Kapitel 8

Champell: „Es freut mich sehr, dass Sie mich aufgesucht haben. Ich war mir sicher, dass Sie kommen würden. Sie haben ziemlich gewütet. Mit Ihrem Golfschläger haben Sie ganze Arbeit geleistet. Nicht einer der Monitore ist heil geblieben. Dass Sie über mehrere Golfschläger verfügen, war mir bekannt, das Jagdmesser, mit dem Sie die Polsterungen aller Sessel aufgeschlitzt haben, war mir allerdings entgangen. Erstaunlich fand ich den umgestürzten Schreibtisch, auf dessen Unterseite Sie mit einem dicken Filzstift, und zwar in Blockbuchstaben, geschrieben haben: NICHT DAS SICHTBARE IST VON BEDEUTUNG! FETTSPUREN UND KAUGUMMI KLASSIFIZIEREN! DAS UNBEACHTETE! Wir hätten Sie in unserer Klinik behandeln können, aber Sie sollten in der normalen Welt Ihr Bewusstsein wiedererlangen. Vermutlich können Sie sich nicht mehr erinnern. Sie waren zu verwirrt. Haben Sie sich inzwischen etwas erholt? Ich hoffe es. Wir haben Ihnen einiges zugemutet. Es ist mir klar, was es für Sie bedeutet hat, so lange im Monitorraum zu sitzen, vollkommen allein. Haben Sie Ihren Urlaub genossen?“
Neurath: „Als allein empfand ich mich nie. Ich fühlte mich die ganze Zeit beobachtet. Aber es gab niemanden, mit dem ich sprechen hätte können.“
„Schlimmer noch, wir haben manches Verwirrspiel mit Ihnen getrieben. Denken Sie nur an all die Laborantinnen. Es ging nicht anders. Sie mussten Grenzerfahrungen machen. Sonst hätten wir nichts verstanden, es hätten sich keine neuen Fragen ergeben. Es war unmöglich, Ihnen all das im Vorhinein zu erklären. Sie hätten sich ganz anders verhalten ... Ich weiß, dieses Verwirrspiel hätte Sie beinahe in den Wahnsinn getrieben. Wir waren uns dessen bewusst. Dafür muss ich mich entschuldigen. Aber Sie müssen mir zugestehen, dass Sie früh genug erlöst wurden. Übrigens war ich erstaunt, wie gut Sie unterschiedlichste Strukturen erfasst haben.“
„Ich habe nicht das Geringste verstanden. Was habe ich gesehen? Mädchen in seltsamen Röckchen und Röcken bei diesen oder jenen Spielen. Eigenartige Feiern, von denen ich nicht wusste, ob es sich um Theateraufführungen oder um tatsächliches Leben handelt. Vieles wurde mir vorenthalten. Ich konnte also gar nichts verstehen.“
„Es trifft zu, Sie haben nur Ausschnitte gesehen. Aber Ihre Überlegungen, ich weiß, was Sie jetzt sagen werden, haben uns sehr beschäftigt.“
„Ich fand in meinen Notizen nicht einen Satz, der Sinn gemacht hätte.“
„Verstehen Sie mich nicht falsch. Wir haben keinen Einblick in Ihre Notizen genommen. Das wäre nicht nur lächerlich, es käme auch einer Missachtung des in Sie gesetzten Vertrauens gleich. Ihr Verhalten, Ihre Bewegungsmuster waren für uns höchst aufschlussreich.“
„Das scheint mir eine seltsame Art, ethnologische Erkenntnisse zu sammeln. Lassen wir das. Eigentlich habe ich Sie aufgesucht, um meinen Ärger loszuwerden. Aber vielleicht können wir über manche Dinge sprechen, die mir unklar sind.“
„Das wünsche auch ich mir.“
„Der Park ist als exterritoriale Zone zu betrachten, als eine Art Enklave, als rechtsfreier Raum, der jeder öffentlichen Kontrolle entzogen ist.“
„Das trifft zu, aber um einen rechtsfreien Raum handelt es sich nicht. Es gelten nur andere Regeln. All das verdankt sich weniger Unternehmensinteressen als der Tatsache, dass die Reproduktionsmedizin eine völlig neue Art von Menschen geschaffen hat. Erstmals in der Geschichte der Menschheit haben wir es mit Menschen zu tun, die als technische Produkte gedacht und als solche produziert werden. Mögen Zuchtmütter auch dieselben Empfindungen wie andere Menschen kennen, so sind sie doch unzweifelhaft als Eigentum des Unternehmens zu betrachten. Sie können also nicht unter die allgemeine Gesetzgebung fallen. Rechte kennen sie nicht, was aber nicht heißt, das Unternehmen hätte keine Pflichten ihnen gegenüber. Das Unternehmen hat etwa die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Mädchen sorgsam behandelt werden, in einer sicheren Umgebung aufwachsen und, wenn nur möglich, weder Angst noch Schmerz erleben.“
„Das lässt mich an Tierhaltung denken.“
„Unsere Zuchtmütter sind keine Tiere. Aber in einem gewissen Sinn haben sie nicht unrecht. Wie Sie vielleicht wissen, verfügt unser Unternehmen über ausgedehnte Stallanlagen, Rinderbetriebe. Wir sind Marktführer im Bereich hochwertiger Rinderembryonen. Auch als Tierhalter haben wir den Rindern gegenüber Pflichten. Unsere Pflichten den Zuchtmüttern gegenüber sind allerdings wesentlich umfassender. Ihnen gegenüber haben wir sogar die Pflicht, für Lebensunterhalt und Wohlbefinden jener zu sorgen, die ökonomisch betrachtet wertlos geworden sind. Kühen gegenüber kennen wir solche Pflichten nicht. Werden sie ausgeschieden, dann enden sie in einem Schlachthof.“
