Kapitel 15

Deborah wusste um meine Geschichte. Mit ihr konnte ich offen darüber sprechen, mochte ihr auch manches unverständlich sein. Ich mied es, Männern von meiner Vergangenheit zu erzählen. Deshalb legte ich mir eine Geschichte zu, die plausibel klang, die sich endlos weiterspinnen, nicht aber überprüfen ließ. Ich sei Kind reicher Eltern. Sie hätten mich am Genfer See in ein nobles Mädchenpensionat gesteckt. Ist doch schön, lässt sich die Kindheit mit Figuren wie Se-lien, Tochter eines südkoreanischen Großaktionärs, ausstatten, oder mit Pamela, Kind brasilianischer Eltern, die ihren Reichtum der Rinderzucht verdanken und, Tag und Nacht, von Leibwächtern abgeschirmt, ein Telenovelaleben führen. Ich erzählte oft von Erlebnissen mit Pamela, Peggy und Pussy. Es fiel mir nicht schwer, all das auszuschmücken, wuchs ich doch tatsächlich in einem Mädchenpensionat auf, in einer Welt, in der kleine Mädchen wie Prinzessinnen behandelt wurden. Mir ist nicht einer untergekommen, der mir meine Kulissenwelt nicht abgenommen hätte. Solches erzählte ich auch Neurath. Einmal, ich hatte ihn eben wieder einen Blick in eine weitere Kammer meiner erfundenen Kindheit werfen lassen, nicht ohne ihm dabei diese oder jene Fährten zu legen, meinte ich:
„Ich würde dir gerne eine Geschichte abkaufen.“
„Warum abkaufen?“
„Damit es nicht so leichthin gesagt ist.“
„Du möchtest also unser Verhältnis zu einem Arbeitsverhältnis machen.“
„Warum nicht?“
„Und wenn ich dir eine Lügengeschichte erzähle?“
„Das ist nicht so leicht möglich. Man kann nur etwas erzählen, was man erlebt hat. Es ist wie bei einem Mord. Ein Mord lässt sich leicht durchführen, schwieriger ist es dagegen, die Spuren zu beseitigen.“[1]
„Soll ich dich umbringen? Welchen Sinn sollte das haben? Ich kenne keinen diesbezüglichen Beweggrund. Ich mag deine Nähe. Du würdest mir fehlen.“
„Ich möchte dir trotzdem eine Geschichte abkaufen. Ich will sie schriftlich.“
„Wieviel Zeit gibst du mir?“
„Eine halbe Stunde müsste reichen. Die Bezahlung orientiert sich an ...“
„Wir werden uns einigen. Ich lass mich auf das Spiel ein. So werde ich auch etwas von dir erfahren.“
Neurath ging auf sein Zimmer. Nach exakt einer halben Stunde kehrte er zurück und legte ein Blatt vor mich hin, auf dem er folgende Geschichte niedergeschrieben hatte:
„Ich habe diese Zeit in sehr schlechter Erinnerung. Es ging um ein Projekt, das zum Ziel hatte, ein Frauengefängnis besser zu organisieren. Mehrere Expertinnen waren daran beteiligt. Die meisten der Frauen waren wegen lächerlicher Delikte inhaftiert. Aber es gab auch Eifersuchtsdramen mit Todesfolge. Ich verbrachte damals viel Zeit in einem Überwachungsraum. Nahezu jeder Raum war mit einer Überwachungskamera ausgestattet. Auf den Monitoren ist weniger zu sehen, als man gemeinhin annimmt. Man muss all das hinzudenken, was nicht zu sehen ist. Eines Abends saß ich allein im Monitorraum. Ich dachte an den Gleichmut, mit dem die meisten der Frauen ihren tristen Alltag zu ertragen wussten. Tagein, tagaus, immer dasselbe. Türen wurden geöffnet, geschlossen, die Frauen wurden dahin und dorthin dirigiert, manchmal dürften sie Besucher empfangen, um sich dann wieder in ihrer Zelle zu finden. Für mich war das sehr langweilig. Plötzlich sah ich eine Gefangene, eine gutaussehende Frau von etwa vierzig Jahren, in ihrer Zelle. Sie hatte in einem Anfall von Eifersucht ihren Mann erstochen. Aber statt in einen Pyjama zu schlüpfen, Nachtruhe war angesagt, machte sie sich schön, so als würde sie einer Einladung folgen, ausgehen. Ein hübsches Kleid, gar nicht zu einem Gefängnis passend, Lidschatten, Lippenstift, Lackschuhe. Ohne jede Eile. Nachdem sie sich mehrfach in einem kleinen Spiegel betrachtet hatte, nahm sie ihren Lippenstift und zog an der Wand unter dem vergitterten Fenster, knapp über dem Boden, einen Kreis, etwa so groß, dass ein Erwachsener ohne große Mühe durchschlüpfen könnte. Es bedurfte nur eines leichten Drucks ihrer rechten Hand, und das bezeichnete Mauerstück fiel nach außen. Kaum war die Öffnung geschaffen, zwängte sich die Gefängnisdirektorin, eine Juristin, sie trug ein modisches Kostüm in einem dezenten Grauton, durch das Loch in die Zelle. Die Direktorin erhob sich von den Knien, klopfte sich den Staub ab, richtete Rock und Bluse, umarmte die Gefangene, die ihrerseits diese Umarmung leidenschaftlich erwiderte. Weitere Damen und Herren, alle bestens gekleidet, kamen durch die Maueröffnung gekrochen, eine richtige Festgesellschaft. Jeder der Gäste hatte ein großes Faltblatt bei sich. Kaum standen sie im Raum, klappte jeder das seine auseinander, trug seinen Teil bei zum Interieur, dessen eine heitere Festgesellschaft bedarf. Eines der Faltblätter erwies sich als Klavier. Kaum stand es im Raum, setzte sich einer der Gäste davor, öffnete den Deckel und begann zu spielen. Als letzter kroch der erstochene Ehemann durch das Loch. Die Gefangene, sich um ihre Gäste kümmernd, schenkte ihm keine besondere Aufmerksamkeit und begrüßte ihn einzig mit einem flüchtigen Luftküsschen. Als Gastgeberin ist man den Gästen verpflichtet, nicht dem Gatten, selbst wenn man ihn erstochen hat. Sein Hemd war immer noch blutverschmiert. Er trug dieselbe Kleidung wie an jenem Abend, als er in seinem Blut lag. Ihm kam die Rolle des Kellners zu, die er, wie ich bald sehen sollte, bestens beherrschte. Er las den Gästen ihre Wünsche geradezu von den Lippen, verhielt sich höflich, aber distanziert. Sein blutverschmiertes Hemd schien niemanden zu stören, ob er nun Bratenstücke auftrug oder Wein nachschenkte. Mir erschien das als Ausdruck einer gewissen Kultiviertheit, die es verlangt, über die Schwächen anderer hinwegzusehen, und sei es ein blutverschmiertes Hemd, das ganz und gar im Widerspruch zur weißen Serviette stand, mit der der Erstochene die Weinflasche umfasst hielt, damit ja kein Tropfen das saubere Tischtuch beschmutze. Selbst die Gefängnisdirektorin, deren Röckchen mir in diesem Augenblick doch etwas zu kurz geraten schien, erwies dem Erstochenen vornehmen Respekt. Nun, es wurde laut und lauter. Der Alkohol zeigte seine Wirkung. Schon lag die Direktorin, ohne Anstand, die Kleiderordnung missachtend, auf einer Couch, die einer der Besucher als Faltblatt mitgebracht hatte. Schließlich fiel auch der Erstochene aus seiner Rolle. Als das Glas einer der Damen in eine Terrine fiel, brachte er ihr kein sauberes, sondern wischte es mit seinem blutverschmierten Hemd ab. Andere schrie er an, er wolle nicht länger den Laufburschen spielen und sie sollten sich den Wein gefälligst selber holen. Die Gastgeberin nahm davon keine Notiz, mümmelte sie doch betrunken mit einem Herrn, womöglich einem Justizrat, unter einem der Tische und gab sich, wie auch andere, einer Schamlosigkeit hin, die zu beschreiben mein Anstand verbietet. Aber jetzt habe ich eine halbe Stunde geschrieben.“
„Diese Geschichte gefällt mir. Morgen werde ich dich bitten, damit fortzufahren. Ich werde dich natürlich bezahlen. Eine gute Geschichte sollte man nie zu Ende erzählen. Jetzt erzähl ich dir eine Geschichte. Ich war nie am Genfer See. Ich hatte nie etwas mit einer Se-lien, einer Pamela, nie etwas mit einer Rita, Peggy oder Pussy zu tun. Doch, mit einer Rita bin ich aufgewachsen. Aber in einer ganz anderen Welt. Ich habe gar keine Eltern. Ich bin kein Findelkind. Ich wurde nicht zur Adoption freigegeben. Ich bin ein Industrieprodukt. Meine Existenz verdankt sich einzig dem Umstand, dass die mir mitgegebenen Erbinformationen ein Geschäft versprachen. Ich wuchs unter Mädchen auf, unter vielen Mädchen. Aber keines dieser Mädchen war Tochter eines reichen Magnaten. Stattdessen war die Welt meiner Kindheit voll von Zurüstern, Maschinenobergefreiten, Badedienerinnen und anderem höchst ungewöhnlichem Personal. Ich musste als Kind bereits Höchstleistungen erbringen. Kannst du dir das vorstellen?“
Je länger ich erzählte, umso mehr begann ich zu schluchzen.
Irgendwann unterbrach mich Neurath:
„Du hast eine sehr üppige Phantasie. Diese Geschichte kaufe ich dir nicht ab.“

