JEREMIA IN DER ZISTERNE: WAHRE UND FALSCHE PROPHETEN




"Gott Zebaoth hat keine Hand, die er von seinem Orte ausstreckt. Er hat eine Stimme, diese Stimme ist sein Ruach, sein Hauch, den er in den Raum um und in Jirmijah stößt wie eine Trompete. Der Hauch Zebaoths erregt den Schall. Das Erz der Trompete aber wirkt mit, ihn hervorzubringen. Ohne diesen Trichter hätte der Hauch keinen Schall. Die Stimme des Herrn braucht den Innenraum des Menschen. Hauch ist Geist. Hand ist nicht Geist. Und doch, wenn Adonai auch keine Hand besitzt, so berührt er Jirmijah dennoch mit der Hand, er berührt ihn mit wirklicher Berührung. Und diese Berührung ist ein kurzer Schlag auf den Mund. Er durchblitzt den Menschensohn mit dem Schmerz aller Schmerzen, mit der Wollust aller Wollust zugleich. Gäbe es ein Feuer, im tausendsten Teil eines Augenblicks ein Wesen von Fleisch und Blut zu Asche zu brennen: dieser Schmerz wäre der Schmerz der Berührung. Auf dieser geschaffenen Erde gibt es jeden Vergleich für Schmerz. Für die Wollust jener Berührung aber fehlt der Vergleich. Und noch eine dritte Macht liegt in dem Schlag auf den Mund: ein scharfes, eisklares Wissen, nun und allzeit ein anderer zu sein, erneuert und umgeboren durch Tötung und Wiederbelebung. Laut schreit Jirmijah auf, ehe er zusammenstürzt."
Franz Werfel, "Höret die Stimme"

Wer im belagerten Jerusalem bleibe, komme um durch das Schwert, durch Hunger oder die Pest. Wer sich dagegen den Babyloniern ausliefere, solle am Leben bleiben und in Sicherheit sein. Jerusalem werde mit Sicherheit vom babylonischen König erobert. Mit solchen Prophezeiungen lud der Prophet Jeremia verständlicherweise Zorn auf sich, zumal er Zedekia, also dem König selbst, weissagt "Du wirst der Gewalt des babylonischen Königs ausgeliefert werden." Deshalb wue Jeremia in eine Zisterne des Wachthofes geworfen: "Es war kein Wasser in der Zisterne, sondern Schlamm, in den Jeremia einsank." Jeremia sollte getötet werden, ohne dass sich seine Mörder selbst mit Blut besudelten. War er schon von Beginn an ein Ausgesonderter, hatte Gott ihn doch bereits gekannt, bevor er ihn im Leib seiner Mutter geformt, dazu bestimmt hatte, den Völkern seine Botschaften zu überbringen, so sollte er nun auf andere Weise, und zwar durch Menschen, ausgesondert werden.

Ein Eunuch des Palastes, ein Kuschit, ein "Hämling", zog Jeremia, nachdem es ihm von König Zedekia erlaubt worden war, wieder aus der Zisterne, und zwar auf sehr achtsame Weise, dachte er doch daran, dass die Stricke sich ins Fleisch schneiden könnten: "Ebed-Melech ging mit den Männern in den königlichen Palast, in den Raum unter dem Vorratshaus, um von dort einige Stofflumpen aus alten, zerrissenen Kleidern zu holen. Diese ließ er an Seilen zu Jeremia in die Zisterne hinab. `Leg dir die Kleiderfetzen um die Stricke und unter die Achseln´, sagte er. Als Jeremia bereit war, zogen sie ihn an den Stricken aus der Zisterne herauf."

All das klingt bereits in der Geschichte von Josef und seinen Brüdern an. Auch er war ein Auserwählter. Er wurde zwar nicht von Gott, aber doch von seinem Vater Jakob, dem er all das berichtete, was seine Brüder Böses taten, besonders geliebt. Um seiner Zuneigung Ausdruck zu verleihen, ließ Jakob für ihn eigens einen Ärmelrock anfertigen. Hatte das bereits den Zorn seiner Brüder geweckt, so kam dieser vollends zum Überlaufen, als Josef ihnen zwei seiner Träume erzählte: "Wir banden Garben mitten auf dem Feld. Meine Garbe richtete sich auf und blieb auch stehen. Eure Garben umringten sie und neigten sich tief vor meiner Garbe. [...] Die Sonne, der Mond und elf Sterne verneigten sich tief vor mir." Und so fassten seine Brüder den Plan, ihn, den Träumer, zu töten: "Jetzt aber auf, erschlagen wir ihn und werfen wir ihn in eine der Zisternen. Sagen wir, ein wildes Tier habe ihn gefressen. Dann werden wir ja sehen, was aus seinen Träumen wird." Aber da sie kein Blut vergießen, sich nicht schuldig machen wollten, packten sie ihn nur und warfen ihn in eine ausgetrocknete Zisterne. Will man der Geschichte glauben, so wurde Josef dann um zwanzig Silberstücke an Händler verkauft, die auf dem Weg nach Ägypten waren. Zwar kam der Verkauf einer Tötung gleich, da aber keine wirkliche Tötung stattgefunden hatte, bedurfte es eines stellvertretenden Opfers: "Da nahmen sie Josefs Gewand, schlachteten einen Ziegenbock und tauchten das Gewand in das Blut. Dann schickten sie den Ärmelrock zu ihrem Vater und ließen ihm sagen: Das haben wir gefunden. Sieh doch, ob das der Rock deines Sohnes ist oder nicht. Als er ihn angesehen hatte, sagte er: Der Rock meines Sohnes! Ein wildes Tier hat ihn gefressen. Zerrissen, zerrissen ist Josef. Jakob zerriss seine Kleider, legte Trauerkleider an und trauerte um seinen Sohn viele Tage."

