. Da sind im Moment Gemälde von einer jungen Malerin zu sehen. Die werden dir bestimmt gefallen." "Geht nicht. Sonntag abend muss ich zum Essen zu Hause sein."

Jedes Hotelzimmer kennt seine Geschichte. Menschen haben sich hier geliebt, haben andere betrogen, haben sich hier versteckt, möglicherweise hat sich hier jemand das Leben genommen, wurde jemand getötet, haben sich Menschen erbrochen, geschlagen, sind Menschen einsam und stumm nebeneinander gelegen, haben sich Menschen betrunken oder wurden Menschen von fürchterlichen Alpträumen geplagt. Mit dem Bezahlen und der darauffolgenden Reinigung des Zimmers ist alles aufgehoben. Geschichte gäbe es nur dort, wo diese auf konkrete Menschen und Ereignisse verwiese. Aber in einem Hotel verweist alles nur auf uns selbst. Je teurer ein Hotel, umso mehr wird darauf geachtet, alle Spuren zu tilgen. In billigen Hotelzimmern wird Geschichtslosigkeit eher symbolisch hergestellt. Mag das Bett auch neu überzogen sein, so riecht es doch nach Moder. Trotz verpackter Seife sind in der Duschkabine Haare nicht zu übersehen. Da hilft auch nicht, liegt auf dem Toilettendeckel ein in mehreren Sprachen abgefasster Hinweis: "Diese Toilette wurde desinfiziert."

Auch in der Realität kippt manchmal die scheinbar saubere Wirklichkeit, nicht zufällig an den Schnittstellen des Hotels, an der Bar, im Gastraum. Eine Hotelerfahrung habe ich besonders eindrücklich in Erinnerung. Da die Tauernautobahn wegen heftigen Schneetreibens kaum noch zu befahren war, suchten wir in Tamsweg nach einem Hotel. Ich blieb nach dem Essen allein sitzen und notierte mir die Eindrücke des vergangenen Tages. Am Nebentisch eine Gruppe junger Männer aus dem örtlichen Umfeld. Gut gelaunt. Später gesellte sich ein Bursche zu ihnen, der sehr niedergeschlagen schien. Dies tat der guten Stimmung keinen Abbruch. Er gehörte dazu, dann aber doch nicht. Er sprach kaum, war einsilbig. Einige hänselten ihn, andere versuchten ihn etwas aufzuheitern. Die Freundin des Burschen hatte sich vor wenigen Tagen das Leben genommen. Obwohl endlich ausgesprochen hatte die traurige Geschichte weitere scherzhafte Bemerkungen zur Folge. Zweifellos ging dieser Bursche noch einsamer nach Hause, als er gekommen war. Während der Nacht wachte ich aus einem Alptraum auf, irrte durch das Appartement, suchte etwas im Kühlschrank, wusste aber nicht was. Ich war mitten in der Geschichte des jungen Burschen, allerdings ohne Ordnung oder Klarheit. Wahrnehmungs- und Sprachverwirrungen, Perspektivenver-schränkungen, die nur Gestammel, aber keine Rede zur Folge haben. Jean-Luc Godard, "Rette sich wer kann - Das Leben" (1979). Das Gesicht von Isabelle, die auf einem Bett liegt, in Großaufnahme. Sie dreht ihren Kopf in einer gleichmäßigen Bewegung hin und her, stöhnt. Paul Godard, der nicht zu sehen ist: "Gib Dir keine Mühe. Tu nicht als ob ..." Eine Frauenstimme aus dem Off: "Sie hatte die Augen geschlossen. Es würde lange dauern. So konnte sie an den bevorstehenden Tag denken. Zuerst würde sie ihre Sachen ordnen, damit alles einwandfrei aussähe, alles ... Nicht zu vergessen Spiegel, Kupfer, Vorhangschnüre ... und Fenster. Damit alle sehen, dass alles nur auf ihr lastet. Den Spengler anrufen, damit er sofort kommt, sonst würde niemand wissen, wieviel es zu tun gab, sonst wäre man zu einem schmerzhaften Tod verurteilt."