„Was halten Sie von jenen, die argumentieren, auch Tiere hätten Rechte?“
„Lebewesen, die über keine Vorstellung von Rechten in unserem Sinn verfügen, können keine Rechte haben. Freilich können Dritte Pflichten von Tierhaltern, die diese gegenüber Rindern, Hunden oder Katzen haben, einklagen. Tiere können keine Rechte haben, teilen sie doch die von Menschen getroffenen Übereinkünfte nicht. Nennen Sie mir einen Hund, der sich an die Straßenverkehrsordnung hält. Anders als in früheren Jahrhunderten werden Hunde heute nicht mehr vor Gericht gestellt, wenn sie ein Kind totgebissen haben. Solche Hunde werden aus gutem Grund erschossen oder eingeschläfert. Tiere haben keine Pflichten, sie können nicht einmal Regeln verletzen. Ein Bauer hat einer Kuh gegenüber die Pflicht, sie ausreichend zu füttern. Zumeist macht er dies ohnehin aus eigenem Interesse. Füttert er seine Kuh schlecht, so wird sie nur wenig Milch geben, füttert er sie überhaupt nicht, dann verliert er seine Existenzgrundlage. Andererseits ist der Bauer Teil einer Gesellschaft, die bezüglich des Umgangs mit Tieren eine Vielzahl von Übereinkünften getroffen hat. Sollte sich die Gesellschaft dahingehend einigen, dass Kühe nur in täglich frisch bezogenen Betten schlafen dürfen, dann hat der Bauer diese Pflicht zu erfüllen, mag sie ihm, erfahren im Umgang mit Rindern, noch so absurd erscheinen.“
„Im Gegensatz zu Tieren können Zuchtmütter sehr wohl Übereinkünfte treffen, also Rechte haben.“
„Sie können Regeln entwickeln, und das tun sie auch. Aber diese Regeln können nur zwischen ihnen gelten, nicht aber für das Unternehmen, schon gar nicht für die Außenwelt, zumal es hier keine Überschneidungen gibt. Wir respektieren all diese Regeln, fördern sie sogar, soweit sie nicht im Widerspruch zu unseren Zielsetzungen stehen. Rechte lassen sich daraus nicht ableiten. Zuchtmütter sind und bleiben Eigentum unseres Unternehmens, sind also als Sache zu betrachten, letztlich eben rechtlos.“
„Eine Art moderner Leibeigenschaft, eine Leibeigenschaft, die sich der Technik verdankt. All diese Frauen könnten sich wie andere Menschen entwickeln, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, einen Beruf erlernen und so fort. Es ist ihnen einzig deshalb unmöglich, weil sie daran gehindert werden.“
„Wie oft soll ich es noch sagen, ihr Leben verdankt sich der ihnen zugedachten Funktion. Diese schließt all das aus. Ich mag das Wort Leibeigenschaft nicht. Zuchtmütter begreifen wir keineswegs als Leibeigene. Aber Ihre Körper, und somit sie selbst, sind als Eigentum der Aktionäre zu betrachten, nicht anders als das Gelände, die Infrastruktur, all die Gebäude mit den Labors, Toilettenanlagen, Behandlungsräumen und so fort. Es geht weder um Gebäude, noch um Frauen, nicht einmal um Eizellen. Es geht um Gewinne, ganz gleich, wie sie zustande kommen. Die Abschaffung der Sklaverei in den USA verdankte sich nur bedingt humanitären Überlegungen. Werden Sklaven bürgerliche Rechte zugestanden, so kann man sich all der Pflichten entledigen, die man ihnen gegenüber hat. Wo immer Leibeigenschaft funktionierte, wurden diese Pflichten respektiert. Sollte das Unternehmen den Park aufgeben, dann werden all jene, die darin leben, auf einen wohldotierten Fonds zurückgreifen können.“
„Sie meinen, um das Gelände einer anderen Nutzung zuzuführen, müsse man den Tod der letzten Zuchtmutter abwarten? Eine letzte greise Zuchtmutter, allein im Park, in dem alle Gebäude verödet sind bis auf eines, das ist doch eine schreckliche Vorstellung.“
„Zweifellos wäre das ein trauriger Anblick. Ruft man sich die Menschheitsgeschichte in Erinnerung, dann fiele diese Vorstellung nicht aus dem Rahmen. Zahllose Dörfer, selbst pulsierende Zentren sind irgendwann ausgestorben. Das hat es doch immer wieder gegeben. Es mangelt auch heute nicht an Dörfern, in denen die meisten Gebäude leer stehen, in denen nur noch wenige Menschen leben, vielleicht nur noch eine einzige alte Frau. Ich muss Sie an Ihre eigene Studie erinnern. Wir denken an diese Möglichkeit. Die Entwicklungen der Reproduktionsmedizin sind unabsehbar. Längst lassen sich hochwertigste Eizellen viel einfacher gewinnen. Was unsere Pflichten den Zuchtmüttern gegenüber betrifft, so differenzieren wir nicht nach erbrachter Leistung. Entspricht eine nicht den in sie gesetzten Erwartungen, so betrachten wir dies als eine Fehlentscheidung unserer Genetiker. Man kann ein Mädchen nicht für die Fehler anderer verantwortlich machen. Mädchen vor dem sechsten Lebensjahr, die in Tests nicht den Erwartungen entsprechen, werden zur Adoption freigegeben. Manche von ihnen machen in ihrem späteren Leben eine glänzende Karriere. Was unsere Verantwortung betrifft, ist unser Unternehmen geradezu vorbildhaft. Eine Ethikkommission, in ihr sind namhafte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vertreten, beschäftigt sich mit all diesen Fragen.“