Erzähle ich von mir, so halten die meisten das, was ich sage, für das Produkt einer etwas überbordenden Phantasie. Der Bischof von Aleppo ist unzweifelhaft eine wichtige Figur in meinem Leben. Saß er etwa während der großen Feier nicht auf seinem Thron? Wippte er nicht mit seinen Beinen? Auch wenn ich mir der Bedeutung, die er für mein Leben hatte, erst später wirklich bewusst wurde, so war er doch schon lange zuvor ganz klar in meiner Erinnerung gewesen. Erwähnte ich ihn Neurath gegenüber, so konnte er scherzen, welche Märchenfigur mir jetzt wieder eingefallen sei. Ein Bischof von Aleppo sei ihm noch in keinem Märchen untergekommen. In einem Roman von Diderot[2] sei von einem Bischof von Aleppo die Rede. Die Figur werde im Roman nur zweimal beiläufig erwähnt, auch habe Diderot vor dreihundert Jahren gelebt, weshalb der von mir genannte Bischof von Aleppo, so es ihn überhaupt gebe, mit diesem nichts zu tun haben könne. Ich hätte Neurath meinen Pass zeigen können. Ich habe es nicht gemacht. Mein Nachname lautet „von Aleppo“. Ich habe mir diesen Namen nicht selbst ausgesucht. Dass ich diesen Namen trug, das erfuhr ich erst, als ich damals meinen auf dem Tisch liegenden Pass durchblätterte. Es war mein Pass. Mein Gesicht war darin zu sehen. Dass dieses Dokument einem ein Existenzrecht zusichert, die Existenz bestätigt, das wusste ich damals nicht. Und da ich den Pass nicht selbst gemacht habe, müssen andere, wer auch immer, von meiner Existenz überzeugt sein, letztlich um meine Geschichte wissen.
Aber ich kann mich selbst fragen, was ich denn nun wirklich erlebt habe und was als Produkt meiner Phantasie zu betrachten ist. Gab es die schwebenden Augen, oder habe ich sie nachträglich in die Vergangenheit gepixelt? Augäpfel in der Größe von Medizinbällen schweben zwischen den Bäumen des Parks. Gleich Luftballons lassen sie sich vom Wind treiben, steigen einmal höher, um dann wieder niederzusinken. Nie jedoch berühren sie das Gras, das Erdreich. Sie drehen sich einmal in diese, dann in jene Richtung. Suche ich, einen dieser Augäpfel zu erhaschen, entschlüpft dieser stets meinen Händen. Es ist, als triebe er ein Spiel mit mir, ein Spiel, das ich nicht gewinnen kann, ein Spiel, dem ich nicht gewachsen bin.[3] Mag es auch keinen Zweifel an der Existenz des Parks geben, das mir monatlich überwiesene Geld wie die vielen Narben an meinem Körper sind Beleg dafür, so erscheint mir dennoch manchmal alles höchst unwirklich. Und doch habe ich das Bild deutlich vor mir, obwohl ich nur zu gut weiß, dass es solche Augen nicht gab und sie sich einem bösen Traum verdanken, einem Traum, der sich in mein Wachsein gedrängt hat, nicht als Wahnvorstellung, sondern als Bild, das eine tiefe Empfindung zum Ausdruck bringt. Ist es nicht seltsam, dass mir Tränen kommen, wenn ich eine Geschichte erzähle, von der ich weiß, dass sie sich so nicht zugetragen haben kann, ich sie so nie erlebt habe. Da es wirkliche Tränen sind, muss das Erzählte mit mir zu tun haben. Das gilt selbst für Tränen, die ich manchmal, sehr selten, vergieße, erzählen mir andere eine Geschichte.
Es schwebten keine medizinballgroßen Augen gleich Luftballons zwischen den Bäumen. Und doch scheint mir dieses falsche Bild den Park treffender zu beschreiben als all das, was sich mit nüchternem Verstand sagen ließe, etwa: Laborantinnen sitzen an Arbeitstischen, in anderen Räumen werden Geweihten Embryonen entnommen, in wieder anderen Räumen diskutiert der Vorstand über Expansionsmöglichkeiten, während anderswo blaugekleidete Männer auf Traktoren über Rinderweiden fahren, sich eine Laborantin in einen jungen Arzt verliebt, einer aus dem Führungspersonal entlassen wird, weil er sich eine Unachtsamkeit zu Schulden kommen ließ, eines der Mädchen nachts verbotenerweise unter die Bettdecke eines anderen Mädchens schlüpft, ein unzufriedener Informatiker in der Absicht, damit Geld zu verdienen, Daten aus dem Zentralcomputer kopiert, ein Samenspender sich als verbraucht erweist, Autos in die Tiefgarage des Verwaltungsgebäudes fahren. All das ist denkbar und wird so oder so ähnlich der Fall sein. Es gibt Werbung des Unternehmens. Regelmäßig werden Bilanzzahlen veröffentlicht. Erfahrung kennt dagegen keinen Überblick. In Erinnerung bleibt anderes, oft genug höchst Unscheinbares, eine Tür, die ins Schloss fällt, ein Geruch, eine Duftmarke, ein Kopf mit schütterem Haar. Und doch muss ich, will ich Ordnung in mein Leben bringen, versuchen, soweit dies überhaupt möglich sein kann, alles in der Aufsicht zu betrachten, von einem Ballon aus, will ich die Gesamtmechanik verstehen, das viele, das ineinandergreift, das kleinste Tun und die weitreichendsten Entscheidungen. Aber je mehr ich in Erfahrung bringe, je genauer sich das Puzzle zusammenfügt, um so unwirklicher erscheint mir alles, je mehr sich meine Erinnerung belebt, umso unfähiger werde ich in meinem alltäglichen Leben.
Die Schwierigkeit, über all meine Erfahrungen zu sprechen, diese anderen verständlich zu machen, mag auch damit zu tun haben, dass ich mit niemandem in meinem heutigen Leben eine ähnliche Geschichte teile. Würde man jemanden jahrelang in ein dunkles Verließ sperren, ihn auf diese oder jene Art quälen und dann wieder in Freiheit setzen, es wäre ihm unmöglich darüber zu berichten, fänden sich nicht Menschen, die ähnliches erlebt hätten. Erfahrungen, die man mit niemandem teilt, lassen sich nicht erzählen. Es ist unmöglich, wie es unmöglich gewesen wäre, hätte es im Park einen Sprechtrichter gegeben, eine Dachrinne meinetwegen, die nach außen führte, all das, was ich und andere erlebten, Außenstehenden zu vermitteln. Und angenommen, ich hätte auf weißem Papier festgehalten, was mich beschäftigte, bedrängte, und hätte diese Notizen durch die Rinne nach draußen fallen lassen, niemand hätte die Zeichen zu deuten gewusst.[4] Hätte einer der Fußgänger, auf das am Boden liegende Papier aufmerksam geworden, den einen oder anderen Zettel aufgehoben, auseinandergefaltet, gelesen, er hätte diesen, da er die Botschaft nicht verstanden hätte, wieder achtlos weggeworfen und wäre seines Weges gegangen. Hätte es so eine Rinne gegeben, wir hätten ihr keine Beachtung geschenkt, da uns jede diesbezügliche Vorstellung fehlte. Man kann nur Menschen etwas mitteilen, von deren Leben man eine Ahnung hat. Und so wäre es auch mit dem wieder in die Freiheit gesetzten Gefangenen. Und gelänge es ihm zu berichten, so stellte sich doch die Frage, wie weit das Erlebte und das Erzählte auseinanderfallen. Wer auch immer über seine Vergangenheit spricht, täuscht sich und andere, zerstört und schafft sich selbst neu. Hätte der Gequälte ein Tagebuch geführt und läse er dieses nach Jahrzehnten wieder, er wäre erstaunt, wie sehr das Notierte vom Erinnerten abweicht. Und würde der Gefangene das, was sich nicht mitteilen lässt, in Sprache bringen, erzählen, es gelänge ihm dies nur, fänden sich jene, denen er erzählte, darin wieder. So würde seine Geschichte zur Geschichte anderer und am Ende strafte man ihn mit Verachtung.

Vergangenheiten gibt es viele. Eiszeiten. Die Eiszeit meiner Kindheit. Dagegen: Die große Eiszeit. Ich hätte auch als Wollhaarmammut geboren werden können, damals, als sich vorschiebende Gletscher Bergrücken abschliffen, Täler gruben. Einige hundert Meter oberhalb des Katzenlochs liegen heute noch Gletscherschliffe blank. Im Tal ist so etwas nicht zu sehen. Geröll, Kies und Sand wurden angeschwemmt. Wollte man den Grund erreichen, den glattgeschliffenen Fels, die Dauerspur, man müsste in die Tiefe graben, sehr tief, wie es bei manchen Kiesgruben der Fall ist. An den Wochenenden stehen die gelb lackierten Grubenfahrzeuge, die rot- und grünfarbenen Förderbänder und Sortieranlagen still. Kein Mensch befindet sich auf dem Gelände. An einem Sonntag kletterte ich über den Zaun und stieg in die Tiefe, sechsundzwanzig Stockwerke, auf einer Trasse, auf der sich an Wochentagen schwere Fahrzeuge bewegen. Die Wände der Grube fallen steil, zumeist senkrecht ab. Ununterbrochen ist das Kollern von Steinen, das Rieseln von Sand, das Aufschlagen von Steinen zu hören, all das vervielfacht durch das Echo gegenüberliegender Wände, besonders nach Frostnächten, wenn die Sonne herauskommt. Es ist laut und still zugleich. Umgebungsgeräusche, etwa der Lärm von Straßen, die nicht unweit von dieser Kiesgrube verlaufen, sind nicht mehr zu hören, nur hin und wieder ein Flugzeug oder ein Hubschrauber, der in niedriger Höhe die Grube überfliegt. Ganz unten angelangt, schien es mir, als hörte ich meinen Pulsschlag. Beklemmung überfiel mich, als ich mir vorstellte, dass es nur weniger Personen bedürfte, um hier eine große Menschenmenge gefangen zu halten. Die Stelle, an der die Trasse in die Tiefe führt, wäre leicht zu besetzen und abzuriegeln. Jedes Entkommen wäre unmöglich. Und versuchte ein Gefangener, die Wände hochzuklettern, er würde von herabfallenden Steinen erschlagen, auch könnte sich ein Stein aus der Wand lösen, der ihm sicheren Halt versprach. Ein wildes Stimmengewirr wäre zu hören, durch tausendfaches Echo ein einziges Brodeln, aus dem bestenfalls einzelne Schreie wissen ließen, dass wir es nicht mit einem einzigen Körper, sondern mit vielen Menschen zu tun haben, die Angst oder Schmerz empfinden. Etwas anderes wäre es, würden sie ihre Stimmen zu einem einzigen Klagegesang erheben, in dem jede einzelne Silbe, jeder noch so kleine Laut im selben Augenblick aus allen Mündern käme, als gäbe es da unten nur einen großen Mund. Dann stürzten die Kieswände ein. Ich musste an die antiken Steinbrüche von Syrakus denken, an die gefangenen Athener, für die es aus den Tiefen der Steinbrüche kein Entrinnen gab, an ihren Hunger und Durst, an den Gestank, der sich verbreitete, wurden doch die vielen, die an ihren Wunden oder Hungers starben, nur übereinandergeschichtet.[5] Es sollen aber nicht wenige der Athener überlebt haben, da sie die Dramen von Aischylos, Sophokles oder Euripides zu rezitieren wussten. An solches dachte ich, als ich ganz unten in der Kiesgrube stand. Vergeblich hatte ich gehofft, in der Tiefe auf den Gletscherschliff zu stoßen, auf blank geschliffenes Gestein. Immer noch bewegte ich mich auf Geröll und Kies.