Das Kino lebt von der Verletzung von Konventionen, von dem, was üblicherweise nicht geschieht. In Luis Buñuels Film "Er" (1953) deutet ein Ehemann, er ist mit seiner jungen Frau auf Hochzeitsreise, in seiner Eifersucht, die ihn in den Wahnsinn treibt, die Geräusche, die er aus dem Nebenzimmer hört, falsch. Es kommt zu einem Eklat. In der Regel sind Hotelzimmer, deren Benutzer sich nicht kennen, streng voneinander geschieden. Nur in Ausnahmesituationen werden die Räume durchlässig. Heutige Hotelanlagen sind grundlegend entmischt, dies sowohl räumlich wie auch die Interaktionen aller Beteiligten betreffend, was sich entscheidend auch einer bestimmten Raumstruktur verdankt. Ein großer Hotelbetrieb ist ohne Hinterbühne nicht denkbar. Er bedarf zahlloser Funktionsräume, angefangen von Lager- und Heizräumen, bis hin zu Räumen, die für die Lagerung und Zubereitung des Essens dienen, oder Räumen, die der Verwaltung oder der Observation jener Bereiche dienen, die wie Gänge von allen Hotelgästen frequentiert werden. Kaum ein Hotelgast kann sich die sehr funktionalen Räume in Kellern vorstellen, von denen aus etwa Bars oder Gasträume mit unterschiedlichsten Getränken versorgt werden. Beeindruckende Leitungssysteme. Aluminiumfasser. Großgebinde, die sachlicher nicht sein könnten. Wir hatten als Stammgäste eines Hotels das Glück, die Weihnachtsfeiertage in einem Hotel zu verbringen, welches geschlossen hatte. Selbst wenn man sich das Essen nicht selbst zubereitet, die Hotelküche meidet, so muss man doch bis zu einem gewissen Grad den Hausmeister spielen, wodurch man auch in Räume gelangt, die einem sonst vollkommen verschlossen bleiben. Das Funktionieren moderner Hotelanlagen verdankt sich entscheidend der Entmischung. Sie erst schafft ein reibungsloses Funktionieren, das "Zusammenleben" von Gästen mit sehr unterschiedlichem kulturellem Hintergrund. Die Entmischung dient der Beschleunigung, der Minimierung aller denkbaren Reibungen. Richard Sennett hat darauf aufmerksam gemacht, dass die freie Bewegung die sinnliche Wahrnehmung vermindert, "die Erregung durch Orte oder die Menschen an jenen Orten. Jede starke körperliche Bindung an die Umgebung droht, das Individuum dort festzuhalten." Dem Gast werden Wahlmöglich-keiten versprochen, tatsächlich wird er zu einem Objekt der Bearbeitung. Ein Hotel organisiert die Wahrnehmung, schafft präformierte Blicke. Dies gilt für die Gäste gleichermaßen wie für jene, die hier beschäftigt sind. Bezeichnender Weise kann Norman Bates nicht sehen, was die Frau auf der anderen Seite beschäftigt, er kann ihre Geschichte nicht begreifen, er sieht das Geld nicht, welches es ihm ermöglichen würde, wegzugehen und ein neues Leben zu beginnen. Er bleibt in seiner eigenen Geschichte, in seinem präformierten Blick gefangen.

Heute entwickeln sich Hotels zu herdenmanagementmäßig bewirtschafteten Raumstrukturen mit Abläufen, die möglichst ohne Personal funktionieren sollen. Wie der heutige Mensch angehalten ist, seine Möbel selbst zusammenzubauen oder Aufgaben zu übernehmen, die früher einmal im Preis inbegriffen waren, so soll er sich im Hotel selbst einchecken, das Zimmer selbst finden. Immerhin gibt es für die hinterlassene Unordnung noch Personal. Hotels haben sich von Aufenthalts- zu Transitorten, zu Nicht-Orten gewandelt. Marc Augé hat darauf hingewiesen, dass solche Orte durch Piktogramme oder Texte definiert werden, wobei Informationen, Verbote oder Vorschriften an Zeichen des Straßenverkehrs oder Symbole von Reiseführern erinnern. In den Bedingungen "für den Verkehr in Räumen" ist der Gast angehalten, mit Texten zu interagieren. Im Idealfall ist die Architektur bereits selbst Gebrauchsanweisung. Houellebecq schreibt, die Logik, die solcher Architektur zugrunde liege, laufe darauf hinaus, "die Herstellung solcher Beziehungen zu erleichtern, die sich zügig erneuern lassen [...], folglich eine konsumorientierte Durchlässigkeit zu fördern, die auf einer Ethik der Verantwortung, der Transparenz und der freien Wahl gründet."