„Der Park, eine nach praktischen Überlegungen entworfene künstliche Welt. Menschliche Götter haben ein fragwürdiges Paradies, eine nur auf den ersten Blick heile, zweifellos aber sehr geordnete Welt geschaffen.“
„Als Götter begreifen wir uns keineswegs. Der Park funktioniert erstaunlich gut, perfekt ist er jedoch nicht. Denke ich an die vielen Abhandlungen von Theologen, die sich mit der Frage beschäftigten, warum Gott in seiner Vollkommenheit eine so unvollkommene Welt geschaffen habe, warum etwa Kinder zur Welt kommen, deren Leben aufgrund genetischer Anomalien nur eine einzige Leidensgeschichte sein kann, dann bin ich auf unser Schöpfungswerk stolz. Der Park kennt sein Eigenleben und funktioniert weitgehend aus sich selbst heraus. Wachsen die Mädchen heran, so betreuen sie jene, die ihnen nachfolgen. Sie unterrichten sie, wie sie selbst von größeren unterrichtet wurden. Scheiden sie später aus dem Programm aus, so übernehmen sie andere Aufgaben. Alle durchlaufen mehr oder weniger dieselben Stadien und Funktionen.“
„... wie Bienen in einem Bienenstock!“
„... nur dass jedes der Mädchen zu einer Königin heranwächst. So faszinierend Bienen sind, was immer sie tun, ihr Verhalten ist absolut determiniert. Zweifellos funktionierte ein Bienenvolk vor fünfzig Millionen Jahren nicht viel anders als ein heutiges Bienenvolk. Bienen fragen sich nicht nach der Bedeutung ihres Tuns. Sie machen stets das, was ihnen genetisch eingeschrieben ist. Menschen fragen nach der Bedeutung ihres Tuns. Zuchtmütter funktionieren nicht einfach, selbst dann nicht, wenn sie noch so sorgfältig auf ihre Aufgabe vorbereitet wurden. Sie machen sich Gedanken, reagieren verstört, stehen ihre Erfahrungen im Widerspruch zur behaupteten Wirklichkeit. Aber ich sehe, manches werde ich Ihnen wohl nie erklären können. Sie betrachten den Park als eine unerbittliche Welt. Zugegeben, lebte ich selbst darin, dann würde ich mir, um glücklich zu sein, das eine oder andere wünschen, allein schon deshalb, weil ich vieles kenne, was den Mädchen und Frauen verschlossen bleibt und, was ihr Glücklichsein betrifft, verschlossen bleiben muss. Nirgends auf der Welt werden Sie glücklichere Menschen finden, sehen wir einmal von jenen ab, die sich in einem Zustand der Verliebtheit befinden. Aber wie Sie wissen, währen solche Zustände nicht lange. Im Park währt das Glück dagegen ein ganzes Leben lang.“[1]
„Um mich davon zu überzeugen, hätte ich mit den Mädchen oder Frauen sprechen müssen. All das, was mir wichtig erschien, was mich interessierte, das wurde mir vorenthalten. Auch den Mädchen und Frauen, die im Programm sind, wird vieles vorenthalten. Vermutlich gilt dies in ähnlicher Weise für alle Beschäftigten in Ihrem Unternehmen. Warum kennt der Park, um nur ein Beispiel zu nennen, keine Versammlungen, in denen über Konzernstrategien, über Gewinne oder Verluste berichtet wird?“
„Sie scheinen es nicht zu verstehen. Effizienz verdankt sich allemal der Entmischung. Denken Sie an die Laborantinnen. Sie haben eine klar definierte Aufgabe zu erfüllen. Würde man ihnen den Gesamtzusammenhang erklären, sie würden nur von ihrer eigentlichen Aufgabe abgelenkt. Auch mir öffnen sich nicht alle Türen. Damit das Gesamte funktioniert, dürfen sich nicht alle Türen öffnen, nicht alle Fenster.“
„Kleine Mädchen mögen gut in einer künstlich geschaffenen Welt aufwachsen. Was aber, kommen Mädchen in die Pubertät, ruft ihr Körper nach dem anderen Geschlecht?“
„Das war lange Zeit eine der Schwachstellen des Programms. Die Verantwortlichen, damals war ich noch jung, dachten daran, mit sterilisierten jungen Männern zu arbeiten. Ich zählte zu jenen, die der Meinung waren, dass sich ein solcher Aufwand nicht lohne, mehr noch, unkalkulierbare Folgen haben würde. Das Defizit, es ist unbestreitbar, sollte anders ausgeglichen werden. Der Mensch ist dank seiner Anlagen höchst anpassungsfähig. Warum sollte es nicht möglich sein, eine Lösung zu finden, die es in der Geschichte der Menschheit bislang nie gab und die den Interessen des Unternehmens ebenso entspricht wie den Bedürfnissen der jungen Frauen. Man muss sich mit dem Begehren und all den daran geknüpften Phantasien beschäftigen. Ein Mann bedeutet noch lange kein Glück.
