Kapitel 9

Ich war etwa drei Jahre im Programm, als ich anfing, allein längere Spaziergänge zu machen. Damals begann ich mich abzusondern, zumindest nahmen mich andere so wahr. Tatsächlich empfand ich das Leben, das ich führte, als zunehmend beengend, zumal sich unter meinen Schwestern, also den Geweihten, die wie ich im Programm waren, nicht eine fand, mit der ich darüber sprechen hätte können, was mich beschäftigte, über meine Zweifel und Wünsche. Nicht dass ich klare Vorstellungen gehabt hätte, aber etwas drängte in mir, drängte mich, diese oder jene Regel zu verletzen, und sei es nur, nicht mehr ganz pünktlich bei den Untersuchungen zu erscheinen oder ganz allein ausgedehnte Spaziergänge auf die Rinderweiden zu unternehmen. Ich wagte mich immer weiter hinaus. In den Koppeln waren weidende Rinder zu sehen. Als Kinder fürchteten wir uns vor den Kühen, auch vor den Männern, die wir vom Rande des Parks aus auf Traktoren sahen. Von Kühen hatte ich keine Ahnung, kannte ich sie doch nur aus großer Entfernung oder aus Büchern. Langsam verlor ich meine Scheu vor ihnen, wagte ich es, mich diesen großen Tieren zu nähern. Die Künstlerin, die meinen Ornat entwarf, wird wohl nie erfahren, welches Glück sie mir mit ihren Himmelskühen bereitet hat, die mit ihren Hufen den Staub zu Wolken aufwirbeln, damit es Milch regne.
Auf den Rinderweiden begegnete ich Paul.
Als ich Deborah von ihm erzählte, meinte sie:
„Eine Liebesgeschichte, die ihren Anfang auf einer Kuhweide nahm?“
„Zwischen Kuhfladen? Es gefällt mir nicht, wie du das sagst. Du denkst wohl an Hotelbetten, an Autos, vielleicht an Toiletten.“
Nicht auf den Ort, auf die Begegnung kommt es an. Ich hatte Paul als schüchternen Traktorfahrer kennengelernt, als einen von denen, die auf den Weiden mit Güllefässern und Mähwerken herumfahren, Elektrozäune aufstellen. Auch ich war schüchtern. Es dauerte lange, bis wir anfingen, uns gegenseitig zu suchen, auf einander zu warten, noch länger, bis wir uns erstmals abends auf einer dieser Weiden liebten. Ich lernte das freie Feld kennen, das mir so viel Angst gemacht hatte, einen Raum, der, zumindest was das Liebesleben betrifft, nicht bereits selbst Gebrauchsanweisung seiner Nutzung ist. Es ist nicht gleichgültig, an welchem Ort ich mit jemandem spreche. Es ist auch nicht gleichgültig, an welchem Ort ich mich auf den Boden werfe, um mich auszuweinen. Es gibt Orte, die Glück bedeuten, selbst dann, wenn man allein ist, niedergeschlagen, in der schlechtesten Stimmung. Um solche Orte zu finden, muss man über viele Zäune steigen, über Zäune, die mir von den Rinderweiden nur zu gut in Erinnerung sind. Stacheldrahtzäune, Elektrozäune. Man muss sich in gefährliches Gelände wagen, manchmal Halt an Ästen oder Grasbüscheln suchen. Ich lernte, dass das Öffnen meiner Schenkel auch mit Lustgefühlen verbunden sein kann. Dass dies möglich war, obwohl ich mich über Jahre in anderen Umständen befand, erstaunt mich noch heute. Aber an diesem Ort hatte ich mich nicht einfach in Position zu bringen, wurde meine Fremdheit nicht geleugnet. Wir brauchten lange, bis wir uns näherkamen, uns zu berühren wagten. Strich Paul mit seinen Händen über meine Knie oder küsste er die Innenseite meines Schenkels, so gab er mir die Gewissheit, dass ich schön bin. Mochte er auch in Gummistiefeln stecken, so empfand auch ich ihn als schön. Ich mochte seinen Stallgeruch, die Gerüche seines Körpers, die Gerüche nach Mist, Silage, Benzin und Kühen, mochte es, durch seine Locken zu streichen, legte er seinen Kopf in meinen Schoß, hatte ich mich an eine der Eisenbahnschwellen gelehnt, die man in die Erde gerammt hatte, als es noch keine elektrischen Weidezäune gab. Er hatte eine samtene Haut, eine Haut, vor der ich mich nicht fürchtete. Damals begann ich, all die Untersuchungen und Behandlungen, die ich über mich ergehen lassen musste, als unerträglich zu empfinden. Ich verkrampfte mich. Ich solle mich nicht so steif machen, bekam ich fortan zu hören. Auch meine Schwestern tadelten mich. Meine Hingabe lasse zu wünschen übrig. Unser ganzes Leben sollte eine Hingabe sein. Damals begann ich mich zu fragen, wem oder was ich mich denn hingeben solle. Zunehmend empfand ich das, was leichtfertig als Hingabe gefordert war, als Verschwendung an etwas, an etwas Unbestimmtes. Was ich damals nur undeutlich empfand, weiß ich erst heute in Worte zu fassen. Hingabe, wie wir sie üben sollten, meinte nichts anderes als sich in das Geforderte bis zur Selbstaufgabe zu fügen. Wofür ich keine Worte fand, das brachte mein Körper zum Ausdruck. Meine Eierstöcke spielten verrückt, was weitere Behandlungen, noch mehr Medikamente zur Folge hatte. Wurde ich aufgerufen, verbeugte ich mich nicht länger vor den Zurüstern. Ein bewusstes Handeln war das nicht. Es geschah mir. Nicht länger zählte ich zu den Leistungsfähigsten unter den Geweihten. In eine hygienische Umgebung gezwungen, von Zurüstern, als sei man infektiös, stets nur mit Einmalhandschuhen berührt, von Gesichtern betrachtet, die sich hinter einem Mundschutz, einer Maske verbargen, bereitete es mir ein gewisses Vergnügen, es mit Paul auf dem nassen Grasboden, oft genug zwischen Kuhfladen, zu treiben. Paul spielte den Stier, mischte sich brüllend unter die Rinder[1], seine Arme eng an den Kopf angelegt, mit nach oben gestreckten Händen, so als trage er Hörner. „Was wäre geschehen, wärst du damals schwanger geworden?“
„Ich war chronisch schwanger. Bekanntlich kann eine Schwangere nicht noch einmal empfangen. Und wurde hormonell eine erneute Superovulation in Gang gesetzt, dann war es mir nicht möglich, Paul zu treffen.“
„Hofftest du, schwanger zu werden? Hast du dir ein Kind gewünscht?“
„Ich denke nicht, aber möglicherweise irre ich mich. Heute sehe ich diese Begegnung eher als einen Versuch, mir mein geraubtes oder fremdbestimmtes Geschlecht wieder anzueignen.“


