Bernhard Kathan

MUSEUM DER GESCHLECHTLICHEN FRÖMMIGKEIT
Kapitel 1




Ein endlos erscheinender Gang. Backsteinwände. Man sieht mich ganz vorne im Bild. Meine Hände sind hinter meinem Rücken gefesselt. Man hat mich in eine Jacke aus rotem Plastik gesteckt, mich kenntlich gemacht. Als wäre es möglich wegzulaufen. Eine Badedienerin hinter mir zerrt meine Hände nach oben, drängt mich vorwärts. Nach vorne gebeugt torkle ich weiter. Damit ich nicht falle, fasst eine weitere Badedienerin, sie ist rechts im Bild zu sehen, unter mein Kinn und drückt meinen Kopf nach oben. Dies hindert mich am Schreien, schnürt mir die Luft ab. Brechreiz. Unterstützt wird sie von einer Badedienerin auf der linken Seite, die meinen Arm umklammert. Die hübschesten Mädchen der Stadt, die sich wohl einer eigenen Produktionslinie verdanken. Ihre Gesichter sind scharf geschnitten, ihre rot geschminkten Lippen sinnlich, markante Linien ihre Augenbrauen. Die Badedienerinnen, deren Aufgabe es ist, mich in den Tod zu führen, in den Tod zu dirigieren, sind bestens gekleidet. Sie tragen kurze, eng geschnittene Röcke, graue Uniformjacken, blaue Krawatten, sorgfältig geknotet zwischen den gebügelten Spitzen des Hemdkragens. Grau, grauenhaft sauber gekleidet. Die Badedienerin hinter mir trägt eine an einem schmalen Kinnband befestigte, steil aufstrebende Tellermütze mit blankpoliertem Schild, die beiden anderen, wohl in untergeordneter Stellung, Filzhüte, deren Krempen seitlich und hinten nach oben gebogen sind. Ihre Kleidung lässt an einen begabten Modeschöpfer denken. Die Blicke der Badedienerinnen gelten nicht mir, sondern dem langen Gang, an dessen Ende ich Tageslicht sehe, dem Programm, für das sie hergestellt, für das sie lange trainiert wurden, den Blicken der vielen, die meinen Weg säumen. So, als sei ich infektiös, werde ich mit Einmalhandschuhen angefasst. Was für ein Kontrast zu ihrer modischen Kleidung. Soll das Opfer gültig sein, muss es mit bloßen Händen berührt werden, darf man sich nicht scheuen, wenn sie mit Blut befleckt werden. Hätte Abraham Plastikhandschuhe getragen, kein Gott hätte seine Hand schützend über Isaak gelegt. Man gestand mir eine Badedienerin zu, die mein Haar sorgfältig wusch und schnitt, mich kämmte, mir die Augenbrauen zupfte und die Wimpern schwarz färbte, meinen Mund schminkte, so als träte ich vor einen Traualtar. Dabei wird mein Gehirn schon wenige Minuten später an eine Wand spritzen, werden Zurüster bereitstehen und Badediener meinen Körper abtransportieren als ausschlachtbares Gut, um diesem Organe und Keimzellen zu entnehmen.

Aus wirren Träumen wachte ich auf. Es war bereits taghell. Sonnenlicht fiel in den Raum. Ich brauchte einige Zeit, um mich wieder an den Vorabend erinnern zu können. Auf dem Tisch eine Vase mit Nachtviolen, davor mein Koffer. Ich hatte ihn nicht geöffnet. Auf der Ablagefläche neben dem Bett eine angebrochene Medikamentenpackung. Um den Tag zu vergessen, hatte ich einige der bereitgelegten Schlaftabletten geschluckt. Ich wankte ins Bad. Ich wollte mich duschen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Lange ließ ich das Wasser über Schultern und Rücken rinnen. Ich wollte mir meiner selbst gewiss werden, alles abwaschen. Dabei lässt sich die Vergangenheit nie abwaschen. Als ich mich abgetrocknet hatte, öffnete ich den Schrank, um Unterwäsche herauszunehmen. Solche Wäsche hatte ich noch nie getragen. In der Welt, aus der ich kam, gab es keine eng anliegenden Kleidungsstücke. Unsere Körper sollten luftumspült sein, nicht durch Kleidung geformt, eingezwängt. Die Toilettenartikel hatten sich im Gegensatz dazu nicht geändert. Von der Zahnbürste über Papiertaschentücher bis hin zu meinem Parfüm stand alles da, genau so, wie all diese Dinge früher, wenn auch in anderen Räumen, dagestanden hatten. Ein neues Leben beginnen, indem man sich in der Vergangenheit einrichtet? Es war für mich gesorgt. Auf dem Tisch neben einem Reisepass ein Handy, Geld, eine Bankomatkarte. Um die Bedeutung all dieser Dinge wusste ich freilich erst später. Wie vermöchte man das Wesen des Geldes verstehen, ist man in einer Welt aufgewachsen, die kein Geld kennt, in der es an Nahrung nie mangelt und die Räume an kalten Tagen warm sind. Während ich irritiert meine neue Unterwäsche betrachtete, klingelte es an der Tür. Ich wickelte mich in ein Badetuch, lief zur Tür und öffnete sie. Draußen stand eine kleingewachsene Frau, die etwa dreißig Jahre alt sein mochte. Nach ihrer Kleidung zu schließen, schien sie auf ihr Äußeres keinen besonderen Wert zu legen. Nicht unfreundlich lächelnd sagte sie: "Ich bin Deborah, Ihre Raumpflegerin." In diesem Augenblick fiel mir die Notiz ein, die ich am Vorabend auf dem Tisch liegen sah: "Vertrauen Sie Ihrer Raumpflegerin!" [1]

