Herrgottswinkel
Ein Projekt von Bernhard Kathan


"Jeder Winkel in einem Haus, jede Ecke in einem Zimmer, jeder eingezogene Raum, wo man sich gern verkriecht, sich in sich selbst zusammenzieht, ist für die Einbildungskraft eine Einsamkeit, der Keim eines Zimmers, der Keim eines Hauses. [...] Sich in einen Winkel zurückziehen, ist gewiß ein ärmlicher Ausdruck. Aber wenn er auch ärmlich ist, so hat er doch zahlreiche Bilder, und Bilder von großem Alter, vielleicht sogar im psychologischen Sinne primitive Bilder. Je schlichter das Bild ist, desto größer sind manchmal die Träume. Aber zunächst ist der Winkel eine Zuflucht, die uns einen ursprünglichen Daseinswert sichert: die Unbeweglichkeit. Er ist das sichere Lokal, das nächstliegende Lokal meiner Unbeweglichkeit. Der Winkel ist eine Art Kastenhälfte, halb Wand, halb Tür. Es gibt eine Illustration für die Dialektik des Drinnen und des Draußen."
Gaston Bachelard, Poetik des Raumes



Foto: Bernhard Kathan Foto: Bernhard Kathan


Noch vor wenigen Jahrzehnten kannte nahezu jedes Haus in den Dörfern einen Herrgottswinkel. Dass solche Hausschreine oder Hausaltäre in einen Winkel gefügt wurden, dafür sind einmal praktische Gründe zu nennen. Die Räume waren eng. Im Winkel, und zwar unter der Zimmerdecke untergebracht, drohte niemand daran zu stoßen. Entscheidender aber, neben Türen und Fenstern wiesen einzig die Winkel über die architektonische Begrenztheit des Raumes hinaus. Winkel kennen eine doppelte Sogkraft. Zum einen in die Ferne, dann saugen sie das auf, was sich vor ihnen ausbreitet. Der Winkel als letzter Fluchtpunkt, um sich vor Schlägen zu schützen, die Hoffnung, sich in einem Winkel zu verbergen, sich unsichtbar zu machen. Und dann wird das Kind zur Strafe in einen Winkel gestellt, mit dem Gesicht zur Wand, auf Zeit aus der Gemeinschaft verbannt. So tritt der Winkel an die Stelle von Keller und Verließ. Beginnt das Kind die Mauer zu lesen, die Spuren, die kleine Fingernägel in der Wand hinterlassen haben, wirkt der Winkel wie ein Vergrößerungsglas. Der Winkel als höchst ambivalenter Ort, eben halb Wand, halb Tür. Nicht zufällig wird das alles sehende Gottesauge im Zentrum eines Dreiecks, im Fokus dreier Winkel dargestellt. Mag das Dreieck auch die Dreifaltigkeit bezeichnen, so ist doch entscheidender, dass allumfassende Kontrolle und Fluchtpunkt in eins fallen. Im Herrgottswinkel kehrt sich das alles sehende und strafende göttliche Auge um. Dieses Auge, die Augen Jesu, die der Maria oder anderer Heiliger sollten alles sehen, die Armut, den schlecht gedeckten Tisch, die hungernden Kinder. Unfall-, Feuer-, Hagel-, Unwetter-, Kranken-, Pensions-, Betriebsausfalls- oder Haftpflichtversicherungen haben sich als wirksamer als Gebete, Prozessionen oder Herrgottswinkel erwiesen. Man vergesse nicht: Feuerlöscher, Rauch- und Bewegungsmelder, sichere Türschlösser, Überwachungs- und Alarmanlagen. Man muss sich mit Leerstellen beschäftigen: in Bauern- und Einfamilienhäusern, Tierzuchtbetrieben, Fabriksanlagen, Kranken- und Kaufhäusern, in Finanzämtern oder Abteilungen der Fremdenpolizei. Um signifikante Leerstellen zu sehen, muss man sich auf den Kopf stellen, auf den Boden legen, unter die Schreibtische von Bankangestellten, Standesbeamten oder anderen Bürokraten blicken, in Winkel, die dem Betrachter sonst verborgen bleiben. Man muss Listen von Briefen erstellen, die unbeantwortet bleiben. Auch der Herrgottswinkel kannte (sieht man von behaupteten Ausnahmen ab) keine Antwort. Aber gerade das hat der Herrgottswinkel nie versprochen. Und wer immer sich heute beklagt (man kann sich über alles beklagen, über Waschmaschinen und Autos, die das nicht halten, was sie versprochen haben, nur nicht über das Leben), landet unzweifelhaft in einem Callcenter, spricht mit Menschen, die seine Klagen weder interessieren, noch verstehen.


Zeichnung: Bernhard Kathan Zeichnung: Bernhard Kathan Zeichnung: Bernhard Kathan Zeichnung: Bernhard Kathan


[ Gertrude Moser-Wagner ]
stellt anlässlich ihres Indonesienaufenthalts dem Herrgottswinkel Schreine und Tore entgegen, leere Sessel, auf denen die Götter unsichtbar Platz nehmen.

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