Vergangenheit und Gegenwart fallen auseinander. Aber auch das Gleichzeitige, das Nebeneinander, kennt zahllose Brüche. Den Mädchen, die im Park aufwachsen, fehlen Vorstellungen, was sonst noch geschieht, selbst in nächster Nähe, womöglich nur einige hundert Meter entfernt. Ich muss immer wieder daran denken. Es ist September, zehn Uhr abends. Das Flutlicht am Fußballplatz erlischt. Kaum ist es dunkel, da beginnt ein Hirsch in der Nähe laut zu röhren. Vom Kirchturm ist der Stundenschlag zu hören, der sich im Echo der anderen Talseite verdoppelt, aus dem Tal ein Motorrad, dessen Geräusch anschwillt und dann wieder verebbt. Die Kirchturmuhr schlägt völlig mechanisch. Und würde das Uhrwerk nie beschädigt, würden die Glocken nicht abgenützt, fiele der Strom nie aus, es würde bis in alle Ewigkeit zu jeder vollen Stunde und zu jeder vollen Viertelstunde schlagen. Der Hirsch seinerseits, mag sein Röhren auch festgelegt sein, reagiert. Wird er durch ein ungewohntes Geräusch – an das Schlagen der Kirchturmuhr hat er sich längst gewöhnt – irritiert, so unterbricht er sein Röhren, hält inne. Er nimmt also zur Kenntnis, dass etwas existiert. Das verbindet uns mit dem Hirsch wie mit allen anderen Tieren. Aber im Gegensatz zu uns hat der Hirsch weder eine Ahnung vom Nichts noch vom Unendlichen, was eben im Glockenschlag der Kirchturmuhr anklingt. Nur der Kirchturm steht still. Wie der Motorradfahrer ist auch der Hirsch in Bewegung. Der Hirsch weiß nicht, eine Erholungsfrist wird man ihm noch gönnen, muss er doch wieder zu Kräften kommen, Fleisch und Fett ansetzen, er weiß nicht, dass er sich spätestens in sechs Wochen, noch ehe der Knall in seine Ohren dringt, aufbäumen wird, dass seine Beine einknicken werden und er röchelnd im Gras liegen wird. Der Jäger wird ihm einen Fichtenzweig ins Maul stecken. Auch davon hat er keine Ahnung, so wenig wie von all dem, was darauf folgen wird. Die Kirchturmuhr wird schlagen, und alle, die sie hören, werden ihrer Wege gehen und nicht an den Tod denken. Und vielleicht wird aus dem Tal ein Motorrad zu hören sein. All das scheint nichts miteinander zu tun zu haben, und doch ist es Ausdruck einer einzigen Bewegung.

Ich räkle mich, mit einem Bikini bekleidet, auf einer Balustrade im Gewächshaus des Gartens. Durch große Glasscheiben fällt warmes Licht. Im Blätterwerk von Palmen, Blutstropfen- und Maiglöckchenbäumen ist das Gekreisch bunter Papageien zu hören. Ich blicke auf einen Tisch hinunter, an dem Neurath wie ein Schuljunge sitzt, um im Auftrag meines Vaters, des Bischofs von Aleppo, alte Handschriften, unter ihnen die Geschichte des Großkönigs Šuppiluliuma[6] und seiner Gemahlin Hintiš, zu kopieren. Ein Tintenklecks, und die Welt bräche zusammen. Die ganze Arbeit wäre verdorben. Da es mir unerträglich ist, Neurath sich so plagen zu sehen, führe ich ihm die Hand, die Feder. Die Arbeit geht gut vonstatten, unter all den Gewächsen, die an vielen Schnittstellen endlos Tränen vergießen, ist doch mein Vater, der Bischof von Aleppo, mit allerlei Kreuzungs- und Pfropfexperimenten beschäftigt, macht es ihm Vergnügen, einem Fettblattgewächs ein Mäuseherz aufzupfropfen, nur manchmal abgelenkt durch das Geplapper der Papageien. Neurath, er ist höchstens fünfzehn Jahre alt, ein Schuljunge eben, scheint meine Handführung zu gefallen. Genau in dem Augenblick, in dem sich seine Hand der meinen entzieht, um schüchtern, ohne mich anzublicken, nach meinen Hüften zu fassen, bricht mein Vater, der Bischof von Aleppo, durch den Blätterwald. Er erscheint mir riesig. Er trägt einen bodenlangen, blauen, mit goldenen Sternen geschmückten Samtmantel, auf dem Kopf eine weiße Bäckermütze. Neurath schrickt zusammen, hält sich schützend die Hände vor den Kopf. Mein Vater, der Bischof von Aleppo, denkt gar nicht daran, ihn zu schlagen. Er löst Neurath in Luft auf. In ernstem Ton, zu mir gewandt: „Trau keinem Kopisten. Du bist mir die liebste meiner Töchter. Trau diesem Burschen nicht. Ich kenne den Schelm. Er könnte Zurüster sein. Er treibt sich auf dem Schlachtfeld herum. Hörst du nicht den Kanonenlärm, die Einschläge der Raketen. Trau ihm nicht. Er gibt nur vor, ein begabter Kopist zu sein. Er möchte die Augen Sterbender sehen, um sie richtig auf die Bühne zu bringen.“
Wer immer sagt, er habe einen Traum notiert, ist ein Lügner.
Als mich die Stimme des Bischofs von Aleppo aus dem Schlaf riss, griff ich nach dem bereitgelegten Diktaphon. Manches hatte ich klar vor Augen. Von anderen Teilen des Traumes blieben nur Bruchstücke, Fetzen ... das Auto von einem Geschoss getroffen ... am Bein verletzt ... per Anhalter oder zu Fuß ... die Aufführung dirigieren ... schmerzverzerrte Gesichter auf die Bühne bringen ... die Gesichter der To... Hintiš ... erdrosselt ...[7]
Neurath als Schuljunge. Gut getroffen. Manchmal fördern Träume etwas zutage, was wir in Wachzuständen so nicht erkennen. Dagegen: Was für eine seltsame Vorstellung, im Bischof von Aleppo meinen Vater zu sehen.