Glücksempfindungen lassen sich besser organisieren.“
„Menschen, die keine Sexualität leben können oder dürfen, sind von wichtigen Möglichkeiten ihrer Entfaltung abgeschnitten.“
„Das wird immer behauptet. Ich könnte Sie nun nach Ihren eigenen Erfahrungen fragen. Das möchte ich nicht. Gehen Sie doch in eine x-beliebige Bar. Achten Sie auf die Äußerungen des Begehrens. Da reiht sich doch eine verlogene oder traurige Geschichte an die andere. Im besten Fall gibt es eine kurze Zeitspanne des Glücks. Manchen gelingen Zweckgemeinschaften, in denen der eine dem anderen als Krücke dient. Ich erinnere mich noch an ein Mädchen, in das ich in jungen Jahren Hals über Kopf verliebt war. Damals glaubte ich, ohne dieses Mädchen nicht leben zu können. Heute habe ich ihren Namen längst vergessen, wie auch die Welt nicht, so wie von mir befürchtet, zusammengebrochen ist. Ich habe mir in mein Arbeitszimmer eine vergrößerte Aufnahme einer gewissen Marie Übelacker hängen lassen. Eine hübsche junge Frau, die selbstbewusst in die Welt blickt. Ich habe mir die Aufnahme bei einem Trödler gekauft. Der Name und das Schicksal dieser Marie wäre längst in Vergessenheit geraten, hätte nicht jemand auf die Rückseite der Fotografie einige Zeitungsausschnitte und eine Todesanzeige geklebt. Tochter eines Wildbrethändlers. Sie verliebte sich in einen jungen mittellosen Medizinstudenten. Als ihr klar wurde, dass er sie verlassen hatte, nahm sie in seiner Wohnung Gift. Die bewusstlose junge Frau wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo sie sieben Tage später, am 19. Februar 1911, starb. Wäre Marie nur wenige Jahre später von einem mittellosen Medizinstudenten verlassen worden, sie wäre nüchtern genug gewesen und hätte wohl kaum versucht, ihrem Leben ein Ende zu machen.“
„Wie sollten die sterilisierten Männer in den Park eingeführt werden? Sollten sie um ihre Funktion wissen?“
„Das war nicht vorgesehen. Diese Überlegungen wurden jedoch rasch verworfen. Nur zu schnell wäre alles außer Kontrolle geraten. Und dann geht es ja nicht um das Begehren, sondern um die Befriedigung vitaler körperlicher Bedürfnisse. Manche argumentierten mit unseren Erektionshelferinnen, die dank ihrer Ausbildung hervorragende Arbeit leisten. Nie gab es mit ihnen nennenswerte Probleme. Bislang ist uns kein einziger Fall bekannt, in dem sich eine von ihnen in einen Samenspender verliebt hätte. Wie sollte dies auch möglich sein, haben sie doch gelernt, all diese Männer, mögen sie sich ihnen gegenüber noch so korrekt verhalten, noch so freundlich sein, zu verachten. Eine gegenseitige Verachtung übrigens, mag sie auch unausgesprochen bleiben. Das Zeitintervall, in dem Erektionshelferinnen mit Samenspendern zu tun haben, ist viel zu knapp bemessen, als dass eine wirkliche Begegnung möglich wäre. Das Arrangement, das sachlich-medizinische Umfeld, schafft keinen Raum für Erotik. Es wird abgearbeitet. Stellen Sie sich dagegen junge, attraktive Männer im Park vor, was für Folgen es hätte, hielte sich einer dieser jungen Burschen nicht an die Regeln, verliebte sich einer in eine der jungen Frauen, begännen die beiden, einander Dinge zu erzählen, einander zuzuhören, Fragen zu stellen. Eifersuchtsdramen wären unvermeidbar. Das könnte nicht funktionieren. Wir mussten uns also mit Möglichkeiten beschäftigen, das Begehren zu kanalisieren, die Energie nicht in Beziehungen zu verschwenden, sondern für die Idee, für das Programm nutzbar zu machen. Sexuelle Bedürfnisse, so natürlich wie das Bedürfnis nach Schlaf oder Nahrung, lassen sich, einmal vom Begehren getrennt, mit Hilfe erotischer Maschinen befriedigen. Was das Sexuelle betrifft, ersetzen sie jeden Geliebten, mehr noch, sie sind jedem Liebhaber in Feingefühl, Ausdauer, Geduld und auch Heftigkeit überlegen. Und das ohne alle Konflikte. Die neueste Version des von uns entwickelten Kopulationsautomaten, zahllose Exemplare wurden inzwischen an Privatpersonen verkauft, sehen Sie sich die Angebote auf unserer Internetseite an, also diese Automaten sind so weit entwickelt, dass sie auf Bewegungen des menschlichen Körpers, auf seine Körpertemperatur, auf Sekretausschüttungen und vieles andere reagieren. Sie sind in der Lage, gleichzeitig mit den Kniekehlen, den Innen- und Außenseiten der Schenkel, zahllosen anderen Körperstellen zu interagieren. Sie wissen um die Bedeutung des Kreuzbeins, wissen, an welcher Stelle ein sanfter Druck ausgeübt werden muss, um diese oder jene Empfindung hervorzurufen. Mit herkömmlichen Sexpuppen und Sexmaschinen haben unsere Kopulationsautomaten nicht das Geringste gemein. Mögen solche Puppen noch so genau dem menschlichen Körper nachgebildet sein, Augen, Arme oder Hüften bewegen, Atemgeräusche von sich geben, sprechen, es ist und bleibt die reinste Mechanik. Schön und tot wie die Mediceische Venus im Josephinum, die mit aufgeklappter Bauchdecke und entnehmbaren Organen daliegt, als würde sie nur schlafen, dabei die Augen geöffnet hat und den Betrachter ansieht.