Das Motiv ist in Ländern, in denen Zisternen von Bedeutung waren, weit verbreitet. Nicht immer wird der Held gewaltsam in die Zisterne gestoßen. Er kann sich auch aus eigenem Antrieb in die Tiefe einer Zisterne begeben, wird dann aber von seinen Gefährten, oft seinen eigenen Brüdern, dort sich selbst überlassen. Zumeist haben wir es mit dem Opfer einer Täuschung zu tun, auch mit der Täuschung Dritter. Ein König hat drei Söhne. Diese haben eine schwierige Aufgabe zu erfüllen, derjenige, der sie schafft, soll den Thron erben: "Alle drei machten sich auf den Weg und nahmen die blutige Spur des Ungeheuers auf. Sie kamen an eine Zisterne, und dort hörten sie, wie das Ungeheuer drinnen brüllte. Da sagte der jüngste zu seinen Brüdern: `Ich will mich mit einem Strick binden, und ihr sollt mich hinablassen, und wenn ich an dem Strick ziehe, holt mich herauf!' - `Gut', sagten sie. Dann banden sie ihn mit einem Strick und ließen ihn hinunter. Er kam hinab und sah das Ungeheuer ausgestreckt daliegen und brüllen und schoss es mit seinem Bogen tot. Dann schaute er sich um und sah ein Mädchen wie frisches Wasser neben dem Ungeheuer. `Erbarmen', sagte sie, `Gott gab mich in deine Hände, rette mich!' - 'Fürchte dich nicht', entgegnete er. Er band sie an den Strick, und die Brüder zogen sie empor. Als jene sie sahen und erfuhren, dass das Ungeheuer tot war, sagten sie: `Wir wollen ihn in der Zisterne lassen und erzählen, dass wir das Ungeheuer getötet haben.' Sie ließen ihn also drin und gingen danach zum Vater. `Wir haben das Ungeheuer getötet', sagten sie zu ihm. `Und sieh! wir bringen dir auch ein Mädchen.' - `Wo ist euer jüngster Bruder?' entgegnete jener. `Das wissen wir nicht', sagten sie." Die beiden älteren Brüder nehmen also die Stelle dessen ein, den sie in der Zisterne seinem Schicksal überlassen, behaupten, sie, nicht ihr Bruder, habe die schwierige Aufgabe gelöst.

Während im griechischen Märchen "Der Apfelbaum des Königs" eine der Aufgaben in der Zisterne selbst zu lösen ist, geht es zumeist nur darum, den Durst zu stillen: "`Wollen wir etwas Wasser trinken?' sagte der älteste. `Wie sollen wir trinken?' erwiderte der mittlere. `Mit dem Strick. Lasst uns einer nach dem anderen hinabsteigen und trinken.' - `Ein guter Einfall', sagte der mittlere. Sie fingen also an und banden zuerst den ältesten, ließen ihn in den Brunnen hinab, und als er getrunken hatte, zogen sie ihn wieder hinauf und ließen den mittleren hinab. Als die Reihe an den jüngsten kam, ließen sie ihn hinab, zogen ihn aber nicht wieder herauf." Sie decken eine Steinplatte über den Brunnen und machen sich davon. Der Brunnen kann auch mit dürren Zweigen, Dornengestrüpp abgedeckt werden. Nicht zufällig fügt sich das Wasser bzw. der Brunnen zum Rollentausch, haben wir es doch mit einer Spiegelung zu tun. Manchmal wird der Held wieder aus der Zisterne gezogen, verspricht er nur, Kleider und Rolle zu tauschen. Machte er es nicht, er käme um. Ein Prinz kann dann die Rolle eines Hirten, der Hirte die Rolle des Prinzen einnehmen. Auffallenderweise ist es in solchen Erzählungen stets ein junger Mann, der in einer Zisterne seinem Schicksal überlassen bleiben soll. Haben wir es in einem verwandten Motiv mit Mädchen zu tun, dann tritt ein Brunnen an die Stelle der Zisterne. Das Mädchen klettert, um sich zu verbergen, auf einen Baum. Sein Gesicht spiegelt sich im Wasser eines Brunnens, der sich darunter befindet. Auch hier kommt es wie etwa in Giambattista Basiles Märchen "Die drei Zitronen" in der Regel zu einem Kleider- und Rollentausch, hat doch das Mädchen, meist eine Prinzessin, eine Magd zu spielen, während sich die hässliche Magd als Prinzessin ausgibt. Die sexuelle Metaphorik soll uns hier nicht weiter interessieren. Wie auch immer, am Ende solcher Erzählungen werden die Betrüger entlarvt, manchmal getötet, manchmal nur beschämt.