Jetzt erinnerte ich mich wieder, an die sprechende Wand, die in gewohnt freundlichem, aber bestimmtem Ton meinte, ich hätte eine Stunde Zeit, meinen Koffer zu packen. Der Koffer stehe vor der Tür meines Zimmers. Man werde mich im untersten Stockwerk erwarten. Ein Koffer! Noch nie in meinem Leben hatte ich einen Koffer gepackt. Wozu auch, beschränkte sich mein Bewegungsradius doch auf ein Feld, das sich innerhalb einer Stunde mühelos abgehen ließ. Eine Stunde Zeit. Fortan würde ich auf mich allein gestellt sein. Ich stopfte den Koffer mit einigen Kleidungsstücken voll, dachte an Unterwäsche, an Toilettenartikel. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich nichts Persönliches besaß. Nur einige Kritzeleien, die Paul geschrieben, einen Ring, den er mir geschenkt hatte, den ich aber nie zu tragen wagte. Ich brauchte keine Stunde, um meine Sachen zu packen. Es gab keinen Grund, mich von den anderen, mit denen ich bislang mein Leben geteilt hatte, die mir Schwestern oder Mütter waren, zu verabschieden. Ich wollte es nicht. Heute frage ich mich, ob es möglich gewesen wäre. Doch hätte wohl kaum eine von ihnen mir die Tür geöffnet. Die sprechenden Wände. Was teilten sie in anderen Räumen an diesem Abend mit? Natürlich gab es keine sprechenden Wände. Solche gibt es nur in billigen Science-Fiction-Romanen. Und sollte es solche geben, dann sind sie in uns selbst errichtet, sprechen aus uns heraus. Die Räume, in denen ich so lange gelebt hatte, schienen enger zu werden, mir die Luft zum Atmen zu nehmen, mir die Luft abzuschnüren. Es war mir, als gäbe es für mich keinen Platz mehr, als sei ich nicht länger vorgesehen. Selbst die Nachtigallen im Geäst vor den Fenstern verstummten. Nein, niemand sagte mir, was ich zu tun hatte, niemand sagte mir, ein Koffer stehe vor der Tür. Aber es stand ein leerer Koffer vor der Tür. Das Programm: aus eigenem Antrieb tun, was gefordert ist, bedeute es auch die eigene Vernichtung.
Die neonbeleuchteten Gänge, durch die ich schritt, waren menschenleer. Ich sah niemanden. Ich begegnete niemandem. Niemand hat nach mir gerufen. Ich bewegte mich wie in Trance, so als sei ich ferngesteuert. Der Lift öffnete sich bereits, als ich mich ihm näherte. Dabei durften wir diesen Lift nicht benutzen. Freilich wurde ein solches Verbot nie ausgesprochen, nirgends war es schriftlich festgehalten. Und doch gab es dieses Verbot. Keine von uns kam auf die Idee, sich dem Lift zu nähern oder ihn gar zu benützen. Und hätte sich ihm jemand genähert, nie hätte er sich geöffnet. Es gab keinen Grund, sich zu fragen, wohin dieser Lift führt. Kaum stand ich in der Kabine, setzte er sich in Bewegung, nach unten, in die Tiefe, in die Ungewissheit, ohne dass ich einen Knopf gedrückt, ein Feld berührt hatte. Ich musste an die große Feier denken, an meine Einführung, als nach vollzogenem Akt der Altar mit mir in der Tiefe verschwand, mich hinabtrug in grell beleuchtete Räume, in denen es nichts Feierliches gab. Und doch war es nun ganz anders. Ich betrachtete mein Gesicht in einem großen Spiegel, der an einer der Wände in der Liftkabine befestigt war. Mein Gesicht wirkte müde. Ich fühlte mich müde. Als ich aus dem Lift trat, fiel mein Blick auf einen davor stehenden großen Wagen. Der Deckel des Kofferraumes war hochgeklappt, die rechte hintere Türe stand offen. Es bedurfte keiner Erklärung. Kaum hatte ich meinen Koffer verstaut, mich in den Wagen gesetzt und die Türe zugezogen, fuhr er los. Eine riesige Halle mit niedrig gehängter Decke. Hunderte Autos waren hier abgestellt. Eine Tiefgarage. Das weiß ich heute. Eine Tiefgarage, mein erster Eindruck der Außenwelt. Aber damals war das für mich vollkommen neu. Die Außenwelt hatte ich mir anders vorgestellt. Immer dachte ich sie mir in großer Ferne, ihre Ränder nicht so nah, nur wenige Stockwerke unter meinem Zimmer.