Irgendwann schien mir Neurath meine Geschichte zu glauben. Ich erzählte ihm oft von meinem Aufwachsen und Leben im Park, vom Fest der zusammenprallenden Steine, vom Alltag einer Embryonenlieferantin. Diesbezüglich zeigte er großes Interesse, mehr noch, er ermunterte mich, meine Erfahrungen niederzuschreiben. Eine einzigartige Welt, müsse ich auch manche Verletzung erlebt haben. Neurath las sich durch ganze Stapel von Büchern, in denen Frauen, etwa in Nonnenklöstern, abgeschirmt von der Außenwelt leben. Er las neben Romanen vor allem autobiographische Zeugnisse, Berichte von Nonnen, die, aus welchen Gründen auch immer, aus Klöstern vertrieben oder diese aus eigenem Antrieb verlassen hatten. Da ich mich selbst mit ähnlichem beschäftigte, empfand ich das als Ausdruck einer gewissen Verbundenheit. Aber nun, da er sich mit meiner Geschichte beschäftigte, konnte ich oft gereizt reagieren, einwerfen, er möge sich doch der Rinderhaltung widmen. Da fände er auch eine Frauenwelt, Fortpflanzung ohne männliches Gegenstück.
Längere Zeit drehten sich all seine Interessen nur noch um Yoshiwara, den ehemaligen Bordellbezirk von Tokio. Selbst mitten in der Nacht, wenn ich wach lag und meinte, er würde schlafen, konnte er plötzlich von Kamuros und Shinzōs sprechen. Ich tat das lange als ein etwas seltsames Interesse an sexuellen Dingen ab, dokumentierte er doch jede Abbildung, die er diesbezüglich fand. Dabei beschäftigte ihn etwas ganz anderes. Ich hätte es merken müssen, etwa dann, zeigte er mir eine Serie von Abbildungen, auf denen Kurtisanen beim Geschlechtsverkehr zu sehen sind: „Schau dir doch einmal die Kopfstellung an, die Haartracht mit den vielen Kämmen und Nadeln. Ist doch eine völlig unnatürliche Haltung. Auch wenn nichts diesbezügliches zu sehen ist, so denke ich doch immer wieder an Lagerungsapparaturen, mit denen die Frauen in solche Stellungen gebracht werden.“ Ich hätte hellhörig werden müssen, als Neurath meinte: „Auch das Gewaltsystem von Yoshiwara kannte eine Grauzone.[8] Nur dank seiner Opfer konnte es so lange funktionieren, dank eines Systems von Privilegien und der ständigen Drohung, als billige Dirne zwischen 12 und 16 Uhr, zwischen 18 und 22 Uhr in einem der Straße zugewandten Käfig sitzen zu müssen, ohne Möglichkeit, hässliche oder betrunkene Freier ablehnen zu können, oder noch schlimmer, zum Säubern der Abortkübel oder anderer schmutziger Arbeiten verdammt zu werden. Jeder Bordellwirt hatte seine Yarite. Man mag sich darunter eine Wirtschafterin vorstellen. Obwohl die Yarite die ganze Gewalt von Yoshiwara am eigenen Körper erlebt hatte, gab sie, einmal in diese Position gelangt, die Gewalt weiter. Sie entschied, welche der Frauen sich in den Käfig zu setzen hatten, konnte drohen, unwillige Kurtisanen schlagen, ihnen die Nahrung entziehen oder sie härteren Züchtigungen ausliefern. Nahe des Kurtisanentempels Nagekomidera, wörtlich übersetzt ‚Wegwerf-Tempel’, sollen auf einem kleinen Friedhof etwa 20.000 Dirnen und Kurtisanen aus Yoshiwara, die hier als lästiger Abfall billig entsorgt wurden, anonym bestattet sein. Die meisten der Frauen starben in jungen Jahren, sei es an den Folgen einer Krankheit oder an Erschöpfung. Nicht wenige nahmen sich das Leben, andere wurden schlichtweg umgebracht, um ständig in Erinnerung zu halten, dass das Leben einer Kurtisane oder Dirne nicht viel zählt. Die Geschichte ist komplizierter, als ich es erzähle. Du musst dir ein straff gestaffeltes System vorstellen, in dem alle, selbst die einfachsten Dirnen, die an unterster Stelle standen und wie Putzlappen behandelt wurden, mitspielten. Es ist nur ein einziger Aufstand aus dem Jahr 1845 dokumentiert, der sich gegen einen Bordellwirt richtete. Ausgelöst wurde er durch den Tod einer Kurtisane, die an den Folgen der Folter gestorben war. Mädchen im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren steckten das Haus in Brand. Sieht man von verurteilten Ehebrecherinnen ab, die man zur Strafe eine gewisse Zeit nach Yoshiwara verbannte, wurden die meisten der Frauen in früher Kindheit rekrutiert. Sie kannten keine andere Welt. All das, was sie mit ihrer Herkunft verband, wurde ihnen ausgetrieben. Kamen sie dort an, erhielten sie einen anderen Namen. Ihren Heimatdialekt hatten sie sich abzugewöhnen. Sie lernten keine andere Welt kennen.“
Natürlich musste ich an den Park denken. Nein, wir wurden nicht an Händen und Füßen gefesselt nackt an einen Balken gehängt und durchgeprügelt, zeigten wir uns unwillig. Niemand stopfte uns ein Tuch in den Mund, um unsere Schreie unhörbar zu machen. Nein, wir erhielten keine Messerstiche ins Gesäß oder die Schenkel, wurden nicht nackt gefesselt, mit Wasser übergossen, damit sich das Hanfseil zusammenziehe und wir vor Schmerzen heulen und wimmern. Im Gegensatz zu den Bordellbetreibern Yoshiwaras weiß das Unternehmen mit dem verfügbaren Material schonender umzugehen. Aber auch der Park kannte ein System, in dem alle, ohne dass sie sich dessen wirklich bewusst waren, mitspielten, eine Stufenleiter, die nach oben wie nach unten führte. War nicht auch ich von der Angst getrieben, die einmal erreichte Stellung wieder zu verlieren, im Nichts zu verschwinden, zu einer Dienerin abgestuft zu werden, zu einer Person, der selbst das Sprechen untersagt ist, zu einem Schattenwesen, das die niedrigsten Arbeiten zu verrichten hat, zu einer Dienerin, der, würde sie es wagen, auch nur ein Wort zu sagen, niemand antworten würde, weil sie als Dienerin als geächtet gilt? Wie wir alle hatten die Geächteten die große Feier erlebt, waren im Programm gewesen. Was hatte sie zu Dienerinnen gemacht? Womöglich hatten ihre Eierstöcke verrückt gespielt. Ich weiß es nicht, wie ich auch nicht weiß, wer darüber entschied. Eine Computerprogramm? Das REGISTER? Die Rangordnung unter den Mädchen und Frauen wurde stets als gegeben betrachtet. Aber jede von uns, ob Mädchen oder Frau, fürchtete, die einmal erreichte Stellung wieder zu verlieren und in die Tiefen des Daseins in einer Welt zu fallen, deren Ordnung wir als gottgegeben wahrnahmen, die aber mit Gott oder einer wie immer gearteten natürlichen Ordnung nicht das Geringste zu tun hatte. An oberster Stelle stand die Große Mutter, die wie hochrangige Kurtisanen in Yoshiwara stets in Begleitung ihres Hofstaates einherschritt, darunter einige Mädchen, herausgeputzt wie Hofpagen, unnahbar. Nein, sie bewegte sich nicht auf hohen Getas, so dass sie der Stütze anderer bedurfte hätte, auch drohte sie nicht vom Gewicht ihrer Kleidung erdrückt zu werden.[9] Das wäre gegen die Regeln des Parks gewesen. Und doch war sie unnahbar. Allein ihr Auftauchen ließ uns Kinder erstarren. Selbst als ich im Programm war, im Garten lebte, und die Große Mutter, was manchmal vorkam, gemeinsam mit uns aß, fürchtete ich mich vor ihr, mochte sie auch manch freundliches Wort für mich haben, mich hinwegtrösten über kleine Zweifel und Nöte. Noch heute frage ich mich, wie die Große Mutter zu ihrer Machtfülle kam. Sie wurde nicht von den Geweihten gewählt, ausgewählt ja, aber nicht gewählt. Sie war für das Funktionieren des Parks verantwortlich und hatte als einzige mit dem Komplex zu tun, sei es, dass sie die von den Müttern an sie herangetragenen Wünsche zum Ausdruck brachte, sei es, dass sie Beschlüsse des Komplexes umzusetzen trachtete. Ähnliches ließe sich auch für die Mütter sagen, mochten sie mit dem Komplex auch nichts zu tun haben. Nur die erfolgreichsten unter den Geweihten konnten zu einer Mutter aufsteigen. Unter ihnen standen die Zofen, gefolgt von den Badedienerinnen. An unterster Stelle standen die Stummen, die einfachste Arbeiten zu verrichten hatten, mit uns Mädchen nicht sprechen durften, die wir stets so wahrnahmen, als seien sie tatsächlich stumm.
Neuraths Beschäftigung mit Yoshiwara traf mich. Ich konnte mir das Schicksal der Kamuros gut vorstellen, war ich doch nicht viel anders aufgewachsen. Mochte es auch keinen Patron gegeben haben, der furchtbar böse sein konnte, dessen Nähe wir aber trotzdem gesucht hätten, so als sei er uns Vater, dem wir dankbar gewesen wären, hätte er uns die Reste eines üppigen Mahls hingeworfen, so wie man einen Knochen Hunden hinwirft, so wurden doch auch wir zu einem einzigen Zweck gehalten und aufgezogen, als Investition betrachtet, die sich rechnen sollte. Wie Kamuros wuchsen auch wir in einer Welt auf, die mit dem Leben normaler Menschen nichts zu tun hatte, wie sie wurden wir auf eine einzige Aufgabe vorbereitet. Auch unser Leben drehte sich früh um das Geschlechtliche. Oft genug wurden wir von Zofen vor den Augen anderer Mädchen untersucht. In Unterrichtsspielen untersuchten größere Mädchen unter Anleitung kleinere. Wie oft spielten wir all das durch, das Eintreten, die Verbeugung, das Platz nehmen auf dem Stuhl, das Auflegen der Beine, das Spreizen der Beine, bis es uns zur Selbstverständlichkeit wurde, ruhig zu verharren, wurde das Spekulum eingeführt. Ich habe es aus beiden Perspektiven in Erinnerung. Unter den Mädchen galt ich als besonders strenge Lehrerin, und ich erinnere mich (heute schäme ich mich dafür), meine Gerte öfter als andere benutzt zu haben. Auch Kamuros kannten, in einem Alter, in dem sich Brüste gerade einmal abzuzeichnen beginnen, so etwas wie eine große Feier, eine erste Begattung. Treffend die Bezeichnung dieses Festes: Mizuage, was das Löschen einer Schiffsladung meint, wie Shinzō, so nannte man die Novizin, neues Schiff bedeutete. Je mehr Neurath von Yoshiwara sprach, umso mehr musste ich an mein Leben, an den Park in seiner ganzen Abgründigkeit denken. Ich sagte nichts, fürchtete ich doch, er würde meine Erfahrungen erneut als Posse abtun. Ich hätte gern mit ihm über all das gesprochen, die Parallelen zwischen meiner Geschichte und dem Schicksal der Kamuros und Shinzōs gefunden oder all die Unterschiede und Abweichungen genauer betrachtet. Ich konnte es nicht. Er las mir ein Gedicht einer Kurtisane aus dem zwölften Jahrhundert vor:

„Bin ich denn zum Tändeln geboren?
Bin ich zu eitlem Scherzen geboren?
Hör ich das Lachen spielender Kinder,
Durchschauert es, ach, mich noch immer.“

Ich kann das Gedicht auswendig, sage es mir oft vor. Auch mich durchschauert es, ach, noch immer, hör ich das Lachen spielender Kinder. Hätte ich davon gesprochen, Neurath hätte es wohl lächerlich gefunden und gemeint, es sei doch nur ein Gedicht aus längst vergangenen Tagen. Dabei fühlte ich mich der Frau, die ihre Empfindungen vor so langer Zeit in wenigen Zeilen zum Ausdruck gebracht hat, viel näher als etwa Neurath oder nahezu allen Menschen, mit denen ich unmittelbar zu tun habe, die in der selben Zeit leben wie ich, die sich ähnlich kleiden, viele Vorlieben mit mir teilen oder die Welt ähnlich erklären mögen. Ich musste an jene Dirnen denken, denen es gelang, Yoshiwara zu verlassen. Ihre Sprache unterschied sich nicht wesentlich von jener, die außerhalb gesprochen wurde, und doch war sie ihnen wie ein Brandmal eingeschrieben, welches sich nie tilgen ließ. All das, was sie erlebt hatten, was ihnen angetan wurde, das konnten sie nie wirklich mitteilen, so als hätten sie die Sprache der Stare gelernt und fänden sich plötzlich unter Amseln. Ich fühle mich auch, als wäre ich unter Staren aufgewachsen und fände mich nun unter Amseln.