"Im Schnitt sind die Zimmer alle gleich", so der Rezeptionist im Jack Tarr Hotel. Ihre Uniformität reduziert nicht nur die Kosten ihrer Errichtung und Einrichtung, sie erleichtert auch die Bewirtschaftung, das serielle Abarbeiten von Räumen und Menschen durch das Personal. Bewegungen lassen sich nur dann automatisieren, unterscheiden sich die Objekte der Bearbeitung nicht. Es ist die Gestik des Fließbandes, mögen sich in Hotels statt Werkstücken Menschen bewegen. Es gibt Hotels, in denen in jedem Zimmer dieselben Bilder hängen, indifferente, stimmungsvolle Landschaftsaufnahmen, zugeschnitten auf ein heterogenes Publikum. Gut denkbar, dass sich Kongressbesucher, die wiederkehren, heimisch fühlen, obwohl sie in einem anderen Zimmer, in einem anderen Stockwerk untergebracht sind, obwohl ihr Blick statt in den Innenhof eines benachbarten Klosters auf die rückseitig gelegene Bergkette fällt. An Nicht-Orten wird der einzelne, er ist vor allem Passagier, von seinen gewöhnlichen sozialen Fixierungen befreit.

Früher einmal waren Hotels Aufenthaltsorte. Dies gilt insbesondere für Grand Hotels des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Man hielt sich nicht nur länger auf, sondern fuhr hin, um unter sich zu sein, zumindest unter Menschen der eigenen Gesellschaftsschicht. Während der heutige Hotelbesucher anonym sein will, den Kontakt mit anderen Hotelgästen geradezu scheut, wollte man gesehen werden, Menschen treffen, mit denen man auch im urbanen Leben zu tun hatte. Manche Grand Hotels ließen täglich eine Zeitung drucken, um die Gäste mit Klatsch zu unterhalten. Die Hotelgäste wurden nicht nur über die Speisekarte, gesellschaftliche Anlässe wie Konzerte, sondern auch über die Ankunft oder Abreise von anderen Gästen unterrichtet. Dass diese Art von Geselligkeit oder Indiskretion von manchen bereits damals als unangenehm empfunden wurde, lässt sich zahllosen literarischen Texten entnehmen, so etwa Octave Mirbeaus Roman "Nie wieder Höhenluft" aus dem Jahr 1901, in dem der Ich-Erzähler unangenehmen Figuren seines urbanen Umfelds oder seiner Vergangenheit begegnet.

Was Diskretion, Anonymität oder Geschwindigkeit betrifft, all das wurde im Stundenhotel vorweggenommen, welches alle Akteure zu Zeichenleser gemacht hat. Jean-Luc Godard hat dies in seinem Film "Die Geschichte der Nana S." (1962) durchgespielt. Das Zimmer eines Stundenhotels, eigentlich müsste man Minutenhotel sagen, beschränkt alle denkbaren Handlungen auf einige wenige. Nana S. wird von ihrem Zuhälter, während einer Autofahrt durch Paris in die Marktgesetze der Prostitution eingeführt. Grundlage dieser Einführung ist die von Godard verwendete Dokumentation "Ou en est la prostitution?" von Marcel Sacotte. Sie: "Bekomme ich ein eigenes Zimmer?" Er: "Die meiste Zeit werden zwischen zwei Vermietungen nicht einmal die Bettücher gewechselt, sondern nur die Handtücher. In manchen Hotels haben die Betten keine Decken, sondern nur ein Bettuch ..." Dieser Dialog, vielleicht die kürzeste und prägnanteste Theorie der Prostitution, ist in eine Reihe von kurzen Bildsequenzen montiert, die sich fast ausschließlich auf das beziehen, was im Hotelzimmer geschieht: Nana S. betritt mit einem Kunden das Zimmer. Schnitt. Die Tür wird geschlossen. Der Kunde legt Schal und Mantel ab. Schnitt. Blick auf die Nachttischlampe. Schnitt. Er kämmt sich. Schnitt. Der Kunde zieht sich sein Hemd über den Kopf. Schnitt. Sie steigt mit einem Kunden aus dem Lift aus. Schnitt. Eine Bettdecke wird zurückgeschlagen. Schnitt. Die Füße von Nana S. Sie ist eben in ihre Schuhe geschlüpft. Schließt zuerst den schmalen Riemen des linken, dann des rechten Schuhs. Schnitt. Sie kämmt sich. Schnitt. Sie betritt mit einem Kunden den Lift. Schnitt. Die Tür des Hotelzimmers wird von innen verschlossen. Schnitt. Ein Kunde umarmt sie. Sie lässt es sich gefallen. Sie raucht und blickt teilnahmslos in die Kamera. Schnitt. Die Hand eines Kunden reicht das Geld, nach dem sie greift. Schnitt. Ein Zimmermädchen bringt frische Handtücher. Und so weiter.