Der Wagen fuhr eine Rampe hoch und war plötzlich unter freiem Himmel. Es war Nacht. Ich lehnte meinen Kopf an die Scheibe und betrachtete die vorbeifliegenden Lichter. Der Fahrer, ein älterer Mann mit fleischigem Gesicht, ich konnte es im Rückspiegel sehen, sprach kein Wort. Nicht ein Mal drehte er sich nach mir um. Bestenfalls warf er einen kurzen Blick in den Rückspiegel, um sicherzugehen, dass das Gepäckstück auf dem Rücksitz nicht etwa verrutscht sei. Ja, ein Gepäckstück. Als solches wurde ich transportiert. Frachtgut. Zumindest einen Augenblick lang gefiel mir dieser Gedanke. Nach etwa einer Stunde, der Wagen war in eine viel befahrene Straße eingebogen, blendeten mich die Lichter entgegenkommender Fahrzeuge. Häuserschluchten. Leuchtreklamen. Ich hatte keine Vorstellung, an welchen Ort ich gebracht und was mich dort erwarten sollte. Es mag sich eigenartig anhören, aber es beschäftigte mich nicht sonderlich. Ich empfand weder Angst, noch freute ich mich. Um sich auf etwas zu freuen, muss es einem bekannt sein, man muss es herbeiwünschen. Ich schloss meine Augen, ließ mich forttragen wie ein Stück Holz in einem Fluss. Nach einer langen Fahrt durch eine nächtliche Stadtlandschaft mit all ihren Lichtern plötzlich eine ganz andere Gegend. Villen, zweigeschoßige Wohnbauten, von Hecken umrahmt. Auffallend viele Garagen. Riesige Garagentore. Auf den Straßen waren keine Menschen zu sehen. Aus einzelnen Fenstern drang Licht. Der Wagen blieb vor einem Wohnblock stehen. Ohne den Motor abzustellen, drehte der Fahrer sich um. Nun konnte ich sein fleischiges Gesicht besser sehen, das Gesicht eines Lakaien, der alles macht, verspricht er sich nur einen Vorteil davon. Mit einem seltsamen Lächeln, mit einem Lächeln, das keinesfalls Wohlwollen bedeutete, reichte er mir ein großes Kuvert: "Das ist für Sie. Stiege II, Appartement 29." Gebrauchsanweisung und Lebensunterhalt in einem. Kaum war ich ausgestiegen, setzte sich das Auto in Bewegung und verschwand in der Dunkelheit.
Da stand ich nun, ratlos. Allein mit meinem Koffer. Auf einer menschenleeren Straße. An einem Ort, den ich mir nicht ausgesucht hatte. "Stiege II, Appartement 29." Als ich mich der Eingangstür näherte, wurde ich von meiner Vergangenheit eingeholt. Die Tür öffnete sich von selbst. Mochte ich nun auch anders leben, nach wie vor war ich im Programm. Auch die Tür meines Appartements öffnete sich von selbst. Als ich die Wohnung betrat, in der Licht brannte, schien es mir einen Augenblick, als hätte ich sie nur kurz verlassen. Das Appartement unterschied sich in nichts von den Räumen, in denen ich in den Jahren zuvor gelebt hatte. Jemand hatte sich sogar die Mühe gemacht, eine Blumenvase mit Nachtviolen auf den Tisch zu stellen. Nachtviolen hatte ich während des Frühsommers oft selbst gepflückt. Der Tisch war sorgfältig gedeckt. Ein Körbchen mit frischem Brot, Käse, eine Fischpastete. Dazu passend eine Flasche Rotwein. Vor dem Teller ein Kärtchen, auf dem in großen Lettern zu lesen stand: "Vertrauen Sie Ihrer Raumpflegerin!"