Mir träumte, Neurath hätte einen Roman über mich geschrieben. Er las mir einige Seiten vor. Manche Blätter gab er mir zu lesen. Ich sei nicht nur Opfer. Auch das Mädchen, das die Maisgöttin spiele, besteige aus eigenem Antrieb das Bindewerk, lasse sich ehren wie die Göttin, wohl wissend, dass dies ihren Tod bedeute. Aus dem Schlaf aufgeschreckt dachte ich mir, nun werde ich schon wieder von jemandem erfunden, als hätte es nicht gereicht, von einem Konzern ins Leben gesetzt worden zu sein, als würde es nicht reichen, mich ständig selbst neu zu erfinden. Es würde mich nicht wundern, ließe mich Neurath als aufgedunsene Frauenleiche in einem Kanal enden, ein Tatütata wird dann nicht fehlen, alles schlechtesten Romanen entnommen. Aber da gäbe es nichts mehr zu retten. Vielleicht ließe mich Neurath von einem Stier zu Tode trampeln, machte er mich zu einer Pasiphaë, nur dass er mir den schützenden Apparat verweigern würde, den Daedalus ersann. Jedes Romanprojekt verdankt sich dem Tod. Neurath muss sich meinen Tod ausdenken. Dass dieser mehr mit ihm als mit mir zu tun haben wird, ist ihm wohl nicht bewusst. In einem gewissen Sinn muss er sich selbst ermorden. Es geht nicht anders. Kein Weg führt daran vorbei. Gelänge es ihm, tatsächlich einen Roman zu schreiben, er ginge aus dem Projekt als anderer Mensch hervor.
Ich erzählte Neurath von meinem Traum. Er fand ihn unterhaltsam.
„Du würdest sehr zur Geltung kommen, spieltest du die Maisgöttin, denk an all die Pfefferschoten, an die Kürbisse, an die Blüten und Federn, mit denen man dich schmückte. Huldigungen ohne Ende.“
„Du kennst das Ende. Der Zurüster ...“
„Zurüster?“
„Ja, der Zurüster, der Priester würde mir das Herz aus dem Leib reißen, mir die Haut abziehen und sich diese überstreifen[10] ... Nein, du siehst mich eher als Wasserleiche davontreiben.“
„Die Schöne aus der Seine könnte wiederauferstehen ...“[11]



Meine Erfahrungen mit Männern, Paul ausgenommen, waren ernüchternd. Selbst dann, wenn ich Lust hatte, mit einem Mann zu schlafen, die geringste Erregung schwand, sobald ich nackt dalag. Mit den Gedanken in die Ferne schweifen, ganz weit weg, während ich Stöße gegen meinen Unterleib spüre, keuchende Atemgeräusche in meine Ohren dringen, Hände meinen Hals umklammern, als wollten sie mich zum Ersticken, zum Verstummen bringen, auf mir ein drückendes, mich erdrückendes Gewicht ruht. Ich kann mich an kaum eines der Gesichter erinnern. Sie verschwimmen vor meinen Augen. Es ist mir, als hätten sich all ihre Gesichter übereinandergelegt. Erinnern kann ich mich vor allem an Orte. Das gäbe einen seltsamen Stadtplan, wäre er nach meinen Begegnungen mit Männern organisiert. Hotels an Ausfallstraßen, Brachen, Parkplätze in Industriegebieten, auch Rinderweiden. Ich kann mich an das erinnern, was manche von mir wollten, ich mich aber sträubte zu tun. Ich knie mich nicht vor einem Mann nieder, um mit meinem Mund seinen Schwanz aufzunehmen. Erinnern kann ich mich an Kleidung oder Körperauffälligkeiten. Ist es nicht seltsam, dass oft genug nur Nebensächlichkeiten haftenbleiben, ein unpassendes Sakko, ein dummer Scherz, die Art und Weise, wie jemand eine Autotür zuschlagen lässt. Das Wesentliche verdichtet sich immer in Nebensächlichem, wird so zum Ausdruck gebracht. Selbst jene, die ich nett fand, sind nahezu vollständig meiner Erinnerung entfallen. Ich vermisse keinen von ihnen. Es gab stets einen Punkt, an dem ich alles über mich ergehen erließ. Oft genug, ich konnte es einfach nicht unterdrücken, brach ich in Tränen aus, drehte sich ein Mann, kaum hatte er sein Geschäft erledigt, zur Seite. Erst stilles Weinen, dann krampfartiges Heulen. Mein Geschlecht verweigerte zumeist jede Sekretausschüttung, mein Körper mir jedes Lustgefühl. Dafür liefen umso mehr Tränen. Eine Verwirrung meiner Organe. Meine Tränen trieben über kurz oder lang jeden Mann in die Flucht.

Wie wäre es, würde ich heute Paul wiederbegegnen, zufällig, vielleicht in einem Museum, womöglich beim Betrachten eines Gemäldes, das die Heilige Agathe zeigt, in der Fußgängerzone einer x-beliebigen Stadt. Warum nicht im Katzenloch? Ich wünschte es mir oft, mehr noch, ich habe mich lange nach ihm gesehnt. Aber gleichzeitig fürchte ich mich davor. Vermutlich hätten wir uns gar nichts mehr zu sagen. Wir wären uns fremd geworden. Wir sind keine Kinder mehr. Kinder waren wir zwar damals auch nicht, aber noch sehr unverdorben, unreif. All die Bilder, die ich mir im Nachhinein von Paul gemacht habe, würden zerbrechen. Es ließe sich nicht mehr dort anknüpfen, wo wir uns aus den Augen verloren haben. Begegnete ich ihm wieder, ich würde all der Vorstellungen beraubt, die ich mit Paul verbinde, der Hoffnung, irgendwo auf der Welt, irgendwo in irgendeiner amorphen, anonymen Masse gäbe es ihn, den ich liebte und den ich vermisse. Aber was hätten wir uns heute zu sagen? Es könnte nur in einer Enttäuschung enden. Und schließlich sich mir der Verdacht aufdrängen, dass eben diese Wiederbegegnung alles andere als zufällig sei und es sich nur um ein vom Park arrangiertes Zusammentreffen handeln könne, um mich oder uns beide einem weiteren Experiment zu unterwerfen. Nach Paul dauerte es lange, bis ich mich wieder mit einem Mann einließ. Lange empfand ich das als Verrat an Paul, vor allem damals, als ich noch hoffte, ihn wiederzutreffen. Gab ich mich später Männern hin, ließ ich mich nehmen, redete ich mir ein, das habe mit Paul nicht das Geringste zu tun, ginge es doch nur um die Befriedigung eines körperlichen Bedürfnisses. Tatsächlich konnte ich mich nie wirklich hingeben, mich auf keine Beziehung einlassen. Ich ertrug keine Nähe. Ich ertrage auch heute noch keine wirkliche Nähe von Männern.

Eine Erinnerung unter vielen: Meine Beine sind hochgelegt. Durch die weißen Jalousien fällt mattes Licht. Mein Blick haftet an der Decke des Raumes, an einem großen Lichtschirm, der sich wie eine Krake drohend über mich beugt. Hunderte kleiner Lichtaugen. Ich sehe es nicht, aber ich weiß es. Da findet sich nicht eine Stelle meines Unterleibes, die noch einen Schatten würfe. Dank eines angebrachten Lamellengitters werde ich nicht geblendet. Ein Zurüster ist mit meinen inneren Organen beschäftigt. Ich habe es mir angewöhnt, meinen Unterleib als nicht zu meinem Körper gehörend zu betrachten. Es ist kein Vergnügen, werden die Eierstöcke untersucht. Wird gedrückt, getastet. Kalter Stahl. Alles andere als ein angenehmes Gefühl. Ich soll ruhig liegen. Der Zurüster ist von beachtlicher Größe. Er trägt weißes Haar. Seine Haut ist von der Sonne gebräunt. Die Haut eines älteren Mannes, dennoch nahezu faltenlos. Ich betrachte sein Gesicht. In der Seitentasche seines weißen Mantels steckt ein Stift mit der Aufschrift: Clark Air Force Base. Da er sich nach vorne beugt, kann ich den Haaransatz über seiner Stirn sehen. Während er geschäftig und beschäftigt ist, das eine nach dem anderen macht, habe ich reglos zu verharren. Abverlangte Reglosigkeit kostet Kraft. Man liegt nicht einfach da. Meine Bauchmuskulatur ist angespannt, mein Becken verkrampft sich. Daran gewöhnt, suche ich mich anderen Gedanken hinzugeben, an Paul zu denken, an die Rinderweiden, an unser nächstes Treffen. Donnerstag, 18 Uhr, nahe der Tränke, dort, wo einige Silageballen im Gras liegen. Ich stelle mir den Weg vor, wie lange ich brauchen würde, um hinzugelangen. Keinesfalls darf ich zu spät kommen. Versäumte ich ihn, es würde lange dauern, bis ich ihn wiedersehen würde. Ich kann Paul keine Briefe schreiben, ihn nicht anrufen. Bestenfalls wird er sich an einem anderen Tag um dieselbe Uhrzeit, in der Hoffnung, mich zu treffen, dort einfinden. Er könnte mir aber auch, wie er es öfters gemacht hat, unter einem Stein, der uns vertraut ist, eine Botschaft hinterlegen. Auch Paul ist an ein Reglement gebunden. Als mich eine Bewegung des Zurüsters vor Schmerzen zusammenfahren lässt, fasse ich mit meiner Linken nach seinem Arm. Ich schäme mich. Es ist mir peinlich. Plötzlich, zum ersten Mal, werde ich mir meiner Nacktheit bewusst. Der Zurüster blickt mich an, so als hätte ich ihn enttäuscht. Er reagiert verärgert. Ich fühle mich schrecklich. Ich hätte mich anders benehmen sollen. Ich sollte dankbar sein.