Sechs Jahre später. François Truffaut, "Geraubte Küsse" (1968). Antoine Doinel betritt mit einer jungen Prostituierten ein Stundenhotel, läuft an der Concierge, auf seine Uhr blickend, vorbei, die Stiege hoch. Die Prostituierte: "Mensch, hast du's aber eilig. Zahl erst mal das Zimmer." Antoine steigt die enge Stiege wieder herunter. Concierge: "Macht acht Franc." Zur Prostituierten: "Stell dir vor, Jeanette hat sich schnappen lassen." "Schon wieder. Das dritte mal in dieser Woche. Wir müssen ihr was auf's Polizeirevier zu Essen bringen." "Das fehlte noch. Mit mir braucht sie nicht zu rechnen." Die beiden steigen die Stiege hoch. Die Concierge aus dem Off: "Ich kann hier nicht weg. Ich bin hier festgenagelt." Die beiden betreten ein schäbiges Zimmer. Kaum hat sie die Tür geschlossen, küsst Antoine sie auf den Mund. Sie entwindet sich ihm: "Nein, nein. Nicht auf den Mund." "Warum denn nicht?" "Von Kunden lasse ich mich nicht küssen." Antoine streicht über ihre Haare. "Lass meine Haare in Ruhe. Ich hab gerade Spray drauf getan." Antoine umfasst sie von hinten, streicht über ihre Brüste, schiebt in einer raschen Bewegung ihren Pulli hoch. "Nein, ich behalt den Pulli an, ich hab gerade Bronchitis gehabt." Sie geht zum Waschbecken und dreht das Wasser auf: "Komm her, ich wasch dich." Antoine dreht sich um, verlässt das Zimmer. Sie: "Wo gehst du hin?" Antoine: "Schon gut, schon gut."

Konflikte brechen zumeist dann auf, kommt es zu längeren Zwangsaufenthalten, sei es durch Mur- oder Lawinenabgänge, ist ein Hotel einfach nur eingeschneit und eine Abreise unmöglich. In Ingmar Bergmans Film "Das Schweigen" (1963) kommt es während eines Zwangsaufenthalts in einem Hotel, bedingt durch Kriegsvorbereitungen wie den Zusammenbruch von Ester, zu heftigen Auseinandersetzungen der beiden Schwestern. Mehr oder weniger alle Beschreibungen dieses Films betonen den Hintergrund, das fremde Land, die unverständliche Sprache. Tatsächlich jedoch wird diese Fremdheit erst im Hotelzimmer als solche erlebt. Der Panzer, der vor dem Fenster des Hotelzimmer stehen bleibt, scheint pittoresk bemalt, aber er ist es nur, weil wir ihn aus dem Hotelzimmer betrachten. Bergman, ein Meister im Umgang mit dem Ton - an manchen Stellen wird der Ton ausgeblendet, während an anderen sich die Geräusche in fast penetranter Weise in unser Bewusstsein schieben, knüpft an Erfahrungen an, die wir alle aus Hotelzimmern kennen. Dort hören wir Geräusche, die wir sonst nie hören würden. Türen, die geöffnet und geschlossen werden, die Fernsehapparate anderer Zimmer, Stimmen, Wasserleitungen und Toiletten, den Lärm der Straße. Auch in Godards Film "Rette sich wer kann - Das Leben" (1979) findet sich ein Blick aus dem Hotelfenster auf einen vorbeifahrenden Zug. Auch er ist mit Panzern beladen. Auch bei Godard eine Sprachverwirrung, eine Verwirrung von Ton und Bild. Geräusche wie Gesprochenes passen nur selten mit den Bildern zusammen, die Akteure sprechen zwar miteinander, sprechen aber meist aneinander vorbei. "Ja" kann "nein" bedeuten, die Gedanken können ganz wo anders sein. Anwesend und abwesend zugleich.