Ob ich wollte oder nicht, ich musste meiner Raumpflegerin vertrauen. Tagelang lag ich nur im Bett. Manchmal saß ich auf einem Sessel und starrte vor mich hin. Es war mir, als sei ich in Watte gepackt. Ich war aus meiner Vergangenheit entlassen, aber abgestreift hatte ich sie nicht. In der Gegenwart war ich noch nicht angekommen. Deborah, die Raumpflegerin! Morgens betrat sie die Wohnung und begann mit ihrer Arbeit. Ich gewöhnte mich daran. Mir gegenüber verhielt sie sich höflich, aber distanziert. Ihre ganze Aufmerksamkeit schien den Teppichböden, Vorhängen, Fenstern, den Fliesen im Bad, meiner Schmutzwäsche, nicht zuletzt dem Essen und dem damit verbundenen Geschirr zu gelten. Sie kochte für mich, deckte den Tisch, hieß mich niedersetzen, servierte mir und räumte schließlich Teller und Besteck wieder ab. Aß ich, saß ich stets allein am Tisch. Deborah war mit anderen Dingen beschäftigt. Zumeist nutzte sie die Zeit, um Einkäufe zu erledigen. Sie aß während ihrer Arbeitspausen - Arbeitspausen, ein für mich völlig neues Wort, ja, solche Pausen stehen einer Raumpflegerin zu, wie mir Deborah später erklärten - Brote, die sie sich mitgebracht hatte. An warmen Tagen setzte sie sich auf den Balkon. Hatte sie ihr Brot gegessen, konnte sie zurückgelehnt in der Sonne sitzen. Mit geschlossenen Augen. Manchmal las sie in einem Buch oder einer Zeitschrift. Mittags durfte sie eine Pause von dreißig Minuten machen. Deborah hielt diese Zeit exakt ein. Auf die Sekunde genau. Dabei gab es niemanden, der sie kontrolliert hätte. An Regentagen schien es mir nicht sehr gemütlich, auf dem Balkon zu stehen und eine Zigarette nach der anderen zu rauchen. Zigaretten! In meinem früheren Leben gab es keine Zigaretten. Allein der Geruch wirkte auf mich widerlich. Saugte Deborah den Teppichboden, das machte sie jeden Morgen, sehr zu meinem Überdruss, ertrage ich doch die Geräusche eines Staubsaugers nicht, so konnte sie sich geschäftig um mich herum bewegen, so tun, als sei ich eine Leerstelle, Luft. Die große Distanz brachten nicht zuletzt ihre Einmalhandschuhe zum Ausdruck, die sie nahezu den ganzen Tag trug. Als sei ich infektiös. Nur während der Zubereitung des Essens streifte sie diese ab. Einmalhandschuhe waren mir aus meinem früheren Leben nur allzu vertraut. [2] Deborahs Kleidung ließ mich an jene zumeist älteren Dienerinnen denken, die in meinem früheren Leben Böden gewischt, Tische gedeckt, Tische nach dem Essen abgeräumt hatten. Wir sprachen nie mit ihnen. Sie standen zu tief unter uns. Man kann sich nicht mit Möbelstücken unterhalten. In der Früh legte mir Deborah Kleider auf die Couch, damit ich mir, so sagte sie, das Passende aussuchen könne, schauen, was mir gut stehe. Es fanden sich keine langen Röcke darunter. Der einzige lange Rock, den ich besaß, das war jener, den ich trug, als ich verbannt wurde. In der Außenwelt trug keine Frau einen solchen Rock. Ich wäre damit sehr aufgefallen. Etwas Klösterliches, Uniformes haftete ihm an. Nein, unhöflich war Deborah nicht. Manchmal, das Essen auf meinem Teller war längst erkaltet, vergaß ich, Messer und Gabel abzulegen, hielt mich daran fest, als gäben sie mir Sicherheit. Messer und Gabel. Wohl stets nach längerem Warten bat mich Deborah, ihr das Messer, dann die Gabel zu überlassen. Verließ Deborah die Wohnung, ging sie in den Personalraum im Keller und zog sich um. Sah ich sie vom Fenster aus weggehen, war sie anders gekleidet, wirkte attraktiv.