Im Buch Jeremia geht es weder um einen Rollentausch noch um eine Täuschung. Jeremia soll einfach zum Schweigen, zum Verschwinden gebracht werden. Und doch gibt es einen gemeinsamen Nenner. Zisternen wurden nicht nur mit Leben, sondern auch mit dem Tod assoziiert. Sie galten als Eingang in die Unterwelt. Nicht zufällig spricht der um Josef trauernde Jakob davon, zu seinem Sohn in die Unterwelt hinabzusteigen, mochte er um die Zisterne auch nicht wissen. Wer der Zisterne wieder entsteigt, ist zu einem Überlebenden geworden. Nur jemand, der dem Tod ins Angesicht geblickt hat, kann Prophet werden.

Heute hat das Motiv seine Bedeutung verloren. Wir kennen keine Zisternen mehr. Wasser kommt aus der Wasserleitung. An die Stelle von Zisternen oder Brunnen sind Duschen, Badewannen oder Pools getreten, was bereits ein flüchtiger Blick in die Literatur- und Kinogeschichte deutlich macht. Franz Werfel hat das Zisternen-Motiv in seinem Jeremia-Roman "Höret die Stimme" (1937) üppig ausgestaltet. Der Roman spielt in der Zeit zwischen der Auffindung des Gesetzbuches im Tempel (622 v.Chr.) und der Zerstörung des Tempels (586 v.Chr.). Dabei nimmt es Werfel trotz aller wörtlichen Zitate mit den überlieferten Texten nicht allzu genau. Als Quellen dienten ihm das Buch Jeremia, das zweite Buch der Chronik, das zweite Buch der Könige, die Klagelieder, die Bücher Baruch und Ezechiel, das ägyptische Totenbuch, Fachbücher zu altbabylonischen Kulten, Bibel- und Talmudkommentare. Manches verdankt sich seinen beiden Orientreisen. Werfel schmückt aus, erfindet Figuren, die sich so in der Überlieferung nicht finden. Jeremia wird bei ihm, sieht man von seinem Insistieren auf die Tradition ab, zu einem Kosmopoliten, der auch unmittelbar in das politische Geschehen involviert ist. Auch stattet Werfel ihn mit Zügen aus, die wir mit Christus, dem Erlöser, verbinden.

Im Buch Jeremia ist von einer Zisterne die Rede, in der sich kein Wasser mehr befunden habe, nur noch Schlamm. Das ist gut nachvollziehbar, wurde doch Jerusalem bereits das dritte Jahr von den Babyloniern unter Nebukadnezar belagert. Da viele aus dem Umland in der befestigten Stadt Schutz gesucht hatten, waren nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch Wasser knapp geworden. Bei Werfel wird die Zisterne zur Kotgrube: " `Die Zisterne des Königssohnes', eine uralte Bezeichnung unbekannten Ursprungs, war alles eher als eine Zisterne, die in gemauerter Reinheit den Regen des Himmels empfängt und bewahrt. Mit diesem Namen nämlich wurde eine große Senkgrube genannt, die an den östlichen Burgmauern an einer leicht geneigten Stelle lag. Zwölf Schuh war sie tief, acht lang und acht breit. Hier rannen alle Abwässer zusammen, aller Unrat, aller Fortwurf der Umgebung wurde hier abgelagert."

Während in der Überlieferung berichtet wird, Jeremia sei mit Seilen in die Zisterne hinabgelassen worden, haben wir es bei Werfel mit einem Brunnensturz zu tun. Jeremia sei in die Zisterne geworfen worden. Beibehalten wird das Motiv des Mordes ohne wirklichen Tötungsakt - denn das "vergossene Blut des Propheten" soll nicht über seine Mörder kommen -, allerdings dadurch gesteigert, dass ein Tod in einer Kotgrube ein viel schmachvollerer Tod sei: "Soll dieser Mensch dort etwa einen Schwert- und Lanzentod sterben, wie ihn auch einige unter uns an diesem Tage noch erleiden werden? Unerträgliche Ehre wäre das und keine Schmach. Darum stellet doch ein euer Zielen und Werfen! Einen gerechteren Tod weiß ich für diesen abscheulichen Leib, in dessen Schleim und Rotz und Kot und Kutteln das Wort Gottes wohnen soll. Spruch Zebaoths, he, Spruch Zebaoths! Das Wort Gottes, der Spruch Zebaoths scheint Senkgruben den edlen Wohnungen vorzuziehen. Nun, da es der Jauche sich neigt und nicht dem Wohlgeruch, wollen wir dieses Wort Gottes an den rechten Ort bringen, wo es langsam verschmachten wird, ohne der Stadt ihr mageres Brot wegzuessen ..." Wäre Jeremia einfach erschlagen worden, gut denkbar, dass man seine Leiche ebenso in eine Zisterne geworfen hätte, nicht viel anders, als es die Mörder von Gidalja im Buch Jeremia mit den abgeschlachteten Pilgern aus Sichem, Silo und Samaria machten. Immerhin stand Jerusalem kurz vor dem Fall. Welchen Sinn hätte es gemacht, eine ohnehin längst ausgetrocknete Zisterne vor Unreinheit zu bewahren?