[2] Im Handel finden sich inzwischen zahllose Sexroboter. Aber sehen Sie sich doch einmal eines dieser Produkte genauer an. Erbärmliche Geschöpfe, bestenfalls dazu geeignet, Fetischisten zu bedienen, möglicherweise auch Sammler, die sich für Roboter interessieren. Tot wie Olimpia[3] oder Hadaly[4]. Lächerlich. Unsere Kopulationsautomaten bieten wesentlich mehr. Sie sind lebendig, sie reagieren, interagieren, mögen sie selbst auch keine Empfindung kennen. Sie sind mit zahllosen Sensoren bestückt, die Bewegungen der Muskulatur, deren Tonus, Sekretausscheidungen, Puls- und Atemfrequenz, Laute oder Gerüche registrieren. Sie produzieren bestens abgestimmte Duftnoten, ja selbst die nötigen Sekrete, letztere garantiert keimfrei, keimtötend, und dies ohne irgendwelche Reizungen oder andere Nebenwirkungen. Entscheidend sind die haptisch-taktilen Fähigkeiten. Unser Kopulationsautomat ist ganz Geschlechtsorgan, dabei absolut geschlechtslos. Er lässt sich ohne Unterschied von Männern und von Frauen benutzen. Ein Blick in die Geschichte der technischen Innovationen genügt, um es zu sehen. Entscheidende Neuerungen verdanken sich dem Umstand, dass sie nicht länger menschliche Bewegungen nachahmten, sondern nach anderen Lösungen suchten. Denken Sie an das Rad. Die ersten Versuche, das Mähen zu mechanisieren, scheiterten kläglich, da sie Bewegungen eines mit der Sense mähenden Menschen imitierten. Keine dieser Maschinen funktionierte, keine von ihnen konnte funktionieren. Der Durchbruch gelang erst mit Maschinen, die in nichts mehr an den menschlichen Körper, an menschliche Bewegungen denken ließen. Dies gilt auch für unsere Kopulationsautomaten. Sie sind durch und durch Maschine. Ironischerweise gerade deshalb dem Menschlichen näher als alle Sexroboter, die sich auf dem Markt befinden.“
„Es bedarf also nicht einmal eines Kopfes?“
„Wozu bedürfte es eines Kopfes? Sie sind nicht dazu gemacht, mit Menschen Blicke zu tauschen oder Menschen zu küssen. Unterleibsmaschinen. Ich sagte es bereits, sie dienen nicht dem Begehren, sondern der Befriedigung sexueller Bedürfnisse, der Hervorrufung von Körpersensationen. Wer sich einen marktüblichen Sexroboter kaufen möchte, kann zwischen 54 Haarfarben, sieben Hauttypen, mehreren Augenfarben wählen. Wir haben uns von solchen Kindereien früh genug befreit. Es geht nicht um äußere Erscheinung, sondern um die Erzeugung von Lustgefühlen. Farbtöne von Augen und Haaren sind dabei ohne jede Bedeutung. Es genügt ein ansprechendes Design.“
„In aufgeklapptem Zustand musste ich an einen Engel aus Blech denken. Ein blecherner Engel.“
„Engel, das muss ich mir merken. Angel Boy. Die Marketingabteilung wird sich freuen. Das Blech wird man freilich weglassen müssen. Verstehen Sie immer noch nicht, warum wir, was Sie betrifft, keine Kosten gescheut haben.“
„Mir drängte sich Mantegazzas Massageapparat auf.“[5] „Wir haben es tatsächlich mit einer Art Futteral zu tun. Aber das ist auch alles. Mantegazza war nicht nur ein Pionier der künstlichen Befruchtung, als Arzt war er mit der Praxis und den Möglichkeiten der Medizin, die sich damals abzuzeichnen begannen, bestens vertraut. Mehrere, vor allem populärwissenschaftliche Publikationen, weisen ihn als einen der damaligen Experten in Fragen der Sexualität aus. Aber er hatte nicht die geringste Ahnung von den technischen Möglichkeiten, die uns heute zur Verfügung stehen. Die von ihm erwähnten Hämmerchen, die punktgenau auf Hautstellen schlagen, wie die Hämmerchen des Klaviers auf gespannte Saiten, sind unfähig, etwas wahrzunehmen oder zu reagieren. Wer immer unsere Kopulationsautomaten benutzt, Hingabe und Konzentration vorausgesetzt, wird ein Gegenüber finden.“

Nabelschnur


„Gab es Unfälle, Verletzungen?“
„Unsere Kopulationsautomaten sind so programmiert, dass Perforationen der Scheide oder des Enddarmes, Gewebe- oder Muskelrisse auszuschließen sind.“
„Hat nie einer der Automaten verrückt gespielt?“
„Nein.“
„Was, wenn infolge eines Blitzschlags oder anderer Ursachen der Strom ausfällt?“
„Dies hätte schlimmstenfalls die Unterbrechung eines Zwiegesprächs zur Folge. Nicht viel anders als würde ihr Handy klingeln, während Sie mit Ihrer Geliebten im Bett liegen. Fällt der Strom aus, kehrt der Automat in die Ausgangsstellung zurück. Unangenehm wäre nur die Unterbrechung einer lustvollen Erfahrung.“
„Ejakuliert dieser seltsame Automat?“
„Welchen Sinn sollte das haben? Er täuscht auch keinen Orgasmus vor.“
„Werden solche Automaten gemeinschaftlich genutzt?“
„Warum nicht? Wie könnte man auf Automaten eifersüchtig sein? Wir werden auch nicht eifersüchtig, nur weil andere dieselbe Toilette benutzen. Schlimmstenfalls erleben wir Ekelgefühle.“
„Ich denke an Schweiß und andere Körpersekrete, an Kotspuren.“
„Unsere Kopulationsautomaten sind mit einer Selbstreinigungsautomatik ausgestattet, die sich einer Oberfläche verdankt, an der nichts haften bleibt. Jede noch so kleine Verschmutzung lässt sich einfach absaugen. An sich würde dies vollkommen genügen. Um aber völlig sicherzugehen, häutet sich das mit einem vielschichtigen Gewebe aus Mikrofasern ausgekleidete Innere nach jeder Benützung. Die jeweils oberste Schicht stülpt sich von oben nach unten wie ein Sack um, wird ausgeschieden und verschwindet in der entsprechenden Entsorgungsöffnung. Jede Infektion ist ausgeschlossen. Denken Sie an die im Programm geforderten Hygienestandards. Eine Übertragung von Infektionen, die sich selbst in modernsten Krankenhäusern nie ganz vermeiden lassen, darf es nicht geben.“
„Sind Sie im Besitz eines solchen Automaten?“
„Wie könnte ich so begeistert darüber sprechen ohne eigene Erfahrungen? Ich benutze ihn täglich einmal, manchmal zweimal. Man erfährt eine enorme Dosis Lustgefühl, muss sich dabei nicht einmal anstrengen, man wird sanft durchmassiert und geht dann bestgelaunt in die schwierigste Besprechung. Im Verkehr mit Menschen werden Sie all dies nur sehr selten empfinden. Und wie bereits erwähnt, die Lustgefühle beschränken sich nicht auf den Genitalbereich. Der ganze Körper wird wohltuend durchflutet, und das ohne jene oft mühsamen Komplikationen, die mit der Liebe einhergehen.“
„Sie sind verheiratet. Schlafen Sie noch mit Ihrer Frau?“
„Ich muss gestehen, sehr selten. Aber wenn, dann macht es uns großes Vergnügen. Es ist erstaunlich. Wir lieben uns heute auf völlig andere Weise. Unsere Erfahrungen mit Kopulationsautomaten haben unsere Vorstellungen von Sexualität grundlegend verändert. Sie müssen wissen, dass sich das Programm dieser Apparate entscheidend dem Erfahrungswissen bedeutender Atem- und Körpertherapeuten verdankt.“
„Sie denken an Wilhelm Reich"[6]?