Der Vp geht es den Umständen entsprechend. Würde ich morgens nicht die Vorhänge aufziehen, sie bliebe im Bett liegen oder im Dunkeln sitzen. Keine Vorstellung davon, wie sie leben möchte. Äußert sich bestenfalls über Dinge, die sie irritieren. Spricht weder über sich noch über ihre Vergangenheit. Verhält sich sehr distanziert. Die gewünschten Laborproben (Blut, Urin) werden Sie auch weiterhin über den hauseigenen Transportdienst erhalten. Diesbezüglich gibt es nicht die geringsten Probleme. Ein detaillierteres Protokoll wird später folgen.

Ich sitze nackt in einem Käfig. Nein, es ist kein Käfig, fehlen doch die Gitterstäbe. Ein runder Raum mit hohen glatten Wänden, nur nach oben hin offen. Eine Grube, aus der es kein Entrinnen gibt. Man hat mich am ganzen Körper glattrasiert. Kopfhaut, Achseln und Schamgegend, selbst jene Stellen, an denen sich Härchen zeigen könnten. Badedienerinnen, als Artistinnen verkleidet, mit dem Kopf nach unten an Gummiseilen hängend, schweben über mir auf und nieder. Habe ich Hunger, recke ich meinen Kopf nach oben, sperre Mund und Rachen auf wie ein Jungvogel in seinem Nest, so lässt sich eine von ihnen auf mich zufallen und stopft mir mit Stäbchen Fleisch tief in den Rachen, so tief in den Rachen, dass ich erbrechen muss. Ich ekle mich vor Fleisch, vor allem vor von rohen blutigen Knochen abgeschabtem Fleisch. Es ist mir verboten, mit meinen Fingern nach Nahrung zu haschen oder eine der Badedienerinnen zu berühren. Es ist mir verboten, auch nur ein Wort zu sagen, darf nur durch Zeichen auf mich aufmerksam machen. Erbreche ich, so hat dies in eine rote Schale zu geschehen, die auch dazu dient, das Ausgespuckte aufzunehmen. Eine gelbe Schale für meinen Harn, eine blaue für meinen Kot. Für jede dieser Schalen hat eine der Artistinnen zu sorgen, die über mir schweben und auf mich zuschießen, habe ich eine der Schalen benutzt. Die Farben ihrer kurzen Röckchen entsprechen exakt den ihnen zugeordneten Schalen. Die Wände des Raumes gehen oben in eine Brüstung über, über die sich zahllose Köpfe beugen, um mir und dem Treiben der Artistinnen zuzusehen. Verfehlt die Artistin, die mich füttert, meinen Mund, dann ist heiteres Gelächter zu hören, auch wenn ich mich erbreche. [3]

Die Vp war heute sehr aufgewühlt. Schluchzend saß sie auf der Bettkante. Immer wieder klagte sie, sie habe keine Mutter, keine Eltern. Ihre Existenz verdanke sich einem Programm, einer Maschine, die auch Zündhölzer herstellen könnte. Sie sei aber kein Zündholz. Man habe sie ihrer Kindheit beraubt, eine Maschine aus ihr gemacht. WIE LEBEN? WIE LIEBEN? Suchte ihr Schluchzen in einem Polster zu ersticken. Ihre Klagen waren keinesfalls an mich gerichtet. Meine Anwesenheit schien sie nicht zu stören. Vielleicht nahm sie keine Notiz von mir, und wenn, so dürfte sich ihr diesbezügliches Verhalten meiner Rolle als Raumpflegerin verdanken. Vor Dienstboten muss man sich nicht beherrschen, kennt man keine Schamgefühle. Als ich ihr Blut für das Labor abnahm, musste ich sie gar nicht bitten. Kaum sah sie mich mit den nötigen Utensilien, streckte sie mir ihre linke Armbeuge entgegen. Offensichtlich zählt dies für die Vp wie das Putzen der Zähne zu den täglich wiederkehrenden Verrichtungen. Augenblicklich fand sie ihre Selbstbeherrschung wieder und hörte auf zu schluchzen.