Werfel schmückt Jeremias Erfahrung in der Zisterne blumig aus, was hier nur beispielhaft angedeutet sein soll: "Der kühle Schlamm ging Jirmijah bis zu den Knien. Er stand aufrecht, ohne sich zu regen. Die geringste Bewegung (wenn er an seinem verunreinigten Leib hinabsah) steigerte den Ekel so sehr, daß er zu vergehen meinte. Trübe Dämmerung und scharfer Gestank hüllten ihn ein. Vielleicht lag hier unten im Kot auch verwesendes Tieraas, das die Luft verpestete. Dann und wann glucksten Ratten aus der feuchten Schicht hervor und schossen an ihm vorbei in irgendein Erdloch. Noch war es Tag. Wie aber sollte er in diesem Pfuhl, in diesem Grabe, in diesem Scheol der Jauche die Nacht überstehen, ja die Nacht überstehen, die kommende?"

Es hat mich einiges an Mühe gekostet, Werfels Roman zu Ende zu lesen, der an manchen Stellen an Kitsch kaum zu überbieten ist. Man denke an die Beschreibung jener Szene, in der sich Hamutal, Frau des Königs Joschija, auf ihren verwundeten und im Sterben liegenden, Gott frevelnden Gatten stürzt: "Ein Blutsturz brach aus seinem Munde und überschwemmte den Estrich von Sandelholz. Hamutal war auf den Lästerschrei hereingestürzt. Starr ausgestreckt, mit halb geschlossenen Augen, ohne Odem, lag der Geliebte vor ihr. Da riß sie ihr Gewand auf, entblößte die mütterlichen Brüste und warf sich mit ihrem warmen Leben auf den blutbesudelten Leib des Gatten, um ihn zurückzuholen vom Tode. Und siehe, es gelang ihr. Nach einer beklemmenden Frist ging der Anfang eines Lächeln über die Züge Josijahs, und zwei lange Seufzer entrangen sich seiner zerrissenen Brust." Der Roman liest sich, sieht man von klugen, meist knapp gehaltenen essayistischen Einschüben ab, höchst konstruiert und lässt an den Aufbau eines Filmes oder Theaterstücks denken, insbesondere durch die Szenen- und Kulissenwechsel. So funktioniert das menschliche Leben nicht. All das ist dem Publikum geschuldet.

Bezüglich seiner Beschreibung jener Erfahrungen, die Jeremia in der Zisterne gemacht haben soll, kann ich Werfel keinen Vorwurf machen, zumal er im Roman selbst erklärende Hinweise seiner Bebilderung liefert. Zum einen hat er unmittelbare Erfahrungen aus der Entstehungszeit des Romans verarbeitet, vor allem die ständig zunehmende Repression, der er wie alle Juden ausgesetzt war. Auch seine Bücher waren verbrannt worden. Er hatte allen Grund, sich in einer stinkenden Jauchengrube zu fühlen. Nicht zufällig lässt Werfel Jeremia in der Kotgrube die "bittersüßen Klagegesänge" anstimmen, die, was er sicher wusste, erst lange nach dem Propheten entstanden sind, sich also keinesfalls diesem verdanken: "Ich bin der Mann, der das Elend geschaut hat und seine Rute. Er hat mich geführt und lassen gehn in der Finsternis und nicht im Licht. / Gegen mich gewendet bleibt seine Hand, immer und immer wieder. / Er hat mir das Fleisch und die Haut zerfetzt und die Knochen im Leibe zerbrochen. / Verbaut von Mühsal, umringt von Haß, wie ein Toter steh ich im Finstern. / Eingezäunt, weh, ich kann nicht hinaus, schwer ist die Fessel, verlegt ist der Weg. / Mein lauernder Bär bist du, mein Löwe im Verhau. Zermalmt hast du mich, zum Entsetzen gemacht. / Du spannst deinen Bogen und stellst mich ans Ziel. Schon steckt mir dein Pfeil in der Niere. / Mußt ich nicht denken, meine Hoffnung ist hin und gestorben sei mein Vertrauen? / Ich aber will singen zu meinem Herzen: Die Liebe Gottes ist nicht dahin, und sein Erbarmen mit mir nicht zu Ende. / An jedem Morgen geht seine Treue auf, frisch und neu und voll Erwachens ..." Tatsächlich riet Jeremia den nach Babylon Verschleppten, sich in der Verbannung einzurichten, sich buchstäblich häuslich zu machen, also Häuser zu bauen oder Weinberge anzulegen, zu heiraten und Kinder zu zeugen, statt sich der trügerischen Hoffnung auf eine baldige Heimkehr hinzugeben.