„Das hätte seltsame Apparate zur Folge gehabt. Lesen Sie, was seine Partnerinnen über sein Sexualverhalten geschrieben haben. Reich war völlig neurotisch. Er fällt in die Kategorie mechanischer Körper- und Geschlechtsmanipulatoren, und das noch in der unangenehmen Haltung eines notorischen Weltverbesserers. Bezeichnenderweise phantasierte sich der junge Reich in straff geknöpften Uniformen.“
„Die Kopulationsautomaten Ihres Unternehmens sind doch nicht weit entfernt von Reichs Orgonakkumulator, einem Kasten, in den man sich setzen sollte, um sich mit Orgon, einer Art Lebensenergie, aufzuladen.“
„Wer unsere Automaten benutzen will, muss sich auch einfügen. Aber das sind keine viereckigen Kästen, in denen man von Platzangst überfallen wird. Reich lässt sich nur in seiner Verrücktheit lesen. Ob Orgonakkumulatoren, Regenmaschinen oder das von ihm erfundene Perpetuum mobile, all das ist nur metaphorisch von Bedeutung. Ich verstehe nur zu gut, dass Reich, der es vorzog, in einem Zelt in einem öffentlichen Park zu übernachten, während seine Kollegen in Hotels schliefen, aus der psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen wurde. War es in Luzern, war es in Basel? Ich kann mich nicht mehr erinnern.[7] Unsere Kopulationsautomaten sind keine manipulativen Maschinen. Sie fordern Hingabe, eine Art tätiger Passivität, Wahrnehmung. Ohne Hingabe funktioniert der Automat nicht. Ich erwähnte es bereits. Jemand, der sich steif macht wie ein Stock, unfähig ist, sich seinen Empfindungen zu überlassen, wird nicht das Geringste erleben. Da nützt das beste Programm nichts.“
„Hingeben kann man sich einem Menschen, aber doch keiner Maschine.“
„Aber es muss nicht nur die Maschine lernen, sich dem Körper anzupassen, wer immer sich ihrer bedient, muss sich auch ihr anpassen. Das Wort trifft es nicht genau, er muss sich einlassen, sich letztlich hingeben.“
„Können sich Maschinen hingeben?“
„Natürlich kann sich eine Maschine nicht hingeben. Das unterscheidet den Menschen von einer Maschine. Aber dank eines Programms, das in der Lage ist, zahllose Daten zu verarbeiten und in Bewegungen umzusetzen, kann sie interagieren. Menschen kennen Stimmungsschwankungen. Manchmal ist man müde, manchmal traurig. Unsere Automaten sind so weit entwickelt, dass dies kein großes Problem mehr darstellt. Freilich bedarf es einiger Sitzungen. Kopulationsautomaten müssen erst Erfahrungen sammeln, lernen, Individuelles von Allgemeinem zu unterscheiden.“
„Ein Kopulationsautomat lässt sich weder erotisch, nicht einmal fetischistisch besetzen. Letzteres wäre nur möglich, würde er auf eine andere Person verweisen, und genau dazu eignet er sich nicht. Man muss nicht viel von Verhaltensforschung verstehen, um zu wissen, dass sich das Triebgeschehen entscheidend der Konkurrenz verdankt. Potentielle Geschlechtspartner, die auch von anderen begehrt werden, verfügen über einen wesentlich höheren sexuellen Reizwert. Das kann beachtliche Hormonausschüttungen zur Folge haben.“
„Ich bin leidenschaftlicher Jäger. Jeden Herbst, ich lasse mir das nie entgehen, habe ich auf der Schneealpe Gelegenheit, Hirsche während der Brunft zu beobachten. Immer wieder beeindruckend. Dabei läuft alles nach einem völlig determinierten Programm ab. Ein Platzhirsch ist nur zu bedauern. Wochenlang ist er damit beschäftigt, auf sich aufmerksam zu machen und alle Nebenbuhler fernzuhalten. Zum Fressen kommt er fast nicht. Das menschliche Geschlechtsleben kennt zwar größere Spielräume, unterliegt aber einer ähnlichen Mechanik. Schauen Sie sich doch das durchschnittliche Liebesleben an. Das Begehren, selbst dann, wenn es beantwortet wird, bedeutet noch lange nicht Glück. Ohne Triebregungen, die sich, wie wir wissen, nicht unseren Gefühlen, sondern unserem Stoffwechsel verdanken, wäre die Menschheit schon lange ausgestorben. Hormonen verdanken wir es, dass wir andere begehrenswert finden. Würden wir es nüchtern betrachten, wir würden nicht das geringste Begehren entwickeln. Da lobe ich mir unsere Kopulationsautomaten. Sie täuschen nichts vor. Sie sind Sache und sachlich zugleich.“
„Sie sprechen von Kopulationsautomaten. Gibt es für diese Geräte auch andere Bezeichnungen?“