Ich habe mehr als zwanzig Jahre abgeschirmt von der Außenwelt gelebt. Ich musste mich um nichts kümmern, einzig verfügbar sein. Doch plötzlich wurde ich ausgestoßen, verbannt, vertrieben, als Überflüssige erkannt, als Abweichung vom vorgegebenen Ideal, ausgetragen, von einer Liste gestrichen. "Austragen" bedeutet, ein Kind von der Empfängnis bis zur Geburt im Körper zu tragen. Auch Kühe und andere Säugetiere tragen ihren Nachwuchs aus. Freilich sind sie sich dessen nicht bewusst. Es geschieht nur mit ihnen. Früher einmal trugen Briefträger die Post aus. Ich habe nie in meinem Leben ein Kind ausgetragen. Dabei war ich oft in anderen Umständen, wahrlich in anderen Umständen. "Austragen", etwas oder jemanden aus einer Liste streichen: DELETE. Zum Verschwinden bringen, ungeschehen machen, löschen, ausmerzen. Lange bevor ich zur Welt kam, war auf meiner Stirn das Wort DELETE eingebrannt. Gesund, krank, brauchbar, nutzlos, + und -. Eine Welt ohne Zwischentöne, ohne Farbnuancen. Dabei kannten die Wände meiner Kindheit viele Farbabstufungen, zahllose Rot-, Blau- und Grüntöne. Das Gelb konnte sich einmal in diese, dann in jene Richtung drehen. Nur das Weiß war eindeutig. Aber dieses Weiß sollte ich erst später kennenlernen. Wie alle anderen Geweihten war ich ein geplantes und - mag ich mich von anderen auch in manchen Dingen unterscheiden - ein serielles Produkt, hervorgegangen aus einem Warenkatalog. Bereits in jenem Augenblick, in dem ich ins Werk gesetzt wurde, war ich mit einem Kainsmal gezeichnet. Bereits damals war mir eingeschrieben, dass man mich austragen, ausscheiden, auslöschen, ausstoßen, verstoßen, fortjagen, in die Verbannung schicken, mit einem Bann belegen, mich zu einer Unberührbaren machen, mich entsorgen, der Verwertung zuführen würde. Wie jedes industriell gefertigte Produkt trug ich von Beginn an den Keim des Abfalls in mir. Aber es trieb mich selbst hinaus. Hinaus aus einer Welt, die mir lange alles war. Adam und Eva aßen von der verbotenen Frucht. Dass dies ihre Vertreibung zur Folge haben würde, das wussten sie. Oder auch nicht. Wer nie vertrieben wurde, weiß nicht, was Vertreibung bedeutet. Hunger kennt nur der, dem es an Nahrung mangelte. Das Paradies. Im Paradies gibt es keinen Mangel. Stets ist es angenehm warm. Man muss sich nicht um Kleidung kümmern. Im Paradies werden alle Erschütterungen und Stöße abgefedert. Es gibt da keine Ecken und Kanten, kein Geräusch, das einen zu erschrecken vermöchte. Aufgehoben im Fruchtwasser, umhüllt von einem schützenden Mantel. Doch plötzlich setzt ein starkes Ziehen und Dehnen ein. Es treibt dich hinaus. Deine Arme und Beine wollen sich bewegen. Du bist es, die nach außen drängt.[4]

Da mich die Vp darum bat, besorgte ich ihr Papier und Bleistifte. Manchmal sitzt sie stundenlang vor einem Blatt, ohne auch nur eine Zeile zu schreiben. Versucht sie doch, etwas zu Papier zu bringen, so zerreißt sie das Notierte, kaum hat sie den Bleistift zur Seite gelegt, in kleinste Fetzchen. Beim Leeren des Papierkorbs fand ich ein zerknülltes Blatt mit folgenden Worten: "Ankleideräume für Zurüster, Badediener, Badedienerinnen wie andere Gehilfen, unter ihnen Kastraten, die mit bunten Federfächern für Kühlung sorgen. Zurüster, Badediener und Badedienerinnen müssen Schutzkleidung tragen. Diese wird nach jeder Szene entsorgt oder gründlich desinfiziert. Alle Teile der Rüstung, die nicht desinfiziert und wiederverwendet werden können, etwa Mundschutz, Schutzbrille, Schutzhaube oder Einmalhandschuhe, werden verbrannt."

Meine Geburt war mein erstes Unglück. Kaum war ich geboren, wurde ich von meiner Mutter getrennt. Man brachte mich mit einem Kaiserschnitt zur Welt. Nach Ablauf von neun Monaten wurde der Deckel aufgeschlagen, die Truhe, der Sarg geöffnet, ich herausgehoben, nicht aber in die Arme meiner Mutter gelegt. Die Frau, die mich mit ihrem Körper nährte, bekam zweifellos sehr viel Obst zu essen, frisches Gemüse, frisch geschlachteten Lachs aus betriebseigenen Zuchtbecken. Feinstes Olivenöl, kaltgepresst natürlich. Sie war mir nie Mutter. Nur temporäres Behältnis, ein lebender Brutschrank. Mit eierlegenden Tieren hätte man weniger Mühe. Ich habe keine Mutter. Ich war diesem Behältnis nur eingepflanzt. Ich bin weder ein Produkt eines bedauerlichen Zufalls, noch Produkt des Begehrens.