Auch was Überlegungen zu Herrschaft anbelangt, brauchte Werfel nicht viel zu erfinden. Illustre Beispiele fanden sich in seinem Umfeld zuhauf: "Um ein ausgebeutetes Volk gut zu beherrschen, müssen die Gerechten verjagt und die frechsten der Ausbeuter an ihre Stelle gesetzt werden. Dies geschah ohne Scham. Aus Tempel, Hofburg und Heer wurden die letzten treuen Diener Josijahs entlassen. Für die Vogelsteller, die Fallenrichter, die brünstigen Hengste, die Fälscher, Verdreher, Schmeichler, Schmierer und schleichenden Diebe aber war der große Tag angebrochen. Die Reichen des Landes, besonders aber die Söhne der Reichen, konnten sich wieder frei brüsten, die Stolzen, die Habgierigen, die Zornigen, die Raufbolde sich ungehindert spreizen. Unter den Priestern aber gewannen diejenigen die Macht, denen nur das Opferwesen wichtig, die Gerechtigkeit Gottes aber verhaßt war." "Höret die Stimme" ist zwar als historischer Roman zu betrachten, tatsächlich bezieht er sich in höchstem Maß auf seine Entstehungszeit. Werfel sah die drohende Apokalypse, von einem modernen Nebukadnezar, also Hitler, entfesselt, folgenschwerer als die Zerstörung Jerusalems.

Nicht zufällig identifizierte sich Werfel mit dem Propheten Jeremia, betrachtete er es doch als Aufgabe der Poesie, den Menschen unerbittlich zur Realität zurückzuführen. In großer Dichtung sah er Gestaltung von Erkenntnis, die mit "erfahren, erfassen und empfinden" zu tun habe. Es gehe um "wesensganze Erkenntniskraft", also um das, woran es der an wissenschaftlich-technologischen Kriterien organisierten Welt zunehmend mangle. Letzteres kommt besonders deutlich in seiner Beschreibung der babylonischen Kultpraktiken zum Ausdruck, lässt er doch Priester anstelle von Klagen, Bitten oder Lobpreisungen nur noch Zahlen rezitieren. Werfel sah sich selbst als Mahner. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, beschreibt er Jeremia als Kurzsichtigen, wie auch er selbst einer war. Werfel hatte tatsächlich Mühe mit seinen Augen. Im Gegensatz zu Jeremia, der die sich anbahnenden Katastrophen klar sah, hoffte Werfel noch wenige Jahre zuvor, in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden. Sein Schreiben blieb unbeantwortet. Er wollte seine Bücher auch in Deutschland verkauft wissen. Werfel war mit Bundeskanzler Kurt Schuschnigg befreundet, den er zuweilen geradezu hymnisch pries. Er sah nicht, dass der austrofaschistische Ständestaat mit der Ausschaltung des Parlaments und der Repression aller kritischen Stimmen, vor allem jener der Sozialisten, dem Nationalsozialismus, den er zu bekämpfen vorgab, Tür und Tor geöffnet hatte.

Nachvollziehbar ist Werfels theologische Deutung: "Mit einem Schlage verstand Jirmijah das Grauen und den Ekel, die den Herrn erfüllen mußten, wenn er sein Wort herabsandte, daß es aus einem menschlich-leiblichen Gehäuse ertöne. Jirmijahs eigene schlimme Lage in diesem Kotgrabe entsprach der schlimmen Lage des göttlichen Wortes, das unermüdlich immer wieder niederstieg, um Israel zu retten, und immer wieder ungehört verschmachten mußte. Dabei war der Ekel, den der Kot verbreitete, gewiß nur ein gedämpftes Abbild des göttlichen Ekels, der durch den Kot des Geistes hervorgerufen wurde, durch Abfall, Untreue, Sünde, Götzendienst, Greuel, Liebesverrat, durch alles, was sich von der urersten Freude haßvoll entfernte." Das Grauen, das den Herrn, den leidenden Allerbarmer, den Umscharten, erfüllen musste, eben dieses Grauen empfand Werfel selbst.