Das Familiendrama in Stanley Kubricks Film "Shining" (1980) kann sich nur zutragen, weil das Overlook-Hotel, ein labyrinthartiger Gebäudekomplex in den Bergen von Colorado, über den Winter geschlossen hat und der als Hausmeister angestellte Schriftsteller Jack Torrance mit seiner Familie allein im Hotel zurückbleibt, eingeschneit und von der Außenwelt abgeschlossen. Auffallenderweise wird das Hotel zu einem Ort, der mit Geschichte geradezu überfrachtet ist. Ein früherer Hausmeister hat vor einigen Jahren während des Winters seine Frau, seine zwei kleinen Töchter und sich selbst getötet. Diese Vergangenheit hat ihren Ort im verbotenen Zimmer Nummer 237. Die Mädchen, obwohl ermordet, treten auf. Nicht zufällig ist auch eine Badewanne von Bedeutung. Jack entdeckt in der Badewanne eine junge, hübsche und nackte Frau. Als sich die beiden küssen, fällt sein Blick in den Spiegel des Badezimmers. Er hält die verwesende Leiche einer alten Frau in den Armen. Stephen King reagierte auf die Verfilmung seines Romans enttäuscht. Statt das Hotel zur eigentlichen Hauptperson zu machen, habe Kubrick eine häusliche Tragödie gedreht.

Ein schönes Bild, sich ein Hotel, und zwar in Abwesenheit all jener, die zu seinem Funktionieren nötig sind, als Lebewesen vorzustellen, als gefräßiges Monstrum. Mit einem mitteilsamen Organismus, der Leintücher, Waschbecken, das in Laden liegende Essbesteck beredt macht, zum Sprechen, zum Klirren bringt. Es verdankt sich Zufällen, dass wir mehrfach in zwei Hotels übernachtet haben, in denen sich nicht nur Sigmund Freud aufgehalten hat. In beiden Hotels hat sich die Einrichtung in den letzten hundert Jahren nicht wesentlich geändert. Da wie dort wird noch das schwere silberne Besteck aufgedeckt. In einem der beiden Hotels ging während einer Nacht, die wir dort verbrachten, ein heftiges Gewitter nieder. Herabfallende Äste, umstürzende Bäume hinterließen einen Ort der Verwüstung. Nur unser Auto war nicht zerstört. Mit Freud hatte das freilich nicht das Geringste zu tun. Wo käme man hin, würde man sich darüber Gedanken machen, welches Glas von welchen Menschen bereits benutzt wurde. Es scheint mir eine große kulturgeschichtliche Errungenschaft, dass wir dies gefahrlos tun können.

Die Geschichte eines Hotels verdankt sich einzig den Menschen, von denen es frequentiert wurde. An eine Hotelgeschichte kann ich mich sehr gut erinnern, und zwar auf den Tag genau. Es war der 31. Oktober 1993. Das Datum ist mir in Erinnerung geblieben, da an jenem Tag Federico Fellini starb. Ich hatte mich mit einer Freundin in einem Hotel am Gardasee einquartiert. Saisonende, der letzte Tag, an dem das Hotel noch geöffnet hatte. Im italienischen Fernsehen liefen Filme von Fellini. Wir hatten zuvor in einem Lokal, die rotgepolsterten Sitzgarnituren sehe ich heute noch vor mir, sehr viel getrunken. Die Rezeption war voller Priapsfiguren, manche in eregiertem, andere in erschlaffendem oder völlig schlaffem Zustand. Alles war so komisch, als bewegten wir uns selbst in einem Film von Fellini.

Bernhard KATHAN, 2014


[ zur Startseite ]