Neurath hatte seltsamste Einfälle. So sollte ich mich in seiner Anwesenheit einem anderen hingeben, mich ficken lassen. Auf dem Rücken, auf einem Tisch liegend. Von diesem anderen hatte er ziemlich genaue Vorstellungen. Schwarze Hautfarbe, muskulöser Typ. Jung sollte er sein, einen schönen, makellosen Körper haben. Seine dunkle Haut sollte sich von meiner hellen, nahezu weißen Haut abheben. Vor allem sollte dieser Dritte über einen beachtlichen Schwanz verfügen. Taubstumm sollte er sein, sich nur mittels Gebärdensprache verständigen können, mit schnellen Gesten von Händen und Fingern, da und dorthin deutend, oft genug auf den Körper des Sprachlosen, als würden sie ein Puppenspiel aufführen. Neurath dachte sich neben dem Tisch stehend, seine linke Hand, meinen Oberschenkel stützend, nahe an meinem Geschlecht. Mein nacktes rechtes Bein sollte auf seiner rechten Schulter aufliegen. Neurath als passiver Zuschauer, ja, passiv, leidend wollte er sein, hätte es ihm doch weh getan, hätte ich mich in seiner Anwesenheit einem anderen hingegeben und dabei Lustgefühle empfunden. Jeder Stoß hätte sich ihm mitgeteilt. Er als empfangendes Organ (da klingt der Gebärneid an), das sich auf mich einstellen sollte wie der Receiver des Telephons zum Teller.[12] Angerichtet auf einem Teller. Ein lebendiger Braten. Das Rot würde sich schon zeigen, das Blut. Ich musste an gynäkologische Stühle denken, an andere Lagerungsapparaturen, mit deren Hilfe Körper in Position gebracht, fixiert werden, auch an den Altar. Es wäre ein seltsamer Apparat, böte sich mir Neurath als Fußstütze an, Fußstütze und Auge in einem. Auf mich hätte dieses Auge heruntergeschaut. Ich hatte keine Lust auf solche Spielchen, auf Szenen, die er sich ausdachte, darauf, das zu wiederholen, was ich früher, wenn auch in anderer Besetzung und zu anderen Zwecken, erlebt hatte. Wo auch einen taubstummen Schwarzen hernehmen? Dachte er an einen Katalog? Zweifellos finden sich so geformte Männer im Angebot des Parks, mit Sicherheit aber kein Taubstummer.

Einmal war ich mit Neurath in jener Gegend unterwegs, in der Musil, es war während des Ersten Weltkrieges, ein Verhältnis mit einer jungen Bäuerin, die er Grigia nannte, Grigia mit langem I und verhauchtem Dscha, benannt nach ihrer Kuh, die sie Grigia, die Graue, rief. Lag Musil mit Grigia, die mit wirklichem Namen Magdalena Lenzi hieß, im Heu, schloss sie ihre Augen, setzte sich eine Schutzmaske auf, lag reglos da, wie ein Käfer, der nicht gefressen werden will. Und hatte Grigia alles über sich ergehen lassen, scharrte sie in Ermangelung von Strumpfbändern, die sich zurechtzupfen hätten lassen, mit ihren Füßen ein bisschen Winterheu zusammen, um wieder alles in Ordnung zu bringen.[13] Es war sinnlos, nach dem Heustall zu suchen, in dem sich Musil und Grigia trafen. Und hätten wir ihn gefunden, wir hätten nur eine leere Hülle vor uns gehabt. Es gibt die Welt der Grigia nicht mehr. Auf dem Steinweg ist kein Poltern schwerer Schuhe mehr zu hören. Es gibt keinen Steinweg mehr, bestenfalls Andeutungen. Es wird kein frisches Heu mehr eingetragen, welches einladen könnte, sich zu lieben, sich jemandem hinzugeben, falschen Hoffnungen.
Es war Zeit zum Abendessen, im Speisesaal eines Kurhotels, zwischen Menschen, die so gesund sein wollten, dass es beinahe ans Krankhafte grenzte. Als ich so an einem der Tische saß, musste ich an Freud denken, der sich mehrere Tage in diesem Hotel aufgehalten haben soll, wohl während jener Zeit, in der er euphorisch seine Maschine beschrieb: „In einer fleißigen Nacht der verflossenen Woche, bei jenem Grad von Schmerzbelastung ...“[14] Dieselben Sessel, dasselbe schwere silberne Besteck. Einzig die Matratzen in den Zimmern waren erneuert worden, freilich ohne sich die Mühe zu machen, die alten zu entfernen. Man hatte die neuen Matratzen einfach auf die durchgelegenen, abgewetzten alten Matratzen gelegt. Mochten auch alle Heuställe, waren sie nicht bereits in sich zusammengefallen, ihre Funktion verloren haben, in diesem Kurhotel schien die Zeit stillzustehen, zumindest bei oberflächlicher Betrachtung. Die zumeist älteren Gäste waren sich in ihren steifen Gesten einig, taten so, als träfe sich hier die große Welt. Dabei gab es diese Welt nicht mehr und das Hotel war heruntergekommen. Der Koch spielte den Kellner, und war es nötig, dann trat er als Diener auf oder als Bademeister, freilich stets in der passenden Kleidung. Überhaupt wurde in diesem Hotel nur Kurhotel gespielt, für mich nicht ohne Unterhaltungswert.
Ich saß allein an einem der Tische. Neurath kann nicht zu Tisch gehen, ohne sich vorher Hände und Gesicht zu waschen, seine Fingernägel einer Kontrolle zu unterziehen, sich ein frisches Hemd anzuziehen, in einen Anzug zu schlüpfen und die Haare zu kämmen. Mit Stil hat dies wenig zu tun. Eher Ausdruck einer gewissen Zwanghaftigkeit. Endlich kam er und nahm mir gegenüber Platz. In diesem Augenblick ließ er mich an Anthony Perkins denken. Ich dachte mir, wo bleibt da die Mutter, von der er mir nie etwas erzählt hatte. Er wird wohl mit ihr früher in diesem Hotel gewesen sein. Er hatte dieses Hotel, das er bestens zu kennen schien, ausgewählt. Wurde er nicht vom Kellner, der auch als Koch oder Bademeister auftrat, herzlichst begrüßt? Erwachsene neigen dazu, Orte ihrer Kindheit aufzusuchen. Hotels, Krankenhäuser, Badeseen. Manche fahren jährlich nach Rimini ans Meer, nur deshalb, weil sie in ihrer Kindheit mit ihren Eltern dort gewesen sind. Quartieren sich im selben Hotel ein, so es noch existiert. Und nicht selten scheint das von einer auf die nächste Generation vererbt zu werden. Gut möglich, dass bereits Neuraths Mutter als Kind mit ihren Eltern in diesem Hotel gewesen war. Als ich ihn betrachtete, schien mir, als blickte ihn seine Mutter immer noch stolz an, seine sauberen Fingernägel, das frisch gebügelte Hemd, sein anständig gekämmtes Haar, seine brav auf den Tisch gelegten Hände, als würde sie ihn, verhielte er sich anders, heute noch tadeln, zurechtweisen wie einen kleinen Jungen. Und bemüht, alles richtig zu machen, korrekt eben, folgte ein Patzer auf den anderen. Ein Weinglas fiel um, eine Nudel hinterließ auf dem Tischtuch einen roten Klecks.
Während des Essens war ich schlechter Stimmung. Ich dachte an Grigia.
Tags zuvor hatten wir uns ein Ossarium angeschaut.[15] Hinter mit Namen beschrifteten Marmorplatten zusammengekarrte Knochen. Tausende Namen von Toten. In den meisten Nischen dürften sich keine Knochen befinden, und wenn, dann hat sich niemand die Mühe gemacht, die Knochen aus den Massengräbern zu sortieren. Eine absurde Weihestätte, die genau das Gegenteil dessen zum Ausdruck bringt, was sie behauptet. Das Leben eines einzelnen Menschen besitzt keinen Wert. All die Gefallenen zählen nur in der Masse. Ein einzelner Schuster zählt nichts, es braucht hunderte von Schustern, hunderte von Dachdeckern, hunderte von Lehrern, aberhunderte von Bauern. Musste an den Park denken, auch dort zählt eine Geweihte nichts, an das REGISTER, an die Große Kammer, auch ein Weiheraum, mit dem Unterschied, dass sich die Geweihten selbst in die Nischen fügen, in normierte Gräber, mögen sie auch als Lebende, nicht als Tote zählen. Zweifellos ist das Ossarium ein imposantes Bauwerk. Es behauptet Fülle, letztlich aber haben wir es einzig mit Leere zu tun. Ein Altar darf nicht fehlen. Ich sprach davon, was mir durch den Kopf ging. Es war mir aber unmöglich, Neurath verständlich zu machen, was mich beschäftigte. Schon gar nicht an diesem Tag, nach unserer Wanderung im Fersental. Ich dachte an Grigia, an all ihre Anstrengungen, an ihre Hingabe, an ihr verlegenes Scharren mit den Beinen im Heu. Neurath sah sich in Musils Rolle, als Homo, also als Mensch. Menschen putzen vor dem Essen ihre Fingernägel. Sie tun es selbst dann, ist nicht der kleinste Schmutzrand zu erkennen. Das machen Tiere nicht. Ich dachte mir, sollte Neurath plötzlich sterben, nie würde ich mir die Mühe machen, seinem Ruf abträgliche Notizen in meinen Wintermantel einzunähen und an kalten Tagen mit mir herumzutragen.[16] Ich behielt es für mich und meinte nur:
„Wie findest du die gebratenen Hähnchen?“
„Köstlich.“
„Die Köche hätten sich mehr Mühe geben können. Außen verbrannt, innen so etwas wie wässriges Dampffleisch, darüber gegossen eine Fertigsauce. Du hast nie von deiner Mutter erzählt, erstaunlich bei deinem Interesse für das Leben von Frauen.“
„Lass meine Mutter aus dem Spiel.“