Aber dann, ganz im Sinne des biblischen Jeremia, bei dem sich trotz aller Todesahnungen und Todesdrohungen am Ende zumindest ein Lichtschimmer der Hoffnung auftut, kehrt sich alles, zumindest für kurze Zeit, in sein Gegenteil. Der Jauchengestank macht "einem wachsenden Wohlduft Platz, der an Räucherkorn gemahnt und dann an flüssige Myrrhe, mit denen Königinnen ihre Haut zu beträufeln pflegen". Im Fiebertraum begegnet dem Propheten Zenua, seine Schülerin, ein ägyptisches Mädchen, mit dem er sich, so verlangt es Werfels Erzählung, verlobt hatte, die aber am Tag der geplanten Vermählung starb, sterben musste, hatte Gott ihm doch Ehelosigkeit auferlegt. Unschwer ist hinter Zenua, der Fremden, Werfels 1935 verstorbene Schwiegertochter Manon Gropius zu erkennen. Bereits mit Zenuas Tod nimmt Werfel das Zisternenmotiv vorweg, lässt er doch Jeremia in einer traumhaften Episode in die ägyptische Totenwelt hinabsteigen und die Erfahrung machen, dass die Seligen ein alles andere als glückliches Leben führen. Tatsächlich sind sie einer schrecklichen Ordnung unterworfen, die sie letztlich in Automaten verwandelt: "Mit herzbewegendem Eifer stellten sie die Seligkeit dar, die sie nicht hatten. Schreiber saßen da, die, keinen Papyrus auf ihren Knien, ohne Stift nichts ins Nichts eintrugen. Frauen begossen ohne Wasser ebenso fleißig die Pflanzen eines Gemüsegartens, den es nicht gab. Mäher mähten mit großen Schwüngen kein Getreide. Jäger spannten kräftig keinen Bogen auf kein Wild, das dennoch in Zielweite vorüberzufliehen schien. Familien saßen beim Mahl. Schakalsköpfe schoben ihnen träge die vertrockneten Speisen der Totenopfer zu. Väter, Mütter, Geschwister sahen sie nicht, führten leere Hände zum Mund, machten matte Kaubewegungen und waren offenbar sowohl über ihre geringe Eßlust als über die mangelhafte Speisung ungehalten. Und dies war schon die höchste Seligkeit, die Erfüllung aller Gebete, die ein ehrbarer Hausvater an die Götter Ägyptens richtete: dereinst, mit den Seinen vereint, in Auli tafeln zu dürfen. Die Seinen? Keiner bemerkte den andern." Erst nach seinem Gang durch die Totenwelt Ägyptens, das ist in unserem Zusammenhang von Bedeutung, weiß sich Jeremia reif für den Weg der Berufung. Übrigens sollte Werfel in seinem letzten Roman "Stern der Ungeborenen" (1946) vieles des von ihm hier nur Angedeuteten klarer sehen.

Zenua, "Seele der Völker", erscheint dem in der Zisterne gefangenen Jeremia in Gestalt einer Schwalbe. Die beiden unterhalten sich. Mit ihrer Hilfe wird er selbst zu einem Vogel und sieht sich, Zenua hat er da schon wieder vergessen, in Nebukadnezars Prachtzelt, als dieser sich mit Vögeln über das Schicksal Jerusalems unterhält. Wieder aus der Zisterne befreit und zu König Zedekia gerufen, drängt Jeremia ihn, das zu befolgen, was er in der Zisterne beziehungsweise im Traum erfuhr. Zedekia lässt sich nicht raten. Wie Jeremia es vorausgesagt hatte, gerät er in die Gefangenschaft des babylonischen Königs, der Zedekias Söhne vor dessen Augen erschlagen und dann Zedekia selbst blenden lässt.

Zahllose Verästelungen ließen sich herausarbeiten, das Motivgeschichtliche, die Quellen und ihre vielen Abweichungen differenzieren, all das in Beziehung zu Werfels Leben setzen, den Roman vor dem Hintergrund seiner Entstehungszeit lesen. Wie kam ich denn auf die Idee, mich mit dem Buch Jeremia zu beschäftigen? Es hatte wohl mit meiner Beschäftigung mit Daniel Paul Schrebers "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" zu tun. Auch er schien mir wie Jeremia ganz aus seiner Zeit gefallen. Beide meinen, die göttliche Stimme zu vernehmen. Da wie dort haben wir es mit Vernichtungsvorstellungen zu tun. Und bei beiden ist es, als ginge es darum, einen Reset-Knopf zu drücken, einen Absturz herbeizuführen, um das Programm neu zu starten. Jeremia will vor allem die alten Zustände wiederhergestellt wissen. Schrebers Vernichtungsphantasien, auch er sieht göttliches Geschehen am Werk, sind ähnlich motiviert. Er will wieder zurück in die Zeit, in der alles seine Gültigkeit hatte, in der noch keine "weltordnungswidrigen Verhältnisse" herrschten. Die Unterschiede seien nicht außer acht gelassen. Schreber projizierte innere Konflikte in die Außenwelt, Jeremia brachte dagegen Konflikte der Außenwelt zum Ausdruck. Im Gegensatz zu Schreber ist Jeremia in seinen (An)Klagen klar. Heute würde man Jeremia nicht mehr mit Händen und Füßen in einen Block legen, er wäre ein Fall für die Psychiatrie. Nicht zuletzt beschäftigte mich die Frage nach wahren und falschen Propheten.