Die Vp scheint ihre Träume zu notieren. Folgenden Traum finde ich bemerkenswert: "Hat der Zurüster sein Alltagsgewand abgelegt, reichen ihm zwei junge Badedienerinnen Tuch um Tuch. Wie die beiden weiß auch er um jede Bewegung. Die Choreographie ist lange eingeübt. Es bedarf keiner Erklärungen. Er beugt seinen Kopf. Die beiden streifen ihm die Albe über, legen den Gürtel um seine Hüften, zupfen den Stoff zurecht, damit die Falten gut fallen. Stola und Kasel. Joch und Zeltheiligtum. [5] Auf sein Haupt setzt sich der Zurüster eine weiße Haube mit zwei spitz auslaufenden Wülsten. Hörner eines Stieres. In kniender Stellung bieten die beiden Badedienerinnen dem Zurüster rotlackierte Schuhe aus weichem Kalbsleder dar. Linker Fuß, rechter Fuß. Es ist, als schlüpfe er, erst links, dann rechts, in ein Geschlecht. Der Zurüster beschwört das Glück derjenigen, die sich dem Wohl der Menschheit weihen. Vollkommene Stille. Ein himmlischer Duft. Der Zurüster beginnt beim Schein zahlloser Kerzen, inmitten von Blumen und Wohlgerüchen mit der Opferhandlung. Der Zurüster schabt mit einem Messer meine Haut, genau oberhalb der Schläfe am Haaransatz. Er greift nach meinem Haar, fasst nach einem Büschel über dem rechten Ohr. Er schneidet es ab. Dann ein Büschel auf der anderen Seite. Damit es nicht auffalle. Rasche Bewegungen, der Finger, der Schere. Tausendfach hat er dies bereits gemacht. Fertig sein, noch bevor ich mich dagegen sträube. Ich mag es nicht, schneidet der Zurüster mein Haar: Auch dieses Büschel will noch entfernt sein. Ich werde geschoren, geschoren wie ein Lamm, werde zu einem der Opferbrote, dem jener Teil entnommen wird, aus dem ein neuer Leib, viele Leiber hervorgehen sollen. Mein Haar fällt nach allen Seiten. Aber erst um Mitternacht wird die Braut zur Gemahlin. Ich liege auf dem Rücken, festgeschnallt auf einem Altar. Der Zurüster macht etwas mit mir, in meinem Innern. Ich kann es in der Nähe meines Magens spüren. Um die Stirn eine leinene Binde, Zeichen meiner Jungfräulichkeit und Hingabe. Ein Leichentuch, über mich gebreitet. Der Zurüster beginnt die Totenmesse zu lesen. Von den Zuschauerrängen der antwortende Klagegesang junger Novizinnen: '... wie wunderbar, aber auch wie furchtbar sind deine Geheimnisse!' [6] Wenig später tanze ich alleine durch eine jubelnde Menge, während Mädchen versuchen, nach meinem Schleier zu haschen. Einem Mädchen mit strohblondem Haar gelingt dies. Sie wird die nächste Braut, das nächste Opfer sein, an meine Stelle treten." Bin bemüht, durch meine Anwesenheit und alltägliche Tätigkeiten das Leben der Vp zu strukturieren. Kleine Erfolge. Die Vp bleibt nicht mehr im Bett liegen. Komme ich in der Früh, dann hat sie sich zumeist bereits angezogen. Manchmal steht sie noch (sehr lange!) unter der Dusche. Sie scheint auf die frischen Brötchen zu warten, die ich ihr mitbringe. Behandelt mich, als wäre ich ein Möbelstück. Immerhin hat sie sich unlängst zum ersten Mal bedankt. Die Laborproben erhalten Sie wie gewohnt, auch den gewünschten Speichelabstrich.

Alpträume plagen mich. Ein schmaler langer Raum, in dem ein Behandlungsstuhl neben dem anderen steht. Ärzte sind mit Kranken beschäftigt. Im Vordergrund öffnet ein Arzt mit einer Schere, deren Spitzen in zwei Löffeln enden, den Mund einer älteren Frau. Gewaltsam schiebt er die Löffelschere tief in ihren Rachen. Sie sucht ihn abzuwehren, was ihr nicht gelingen kann, ist sie doch festgeschnallt. Plötzlich sehe ich mich, gebunden und geknebelt, in einer Sänfte sitzen, die von acht Maschinenobergefreiten im Laufschritt durch eine auseinanderlaufende Menschenmenge getragen wird. Einer der Maschinenobergefreiten stolpert. Die Sänfte kippt seitwärts. Und noch ehe ich aufschlage, schrecke ich aus dem Traum auf. Ich sitze in keiner Sänfte. Man hat mich nicht gefesselt, auch nicht geknebelt. Ich bin nicht auf dem Boden aufgeschlagen.



Anmerkungen

Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.