Warum sollten Maschinen uns nicht auch in der Empfindsamkeit überlegen sein? Keine goldenen, auf Hermelinfelle genähten Sterne, nicht das geringste Popanzgehabe. Der Mantel, eine nüchterne Maschine, nach innen gedacht, dazu, den fehlenden Geliebten zu ersetzen, zumindest seinen Körper. Der Mantel war mir nie Du, immer nur Apparat, stets Maschine. Einladend wirkt der Mantel nicht. Nie käme man auf die Idee, ihn zu küssen oder zärtlich zu berühren. Anfänglich bedurfte es einiger Überwindung, mich hineinzusetzen, mich dem Mantel hinzugeben, mich ihm zu überlassen. Der Mantel hatte weder Arme noch Beine, schon gar kein Gesicht. Und dennoch hat mir kaum eine Erfahrung ein so wohliges Glück verschafft, vorausgesetzt, ich gab mich hin, schloss meine Augen, hatte er seine Manteldecken um meinen nackten Körper geschlagen. Seltsam, obwohl Maschine, muss ich an zwei- bis dreifach gefiederte Laubblätter, deren Unterseite graufilzig behaart ist, denken. Fleischige Blüten, fleischige Hüllblätter, kaum stachelig. Röhrenblüten, deren Farbe sich ins Violette dreht. Der Mantel, ein Gewebe aus feingefiederten Blattspitzen, das sich schützend um mich legte. Obwohl Maschine, so doch Organischem nachempfunden. Man muss sich auf den eigenen Atem und die Antworten des Mantels konzentrieren, auf seine oft genug fast unmerklichen Bewegungen. Das setzt lange Übung voraus. Gar nicht so einfach, sich ihm hinzugeben. Oft genug schlief ich ein, wusste ich mich nicht wachzuhalten. Meist ist nur das Atemgeräusch des Mantels zu hören. Nur manchmal wird man von ihm angesprochen: „Denk an dein rechtes Knie. Es ist ganz warm und schwer ... Es hilft nichts, wenn ich schiebe und drücke. Wie Gott kann ich nur das zur Wirkung bringen, was in dir angelegt ist, was zur Empfindung drängt ...“ Mühelos passte sich der Mantel der gewünschten Lage an. Wollte ich bäuchlings liegen, so drehte er sich in die gewünschte Lage. Schon lag ich auf Brust und Bauch, so als läge ich auf dem Rücken eines Pferdes, die angewinkelten Beine in seine Flanken gedrückt. Zwar vollkommen umhüllt, aber ich fühlte mich keinesfalls beengt. Der Mantel ist keine Röhre, in die man gestopft, von der man dann durchgerüttelt oder penetriert wird. Die Beine müssen sich spreizen wollen. Stülpte sich der Mantel in eine meiner Körperöffnungen, dann war ich es, die danach verlangte. Nichts an ihm erinnert an einen männlichen Körper. Auch nicht das, was so wohltuend mein Geschlecht erst sanft dehnte, sich in dieses schob, sich rhythmisch, aber keineswegs mechanisch vor- und rückwärts bewegte. Dabei konnte der Mantel gleichzeitig andere Stellen meines Körpers einmal sanft berühren, dann wieder heftig drücken, so lange, bis ich den höchsten Punkt der Wollust erreicht hatte. Dann zog sich der Mantel diskret zurück, lockerte seine Umarmung, wechselte in eine Haltung, die es mir erlaubte, das empfundene Glück auszukosten. Der Mantel ist nicht auf diese oder jene Körperöffnung fixiert. Nie muss er sich etwas beweisen. Er erwartet keine weiblichen Demutsgesten. Ohne das geringste Bedürfnis, das Gesicht einer Frau oder deren Mund mit Sperma vollzupumpen. Ohne das geringste Bedürfnis, an meinem Geschlecht zu manipulieren. Der Mantel war nie gekränkt, stellte sich bei mir kein Lustgefühl ein, reagierte ich ärgerlich, enttäuscht, gelangweilt. Ein wahrer Diener der Empfindsamkeit. Ganz anders meine Erfahrungen mit Männern. Sie betrachteten meine Tränen als Störung, nicht als Ausdruck einer tiefen Empfindung, einer Verletzung, einer nur oberflächlich verheilten Wunde, die aufbrach, kaum berührten sie mich. Dem Mantel verdanke ich das Wissen, dass wahre Glücksempfindungen ohne Schmerzen nicht denkbar sind, Lust und Schmerz nahe beieinander liegen. Dabei hat mir der Mantel nie den geringsten Schmerz zugefügt. Er setzte nur jene Schmerzen frei, die in meinen Organen, in meinem Gewebe oder in den Knochen gespeichert sind, Schmerzen übrigens, die sich zahllosen Eingriffen verdanken, die alle ihre Narben, Verwachsungen und Verhornungen hinterlassen haben, so klein sie auch sein mögen. Wird unser Körper von Lust erfüllt, von einer Lust, die nicht nur oberflächlich ist, dann sind damit Schmerzen verbunden: Nicht im Kopf / hat die Traurigkeit ihren Ort, / sie hat sich eingenistet / in Zwischenräumen und Gelenken, / zwischen Wirbeln und Beckenfugen. Knie und Hüfte / geben ihr Obdach, / auch liegt sie / unterm Schlüsselbein.
Wenn ich etwas aus meinem früheren Leben vermisse, dann den Mantel. Seine Haut, unbehaart, weich und doch nicht ohne klare Kontur. Es braucht ein Gegenüber. Mehr weiblich als männlich. Eine Art Mutterschoß, ganz Gegenstück zum Altar, dieser durch und durch männlichen Maschine, diesem Beutegreifer, der seine Beute packt, herzeigt und aufspießt. Und doch dem Altar verwandt. Was für ein Glück, sich hinzugeben, ohne sein Gesicht zeigen zu müssen, ohne ein Gesicht zu sehen. Nur Körper sein, atmen.