Das Buch Jeremia ließe sich heute, nähme man es wörtlich, in seiner ganzen Unerbittlichkeit mühelos mit der sektiererischen Enge religiöser Fundamentalisten gleichsetzen. Man denke an den rachsüchtigen Gott, der Juda und Jerusalem dem babylonischen König Nebukadnezar ausliefert, der Schwert, Feuer, Hunger und Seuchen über sie kommen lässt und alle vernichten will, die sich nicht an seine Gebote gehalten haben: "Der Herr sprach: `Von Norden her wird Unheil kommen und über die Bewohner dieses Landes hereinbrechen. Hör, was ich sage! Ich rufe die Heere der Reiche des Nordens nach Jerusalem. Sie werden ihre Throne ganz nahe an den Stadttoren aufstellen und die Stadtmauern stürmen. Auch gegen alle anderen Städte Judas werden sie vorrücken. Dann werde ich endlich all das Böse richten, das mein Volk getan hat: Sie haben sich von mir abgewandt und anderen Göttern Opfergaben gebracht. Ja, sie beten Götter an, die sie selbst hergestellt haben. [...] Ich habe beschlossen, mich euch zuzuwenden, aber nicht zum Guten - nein, Unheil werde ich über euch bringen! Jeden Einzelnen von euch, ja, ganz Juda, will ich vernichten! [...] Dieser Tag gehört dem Herrn, dem Allmächtigen. Es ist ein Tag, an dem er an seinen Feinden Rache nimmt. An diesem Tag soll das Schwert fressen, bis es satt ist, ja, bis es völlig betrunken ist von eurem Blut!"

Man muss sich in die Zeit versetzen. Damals fanden große Umbrüche statt, Katastrophen bahnten sich an, vor allem kriegerische. Jerusalem lag an der Schnittstelle des Einflussbereiches zweier Großreiche, Ägypten und Babylonien. Jerusalem zu Zeiten des Königs Zedekia mag man sich als gut befestigte und prosperierende Stadt vorstellen. Hier kreuzten sich Handelsstraßen. Bereits in der Geschichte von Josef ist von einer Handelskarawane die Rede, deren Kamele mit Tragakant, Mastix und Ladanum beladen sind. Es muss einen regen Austausch gegeben haben. Mit dem blühenden Handel hielten fremde Kulte Einzug, während viele der sozialen Regeln, man denke an die Freilassung der Sklaven, die Sorge um Waisen, Witwen und Arme, das Gastrecht und anderes, ihre Geltung verloren. Dass Jeremia vor allem daran gelegen ist, die alten Zustände wiederhergestellt zu wissen, kommt insbesondere im Lob der Treue der Rechabiter zum Ausdruck: " `Nein', sagten sie, `wir trinken keinen Wein, denn Jonadab, der Sohn Rechabs, der Vater unserer Sippe, hat uns geboten und gesagt: Ihr und eure Nachkommen sollt niemals Wein trinken! Baut auch keine Häuser, sät kein Getreide auf dem Acker aus, kauft keine Weinberge und legt auch keine an. Stattdessen sollt ihr euer Leben lang in Zelten wohnen. Wenn ihr das alles befolgt, werdet ihr in dem Land, in dem ihr euch als Ausländer aufhaltet, lange leben können. [...] Wir bauen auch keine Häuser, um darin zu wohnen, und wir besitzen weder Weinberge noch Äcker noch anderes Land, um die Saat auszusäen. Stattdessen wohnen wir in Zelten und befolgen das Gebot Jonadabs, des Vaters unserer Sippe, treu in allen Dingen." Das Lob des Zeltes verweist auf die traditionelle Stammesgesellschaft. Zisternen bleiben zwar unerwähnt, man kann sie sich mühelos hinzudenken.

Das Buch Jeremia ist zutiefst antiurban. Das wurde mir klar, als ich Bogdan Bogdanovics "Architektur der Erinnerung" las. Bogdanovic beschäftigt sich darin, er schrieb es während der Belagerung von Sarajevo, mit dem Unbehagen, das antike Städte bei ihren Bewohnern auslösen konnten, selbst in Athen, einer Stadt, die wir uns geradezu als Modell urbanen Lebens vorstellen. Als die Spartaner nach der Einnahme Athens damit begannen, die riesigen Mauern einzureißen, die Athen mit dem Piräus verbanden, sollen die Zerstörer von Chören entzückter Athener Jugendlicher begleitet und von Mädchen mit Blumen überschüttet worden sein. Das kann man sich bei der Zerstörung des Tempels und der Schleifung der Mauern Jerusalems so nicht vorstellen. Aber auch bei Jeremia klingt das das Urbane betreffende Unbehagen an. Mehr noch als Jerusalem gilt dieses Unbehagen der Stadt Babel, diesem Moloch mit seinen schnurgeraden Straßen und all seinen zweckmäßigen, der Herrschaft dienenden Anlagen.

Heute haben wir es mit anderen Großreichen zu tun, die unser Leben bedrohen, mit Amazon, Google, Facebook, Twitter, Monsanto und so weiter. Längst durchdringen und bestimmen sie alles gesellschaftliche Leben. Auch diese Großreiche werden fallen, nicht viel anders als die Reiche der Pharaonen, der Assyrer, Babylonier, Perser oder Meder. Es ist sogar anzunehmen, dass sie nicht so lange existieren werden wie etwa das babylonische Reich. Vielleicht werden sie schon in wenigen Jahren Auflösungserscheinungen zeigen, nicht zuletzt ihrer Gefräßigkeit wegen, gerade deshalb, weil sie, diesbezüglich lassen sie an das babylonische Reich denken, zur steten Expansion gezwungen und somit unweigerlich von einer Überdehnung bedroht sind. Jeremia empfahl den nach Babel Verschleppten zwar, sich in der Verbannung häuslich einzurichten, doch hatte er das Ende des babylonischen Reiches klar vor Augen, obgleich er wusste, dass er selbst es nicht mehr erleben, dass dieser Tag noch siebzig Jahre auf sich warten lassen würde. Man sollte sich etwas von seiner Haltung zu eigen machen, seinen Widerstandsgeist, seinen Zorn, die Art und Weise, wie er Herrschenden ins Gesicht sprach.