[1] [Wohl eine Anspielung auf Franz Werfels Roman "Stern der Ungeborenen". Am Eingang zum Wintergarten, einer Anlage, in der die Alten durch ein retrogenetisches Verfahren entsorgt werden, befinden sich Schrifttafeln mit der Weisung: "Vertraue dem Animator und seinen Badedienern!" Unbehagen überfällt nur den Zeitreisenden: "Ich spürte aber sofort, daß der gute behagliche Empfang einen bestimmten Zweck hatte. Alles sollte hier schnell gehen, ehe man recht zur Besinnung kam. Während man einander anlachte und ankomplimentierte, wurden Herren und Damen und vorzüglich die Ehepaare unmerklich voneinander getrennt. So betrog man sie über den Schmerz des Abschieds hinweg."]

[2] Die Einmalhandschuhe aus puderfreiem Latex sind wasserfest. Gebrauchsinformation bitte aufmerksam lesen! Zusammensetzung: Naturkautschuklatex. Vorsicht! Dieses Produkt kann allergische Reaktionen einschließlich anaphylaktischer Reaktionen auslösen. Prüfen Sie vor dem Gebrauch die Einmalhandschuhe auf eventuelle Verschmutzungen, Mängel oder Fehler. Einmalhandschuhe, die während des Gebrauchs reißen oder durchstochen werden, sind umgehend zu entsorgen. Nur hinreichend sitzende Einmalhandschuhe gewährleisten Schutz und Griffigkeit. Stellen Sie sicher, dass keine Chemikalien über die Stulpe eindringen können. Einmalhandschuhe sind nicht geeignet für den Schutz gegen Feuer (offene Flamme), gegen Hitze und Arbeiten in der Nähe beweglicher Maschinenteile. Nicht waschen. Chlorbleiche nicht möglich. Trocknen im Wäschetrockner nicht möglich. Nicht bügeln. Keine chemische Reinigung möglich. Die Haltbarkeit beträgt drei Jahre ab Herstellungsdatum. Lagerung bei normaler Raumtemperatur (5°C - 25°C). Sonnenlicht und direkte Wärmeeinstrahlung vermeiden.

[3] Auf den Trobriand-Inseln wird die Witwe des Verstorbenen in einen kleinen Käfig gesperrt: "Sie darf nicht aus dem Käfig heraus; sie darf nur im Flüsterton sprechen; sie darf Speise und Trank nie mit den Händen berühren, sondern muß warten, bis sie gefüttert wird; sie bleibt im Dunkeln eingesperrt, ohne Licht und frische Luft ... All ihre Bedürfnisse muß sie im Käfig verrichten, die Exkrete müssen von ihren Verwandten hinausgeschafft werden." [Bronisław Malinowski, "Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien".]

[4] "Die Ursache, welche die Mutter zur Geburt nöthiget, ist von der Leibes=Frucht selbst herzuleiten. Denn es ist bekannt, daß diese in der Gebär=Mutter Kugel=rund zusammen sietzet, indem sie nemlich mit dem Kinne die Brust, und mit denen gebogenen Füssen die Arsch=Backen berühret, und zwar der Gestallt, daß der Kopf den obern, die Füsse aber den untern Theil der Gebär=Mutter einnehmen. Indem also das vollkommen gebildete Kind in diejenige Leibes=Grösse erwachsen, welcher die nur gedachte Krümmung des Cörpers und die gezwungene zusammen gezogene Gestallt beschwerlich fällt, so bemühet es sich ein anderes Lager zu suchen, und da es sich zu wältzen anfänget, so fället es mit dem Kugel=runden Kopfe und mit grosser Gewalt in den Mutter=Halß und das Becken, dahero es geschiehet, daß der schwangern Mutter ihr Bauch ein wenig ausgedehnet wird, und einige Beschwerlichkeit beym Urin lasen und bey denen Stuhl=Gängen, wie nicht weniger einiger Lenden=Schmertz entstehet. Befindet sich das Kind nun in solchem Zustande, so beschweret es zum Theil mit seinem Gewichte den Mutter=Halß und die geöffnete Mutter=Mündung." [Johann Heinrich Zedler, "Universal-Lexicon", "Geburt, Partus" (1735).]

[5] "Von da an schlug Mose jedes Mal, wenn das Volk Rast machte, außerhalb des Lagers ein Zelt auf. Er nannte es das Zelt der Begegnung mit Gott." [2. Mose 33,7.]

[6] [Vgl. François-René de Chateaubriand, "René"; insbesondere jene Stelle, in welcher René dem Priester die Schere reicht, damit dieser Amélie, von seiner inzestuösen Liebe in ein Kloster getrieben, den Kopf kahl schere.]