Neurath habe ich als klagenden Menschen in Erinnerung. Eine Professur sei ihm verwehrt worden. Was für eine Kränkung! Ortlos ist seine Geschichte nicht. Er kann jene beim Namen nennen, die sich seiner Berufung widersetzten oder sie hintertrieben. Ihre Publikationen sind greifbar. Neurath könnte sie anrufen, besuchen, mit ihnen sprechen. Höre ich mir seine Klagen an, all die Opfer, die er auf sich genommen habe, dann ist es mir, als hätte ich ein vegetabiles Leben geführt, ohne jede Anstrengung, ohne Ziel. Letzteres mag zutreffen. Eine große Nachkommenschaft war mir nie ein Anliegen, schon gar keine diskrete, namenlose. Aber auch ich musste mich anstrengen, auch ich habe meine besten Jahre geopfert. Wir suchten öfters Orte seiner Kindheit auf. Ich beneidete ihn darum, war mir der Park doch verwehrt. Gerne hätte ich ihn durch den Park geführt, ihm alles gezeigt, alles erklärt, so wie ich es nachträglich sehe, die Pavillons, die Große Kammer, die auf zwei Säulen ruht und an ein plattgedrücktes Ei erinnert, das REGISTER, den Garten mit seinen Gebäuden. Ich hätte ihm vieles erzählen können, nicht nur das, was sichtbar ist, sondern auch all das, was im Verborgenen liegt. Wir wären Frauen begegnet, an die ich mich erinnern hätte können und die sich meiner erinnert hätten. Aber es war nicht möglich.
Eine unserer Reisen führte uns ins Dorf der Frauen, also dorthin, wo er lange das Leben älterer Frauen untersucht, eine Studie durchgeführt hat, die ihm wissenschaftlichen Erfolg versprach. Damals, als Neurath in diesem Dorf war, lebten dort nur noch alte Frauen. Sie wussten sich trotz ihrer Gebrechlichkeit, trotz aller Abneigung, die sie gegeneinander hegten, einzurichten, die nötigen Arbeiten einzuteilen. Das Dorf war von der Außenwelt abgeschnitten. Nur einmal in der Woche sei einer der Angehörigen aus der nächsten Stadt gekommen, um einige Lebensmittel zu bringen, Kaffee, Grappa, Tabak, Kerzen oder Batterien für Transistorradios. Abwechselnd habe eine der Frauen für alle gekocht. In deren Haus hätten sie gemeinsam gegessen. Damit niemand verloren ginge, damit es auffallen würde, sollte eine von ihnen krank oder tot liegen. Bereits damals begann der Wald sich all das zurückzuholen, was ihm über lange Jahrhunderte abgerungen worden war. Es war absehbar und nur eine Frage weniger Jahre, bis er das letzte Haus, den Friedhof, ja selbst die Kirche überwuchert und verschlungen haben würde. Die Sennerei war lange früher aufgegeben worden. Mit ihr verschwanden alle Kühe, Ziegen, alle Wiesen, die einmal nötig waren, um sie zu füttern. Drei Gasthäuser habe es einmal gegeben, ein Tabakgeschäft, eine Schule, ein Pfarrhaus, Handwerksbetriebe. Durch eine Häuserzeile habe eine schmale Gasse geführt, eine Gasse mit vielen Stufen, mit großen Steinplatten ausgelegt, damit man nicht im Dreck laufen musste, das Regenwasser abfloss, auch um den Kot der Tiere für die Gärten einzusammeln. Im letzten der Häuser habe eine Blinde gewohnt, die es in jungen Jahren in dieses Dorf verschlug und die nie mehr fortkam, sei es, dass es ihr an innerem Antrieb fehlte oder weil sie für sich keine anderen Möglichkeiten sah. Stets habe von ihr alles gemeinsame Tun den Ausgang genommen. Sie sei so etwas wie die Uhr dieser seltsamen Gemeinschaft gewesen. Von Tür zu Tür sei sie geschritten, habe mit ihrem Stock an Geländer und Türen geschlagen, die Namen gerufen. Und aus jeder Tür sei eine Alte getreten und habe sich den anderen angeschlossen. Es muss ein merkwürdiger Zug gewesen sein, der sich allabendlich durch das nahezu ausgestorbene Dorf bewegte. In diesem Dorf kam niemand auf die Idee, die Alten im Kreis laufen zu lassen, gar eine Bushaltestelle vorzutäuschen. Es gab nichts vorzutäuschen. Es war ihre Welt. Und sie wussten, dass die Vegetation auch sie bald verschlingen würde. Als ich mit Neurath das Dorf besuchte, lebte keine der Frauen mehr. Die meisten der Häuser waren verfallen, ihre Dächer eingestürzt. Die Vegetation ist gefräßig, sprengt das Mauerwerk, überwuchert es. An einigen Stellen waren die Steinplatten, mit denen die Gasse gepflastert war, noch gut erkennbar, übersät von Schutt und geplatzten Kakifrüchten, die niemand mehr erntete. Natalie, eine der Alten, ist Neurath besonders in Erinnerung geblieben. Auch das Dach ihres Hauses war eingestürzt. Durch Gestrüpp stiegen wir einen Hang hinauf, wo etwas außerhalb des Dorfes, von Gestrüpp überwuchert, der Friedhof lag. Wir fanden ihr Grab. Auf dem Friedhof stehend, da wusste ich, dass mich mit Neurath keine Geschichte verbindet. Termine, Orte, Reiseziele. Da und dort waren wir. Mehr nicht. Kein Wagnis, schon gar kein großes. Keine Leidenschaft.

Anmerkungen
Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.


[1] „Es ist bei der Entstellung eines Textes wie bei einem Mord. Die Schwierigkeit liegt nicht in der Ausführung der Tat, sondern in der Beseitigung ihrer Spuren. [...] Somit dürfen wir in vielen Fällen von Textentstellung darauf rechnen, das Unterdrückte und Verleugnete doch irgendwo versteckt zu finden, wenn auch abgeändert und aus dem Zusammenhang gerissen. Es wird nur nicht immer leicht sein, es zu erkennen.“ [Sigmund Freud, „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“.]

[2] [Denis Diderot, „Die Nonne“.]

[3] Augäpfel – Medizinbälle. Las vor dem Einschlafen in einer Wedekind-Monographie. Wedekind, ein Anhänger der Nacktkultur, trieb Gymnastik. In seinem Arbeitszimmer hatte er eine hölzerne Kugel mit einem Durchmesser von einem halben Meter, die er für Gleichgewichtsübungen benutzte. [Wedekinds Grabstein ist ein auf einer rollenden Kugel balancierender Pegasus aufgesetzt.]

[4] [Anspielung auf den Marquis de Sade, der während seiner Internierung in der Bastille eine aus seiner Zelle auf die Rue Saint-Antoine führende Dachrinne als Sprachrohr benutzte, um Passanten in üppigen Bildern die entsetzlichen Martern zu beschreiben, die die Gefangenen zu erdulden hätten. Die Gefangenen würden erdrosselt und man möge sie befreien. Er warf auch Zettelchen mit ähnlichem Inhalt durch sein Fenster auf die Straße. Tatsächlich gab es damals in der Bastille nur wenige Gefangene und diese führten mit ihren Aufsehern das gemütlichste Leben.]

[5] [Thukydides, „Der peloponnesische Krieg“.]

[6] [Hethiterkönig, regierte von 1355 – 1321 vor Chr.]

[7] [Anspielung auf E.T.A. Hoffmann, „Der goldene Topf“. E.T.A. Hoffmann schrieb sein „Mährchen aus der neuen Zeit“ 1813 in Dresden zur Zeit der Völkerschlacht. Der Schlachtenlärm scheint ihn mehr beflügelt als gestört zu haben. Wiederholt trieb es ihn hinaus, um sich an Ort und Stelle ein Bild zu machen: „Hier hatten die russischen Jäger unter dem wüthenden Feuer der franz[ösischen] Kanonen gestürmt, das Feld war daher überdeckt mit Russen, zum Theil auf die schrecklichste Weise verstümmelt und zerrissen – So z. B. sah ich einen, dem gerade die Hälfte des Kopfs weggerissen – ein scheußlicher Anblick – Pferde – Menschen – daneben Gewehre – Säbel – gesprengte Pulverwagen – Tschakos – Patrontaschen – alles in wilder Unordnung durcheinander geworfen – Auf manchem unverstümmelten Gesicht sah man noch die Wuth – den Grimm des Kampfs – einer hatte gerade in die Patrontasche gegriffen um frisch zu laden und so hatte ihn der Todt getroffen – Ein russ[ischer] Offizier, ein herrlicher schöner Jüngling (höchstens 23 Jahr) hielt noch den Säbel über dem Kopfe geschwungen in der rechten Hand und war so zum Tode erstarrt – Eine Kano[nen]Kugel hatte ihn gerade auf der Brust am linken Arm getroffen, diesen weggerissen und die Brust zerschmettert – sein Tod war leicht! — Mir schien es als bewege sich etwas im Grase in geringer Entfernung, ich theilte es meinem Begleiter dem Advokaten Conradi mit, wir gingen darauf zu, und siehe da ein Russe, dem beyde Füße auf das jämmerlichste zerschossen waren so daß alles von geronnenem Blute klebte ...“ Wenn E.T.A. Hoffmann etwas von solchen Spaziergängen abgehalten hat, dann seine Besorgnis, „Verwundete herumtragen zu müssen.“ – In den Traum könnte sich auch die Lektüre von Maurice Renards Schauerroman „Der Doktor Lerne“ eingeschlichen haben.]

[8] [Ein von Primo Levi geprägter Begriff. Die nationalsozialistischen Konzentrationslager kannten ein Privilegiensystem, das einzelne Häftlinge zwangsläufig zu Mitakteuren im Vernichtungsprogramm machte.]

[9] [In der Edo-Zeit sollen hochrangige Kurtisanen bis zu 30 Kilogramm an ihrem Leib getragen haben, wozu auch Perücken und Steckkämme zählten.]

[10] [Bezieht sich auf von Fray Bernardino de Sahagún beschriebene Opferpraktiken der Azteken.]

[11] Da kehrt das Verdrängte in gereinigter Form zurück, und das über das (phantasierte) Bindeglied der Prosektur, einem Ort, an dem sich medizinische und kriminologische Praktiken überlagern. [„L’inconnue de la Seine“: Totenmaske einer namenlosen jungen Frau, die man tot aus der Seine gezogen haben soll. Eine Kunstfälschung. Die zahllosen Reproduktionen dieser Maske verdankten sich weniger dem anmutigen Lächeln als der Metaphorik von Wasser, Sexualität und Tod, ihrer Geschichtslosigkeit, die unterschiedlichste Phantasien erlaubte. Ödön von Horváth hat das Motiv in seiner Groteske „Die Unbekannte aus der Seine“ verarbeitet. Er lässt auch einen Gerichtsfotografen auftreten. Viel spricht er nicht. Aus dem Haus des Mordopfers kommend, sagt er einzig: „Die besten Würschtel hab ich mal in Lemberg gegessen.“ Das traurig-humoreske Stück endet versöhnlich. Albert, der Mörder des Uhrmachers, hat Irene geheiratet. Ihren Blumengarten hat sie zugunsten einer gutgehenden Gärtnerei vor der Stadt aufgegeben. In den Räumen der früheren Blumenhandlung befindet sich nun eine Wäscherei, in jenen des ermordeten Uhrmachers eine Buchhandlung. Albert und Irene sind gekommen, um eine Totenmaske der Unbekannten aus der Seine zu kaufen.]

[12] „Wie der Receiver die von Schallwellen angeregten elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in Schallwellen verwandelt, so ist das Unbewußte des Arztes befähigt, aus den ihm mitgeteilten Abkömmlingen des Unbewußten dieses Unbewußte, welches die Einfälle des Kranken determiniert hat, wiederherzustellen.” [Sigmund Freud, „Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung“.]

[13] [Robert Musil, „Grigia“.]

[14] „... der für meine Hirntätigkeit das Optimum herstellt, haben sich plötzlich die Schranken gehoben, die Hüllen gesenkt, und man konnte durchschauen vom Neurosendetail bis zu den Bedingungen des Bewußtseins.“ [Sigmund Freud an Wilhelm Fließ.]

[15] [Castel Dante, Rovereto.]

[16] [Anspielung auf Martha Musil.]