„Aus Gewohnheit habe ich die ursprüngliche Bezeichnung beibehalten, obwohl sich das Projekt in eine ganz andere, nicht vorhersehbare Richtung entwickelt hat. Das System wird unter dem Markennamen Breathe® vermarktet – und wer weiß, in Zukunft womöglich unter Angel Boy®. Die Frauen, für die es ursprünglich gedacht war, sprechen vom ‚Mantel’. Ich kann mich nicht erinnern, wem oder welchen Umständen sich diese Bezeichnung verdankt. Die Einführung des Kopulationsautomaten war ein Experiment mit fraglichem Ausgang. Der Automat ließ sich nicht wie eine Waschmaschine vorführen. Wir vertrauten unseren Erfahrungen, setzten auf Neugier. Schließlich legten wir da und dort noch Fährten, freilich ohne die Zielsetzungen oder unsere Intentionen zu benennen. Eine wichtige Funktion kam dem Design zu. An eine Engelsgestalt dachte wohl niemand von uns. Im Idealfall bedarf eine Maschine keiner Gebrauchsanweisung. Sie sollte sich selbst erklären. Während der Entwicklung des Gerätes arbeiteten wir mit Versuchspersonen, die mit unseren Zielsetzungen vertraut waren. Es gab niemanden im Team, der sich nicht regelmäßig als Versuchsperson zur Verfügung gestellt hätte. Nun kam es darauf an, ob das Gerät erkundet und schließlich genutzt werden würde. Zu unserem Erstaunen wurde der Automat von den Frauen sehr rasch angenommen. Dass ihr alltägliches Leben eine Reihe ähnlicher Automaten kennt, hat alles sehr erleichtert. Die so gesammelten Erfahrungen und Daten waren entscheidend, um den Kopulationsautomaten zur Serienreife, also als Massenprodukt auf den Markt zu bringen. Seine weitere Optimierung verdankt sich inzwischen ganz anderen Daten.“
„Sie haben ausführlich den enormen Aufwand geschildert, der betrieben wird, um hochwertige Eizellen oder Embryonen zu gewinnen. Mit Samenspendern werden Sie weniger Mühe haben.“
„Ja und nein. Unser Unternehmen ist um bestmögliches Spermienmaterial bemüht. Bedauerlicherweise leiden nicht wenige der Spender an Erektionsstörungen. In den letzten zwanzig Jahren haben solche Störungen erheblich zugenommen. Als das Unternehmen gegründet wurde, da genügte es, einem Spender einige Pornohefte in die Kabine mitzugeben. Inzwischen mussten wir uns einiges einfallen lassen.“
„Es kann doch kein Problem sein, Männer zu finden, die nicht an Erektionsstörungen leiden.“
„Sie irren sich. Wir wollen kein beliebiges Spermamaterial, sondern das beste. Es kommen nur Männer in Frage, die alle genetischen Untersuchungen bestehen. Unter unseren Samenspendern finden sich erfolgreiche Sportler, Wissenschaftler, Unternehmer. In der Regel nehmen sie unser Angebot an, dies auch im Wissen, dass sie eine Reihe von Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen, was mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden ist. Die meisten von ihnen fühlen sich geadelt. Sie sind stolz darauf, Vater zahlloser Kinder zu sein, einen Beitrag für eine bessere Welt zu leisten.“
„Im Gegensatz zum weiblichen Erbmaterial scheint hier Schönheit von untergeordneter Bedeutung. Unter den erfolgreichsten Sportlern und Wissenschaftlern finden sich nicht wenige, die nicht dem landläufigen Schönheitsideal entsprechen. Aber lassen wir das. Warum sollten gerade die Männer, die als die besten, vitalsten gelten, an Erektionsstörungen leiden?“
„Das Problem ist aus der Rinderzucht längst bekannt. Die dort entwickelten Möglichkeiten, etwa operative Eingriffe, lassen sich beim Menschen allerdings nicht anwenden. Die Samenspender müssen in Beruf und Gesellschaft tagtäglich unter Beweis stellen, die besten Anlagen zu besitzen. Tun sie das, dann sehen wir über ihre Schwächen in der Samengewinnung hinweg.“
„Was lässt sich gegen solche Schwächen unternehmen?“
„Wie erwähnt, beschäftigen wir Erektionshelferinnen. Manche Spender wollen oral, rektal oder auf andere Weise stimuliert werden. Die Helferinnen, sie zählen zu unserem medizinischen Personal, sind gut ausgebildet. Es sind wahre Expertinnen der Samengewinnung.“
„Wenn ich an die Laborantinnen denke, die mich spätabends, ich war meistens betrunken, in mein Zimmer begleitet haben ... Irre ich mich? Ich hatte es wohl mit Erektionshelferinnen zu tun?“
„Es waren doch angenehme Erfahrungen?“
„Angenehm, das wäre zu viel gesagt. Ich fühlte mich einsam.“
„Sie müssen doch zugeben, dass Sie mit angenehmen Empfindungen eingeschlafen sind, stets sehr tief geschlafen haben.“
„Dieser Schlaf, übrigens träumte ich oft schlecht, verdankte sich wohl einem Schlafmittel, das mir in einem der Getränke verabreicht wurde. Mit keiner der Laborantinnen konnte ich mich unterhalten. Von zärtlicher Sachlichkeit keine Spur, nicht einmal das. Ich habe nicht eines ihrer Gesichter in Erinnerung, nicht einen Namen, kann mich nur an manch verlogene Geschichte erinnern. So wollte mich eine von ihnen glauben machen, Tochter eines Tankstellenbetreibers in Wisconsin zu sein. Solchen Unsinn wird sie auch den Samenspendern erzählen, und ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass ihr die erfolgreichsten, die klügsten, die potentesten Männer, deren Sperma sie im Programm haben, das abnehmen. Hieß sie Peggy, Cindy, Pamela? Kann mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, dass sie in Wirklichkeit einen anderen Namen trägt. Hatte sie schwarzes oder blondes Haar, einen großen oder kleinen Busen? Ich kann mich nicht daran erinnern. Wozu auch? In Erinnerung geblieben ist mir nur eine der Frauen. Sie begann zu heulen und lief weg, noch ehe wir uns nahekamen. Sie ließ mich traurig, aber doch glücklich zurück.“



Anmerkungen

Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.