Nicht viel anders als Jeremia leben auch wir heute in einer Umbruchszeit, in der globale Katastrophen durchaus denkbar sind, gleichgültig, ob diese Folgen klimatischer, ökonomischer, politischer oder sozialer Verwerfungen sein werden. Bereits in der Vorbemerkung zu seiner Übertragung von Euripides' "Die Troerinnen" (1914) schreibt Werfel, der Untergang Trojas könne als Metapher für die Gegenwart betrachtet werden. Auch nun befinde man sich in einer Periode der Umwälzungen, der Sinn- und Wertauflösung. Ebenso könnte auch die Zerstörung Jerusalems als Vergleich herhalten. Mag das Buch Jeremia uns noch so sehr befremden, es ist lohnend, sich damit intensiver zu beschäftigen. Um Dinge anders, nüchtern zu sehen, bedarf es immer wieder eines fremden, eines befremdenden Blicks.

Spätestens hier stellt sich erneut die Frage nach den wahren und falschen Propheten, ein Motiv übrigens, das sich auch durch Werfels Roman zieht: "Jirmijah hatte sich eine hohe Kunst im Erlauschen der Raunungen angeeignet. Wie jede Art von Verfeinerung entsprang auch diese Kunst dem unbefriediglichen Mißtrauen gegen die eigene Seele und den ihr einwohnenden Trieb zur Erleichterung, ein Argwohn, der sich von Jahr zu Jahr verschärfte. Viele hatten Gesichte, manche vernahmen die Stimme. Doch nicht allein die Aussonderung durch diese Himmelsgaben war es, was sie zu echten Kündern machte. Das Göttliche genügte nicht, wenn die Tauglichkeit und heilige Bemühung des menschlichen Eigenwesens nicht rastlos mitwirkte. Das Erbarmen des Herrn mit seiner Welt ließ sich herab, im vernehmlichen Worte Gestalt anzunehmen. Die höchste Reinheit setzte sich damit der trübsten Zumischung aus. Des echten Künders Kunst bestand nun darin, `richtig' zu hören, das heißt, die ergangene Raunung von allem trüben Zusatz zu entmischen, der aus den Leidenschaften, Begierden und Willenszielen des Eigenwesens stammte. Jirmijah hatte verschiedene Maßstäbe entdeckt, Adonais reine Raunung von den Einflüsterungen seiner eigenen Natur zu scheiden. Je neuer und überraschender zum Beispiel ein Gotteswort ihn traf, um so unverdächtiger war's, mit seinem Selbstischen vermengt zu sein."

Heute haben wir es mit vielen Mahnern zu tun, die auf den Punkt bringen, was Menschen ängstigt, eben den ganzen Irrsinn der Welt, in der wir heute leben. Üppig illustrieren sie drohende Katastrophen. Es sind falsche Propheten, dies auch dann, sollte all das eintreffen, wovor sie warnen. Falsche Propheten haben die Prophetie zum Geschäft gemacht. Sie bedienen einen ständig wachsenden Markt schaurig-lüsterner Katastrophenerwartung. Ein Prophet, der von einer Talkshow zur nächsten fährt, ein Buch nach dem anderen veröffentlicht, kann nur ein falscher Prophet sein, da er die ergangene Raunung nicht von seinen Interessen oder Leidenschaften zu trennen vermag. Fremd ist ihm das "unbefriedigliche Mißtrauen gegen die eigene Seele", das Bemühen, "trübste Zumischungen" auszuscheiden. Schon der Vortrag solcher Propheten müsste stutzig machen, ist doch unschwer zu erkennen, dass er, zum Echoraum geworden, von erprobten Pointen lebt. Das vermöchten sie nur zu sehen, hätte man sie einmal in eine Zisterne gestürzt, hätten sie, ganz auf sich selbst geworfen, ohne Möglichkeit einer Ausflucht, die Welt von ganz unten betrachtet, ausschnitthaft, verzerrt, aber dennoch wahr.

Man kann sich gut vorstellen, dass ein in einer Zisterne lebendig Begrabener Dinge zu hören vermag, gleichgültig, ob diese von oben oder aus seinem Inneren auf ihn eindrängen, die kein Mensch im geschäftigen Alltag zu hören vermöchte. Werfels Jeremia hört sogar das noch, was Zedekias Frau in ihren Gemächern spricht. Auffallenderweise schenkt Werfel dem Sehsinn keine Beachtung. Dabei sieht man am Grund einer Zisterne, ist sie nur tief und eng genug, die Sterne bei Tageslicht, womöglich nur als schwarze Flecken.

© Bernhard Kathan, 2019
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