[1] [In der utopischen Literatur finden sich zahllose Enklaven, in denen abgeschirmt von der Öffentlichkeit die seltsamsten Experimente durchgeführt werden. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Heutige Enklaven wie Naturparks (das Katzenloch) behaupten Unberührtheit. Die eigentlichen Experimentierräume sind mitten im gesellschaftlichen Leben zu finden. Jeder ist Versuchsperson in zahllosen Experimenten, allerdings in Experimenten, die sich niemand ausgedacht hat, die weder Hypothesen noch klar formulierte Versuchsanordnungen kennen und die sich, das ist entscheidend, zumeist ganz anderen Intentionen verdanken. Experimente, die sich nicht mehr stoppen lassen, unmittelbar Wirklichkeit zur Folge haben.]

[2] [Um die Ausbildung der Mediziner, vor allem der Chirurgen, zu verbessern, ließ Joseph II. in Florenz anatomische und geburtshilfliche Wachsmodelle menschlicher Körper und Körperteile anfertigen. Diese sind im Josephinum in Wien zu sehen.]

[3] [In E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ verliebt sich Nathanael in die Automate Olimpia. Er beschimpft seine Braut als „lebloses, verdammtes Automat“, während Olimpia ihm voller Leben erscheint. Ihm fällt weder die Seelenlosigkeit ihres Blicks, noch die mechanische Starrheit ihrer Bewegungen, ihres Tanzes oder ihres Klavierspiels auf. Singt Olimpia, so fühlt sich der distanzierte Betrachter an „den unangenehm richtigen geistlosen Takt der singenden Maschine“ erinnert. Statt wirklich zu sprechen, seufzt sie stets nur „ach – ach – ach“.]

[4] Hadalys Bewegungen, mögen sie noch so natürlich wirken, sind festgeschrieben. Programm, Reproduktion: „Wollen Sie die verschiedenen Dutzende von chromophotographischen Aufnahmen sehen, die auf einer Entfernung von einem Tausendstel Millimeter durchstochen sind, und auf denen die metallischen Staubkörnchen der Karnation eingestreut wurden, um das Lächeln Miss Alicias, das fünf oder sechs verschiedene Grundzüge tragen mag, auf magnetischem Wege genau zu reproduzieren?“ [Im Roman „L‘Ève future“ (1886) von Auguste Philippe Villiers de l’Isle Adam lässt sich ein seiner Freundin Alicia überdrüssiger Adeliger von Thomas Alva Edison, dem Erfinder des Mikrophons, des Phonographen und der Glühlampe, die Automate Hadaly konstruieren. Diese sieht Alicia zum Verwechseln ähnlich, ist aber im Gegensatz zu dieser, was Wissen und Charakter betrifft, geradezu vollkommen. Hadaly wird mit Hilfe eines elektromagnetischen Motors angetrieben. Ihre Gelenke werden mit Rosenöl geschmiert. Ihre Sprachbegabung verdankt sich einem eingebauten Goldphonographen, der „die tiefsten Gedanken von Romanschriftstellern und Philosophen“, eingeritzt in Stanniolpapier, stundenlang wiederzugeben vermag. Zwar werden zahllose technische Details der Androide ausführlichst beschrieben, die Beschaffenheit ihres Geschlechtsapparates bleibt jedoch im Dunkeln. Alicia, das Original, und Hadaly, verbesserte Reproduktion des fehlerhaften Originals, werden Opfer eines Schiffsunglücks.]

[5] [Der italienische Arzt Paul Mantegazza (1831 – 1910) beschreibt in seinem Zukunftsroman „Das Jahr 3000“ (1897) einen mechanischen Masseur. Der Kranke wird nackt in ein Futteral gefügt, welches den ganzen Körper mit Ausnahme des Kopfes umschließt, „weil es sich vollkommen anschließen soll, wie ein gut gearbeitetes Gewand. Kein Körperteil außer dem Kopf darf frei bleiben. Die innere Fläche dieses Futterals scheint völlig glatt zu sein, sie besteht jedoch wie ein romanisches Mosaik aus lauter kleinen Quadraten von 1 cm Seitenlänge. Jedes dieser kleinen Quadrate ist mit einem Faden verbunden, der durch einen elektrischen Motor in Bewegung gesetzt wird. Wenn der zu Behandelnde in dem Futteral steckt, wird der Strom zuerst nach den Füßen geleitet, dann nach den Beinen, Schenkeln und so weiter hinauf, bis sämtliche Quadrate sich in kleine Hämmer verwandelt haben, die wie Klaviertasten die Oberfläche des Körpers bearbeiten, einmal sanft, dann wieder stärker, je nach Bedürfnis des vorliegenden Falles. Der Stoff, aus dem das Futteral gemacht ist und woraus jedes einzelne Hämmerchen besteht, wechselt in seiner Härte zwischen der Sanftheit und Glätte eines feinen Handschuhs und der des Steins und Metalles. Daher ist die Massage je nach dem Falle weich und wollüstig, wie eine Liebkosung, oder rauh und heftig, wie ein Schlag. Die Behandlung dauert von wenigen Minuten bis zu einer Stunde; man kommt aus dem Apparat rot wie ein Krebs heraus, und in diesem Zustande unterwirft man sich noch einer kalten Dusche.“]

[6] [Wilhelm Reich (1897 – 1957), Psychoanalytiker und Sexualforscher.]

[7] [Luzern, 1934.]