Nabelschnur


Ich mochte Deborah. Sie war, sehe ich von Paul ab, der erste Mensch, der mir wirklich zuhörte, dem ich mich anvertrauen konnte. Immer wieder ermunterte sie mich, meine Erfahrungen, selbst meine wirrsten Träume festzuhalten, niederzuschreiben. Ich fühlte mich von ihr verstanden, wusste aber auch, dass sie vieles nicht verstehen konnte. Es wollte mir nicht gelingen, ihr meine Geschichte mit Paul zu erzählen, wie auch manches, wovon ich sprach, ihr undenkbar erschien, meiner Phantasie entsprungen. Das Sprechen über Erfahrungen wie die Liebe ist an sich schon schwierig, wenn nicht unmöglich. Es hatte aber auch damit zu tun, dass ich Paul einzig auf den Weiden traf, in einem riesigen Niemandsland, in dem es kein einziges Gebäude, keinen Bach, nicht einen Baum, nur da und dort etwas Gestrüpp gab. Nicht eine einzige Erhebung, bestenfalls einige kaum wahrnehmbare Bodenwellen, die so flach waren, dass sie keinen Schatten zu werfen vermochten. Hätte sich nur ein kleiner Hügel erhoben, mit der Ruine einer kleinen Kirche darauf, daneben ein paar umgestürzte Grabsteine auf einem von Heckenrosen überwucherten Friedhof, es hätte auch ein kleiner Teich sein können, von Schilf umgeben, dann ließe sich wohl eine Geschichte erzählen. Die Weiden waren so gleichförmig, dass es fast unmöglich ist, von Landschaft zu sprechen. Mir bot einzig jener Punkt Orientierung, an dem der schmale Weg, der aus dem Park führte, in die Weiden überging. Hier standen einige mächtige Ulmen. Wollte ich mich nicht verlieren, dann musste ich diese Ulmen im Augen behalten. Leere Flächen waren die Rinderweiden freilich nicht. Da und dort befanden sich Tränken. Wenn auch wenige, so standen doch Maschinen herum, Fangstände. Die Ebene war von Zäunen durchzogen. Sie kannte ihre Ordnung. Jede der Weiden war mit Buchstaben und Zahlen gekennzeichnet. Um eine Geschichte zu erzählen, ihr einen Rahmen zu geben, sie gleichsam in Kulissen zu setzen, die das Erlebte zum Ausdruck bringen, reicht das nicht aus. Niemand vermöchte sich etwas vorzustellen, wenn ich sagen würde, ich hätte mich mit Paul auf der Rinderweide B 122 getroffen, was nicht heißt, all die Buchstaben und Zahlen wären für uns ohne Bedeutung gewesen. Eine wirkliche Geschichte hätte ich Deborah nur dann erzählen können, wäre es Paul gelungen, mich im Park zu treffen, hätte ich ihn in einer der Stallungen erlebt. Aber das war nicht möglich. Wir liebten uns im Niemandsland, waren auf unsere Körper zurückgeworfen. Wenn ich heute eine andere Vorstellung von meinem Körper habe, dann verdanke ich dies den Berührungen seiner Haut, seiner Hände, seiner Zunge. Paul machte es nichts aus, mich im Schmutz zu lieben. Erst später wurde mir klar, was Paul damals beschäftigte. Mein vor Keimen bestgehütetes Geschlecht, durch Gesichtsmasken selbst vor dem Atem jener geschützt, die mich behandelten, sollte zu einem mitteilsamen Organ werden. Das lässt mich an junge Burschen denken, die glücklich sind über jeden von ihnen hinterlassenen Knutschfleck. Schiebt ein anderer das weiße, mit einem Spitzenkragen besetzte Hemd zurück, so etwas tragen heutige Mädchen nicht mehr, aber das Bild gefällt mir, sollte also einer es wagen, dann soll er sehen, genau dort, wo der Hals in Nacken und Schulter übergeht: Da war schon einer, auch an andern Stellen. Mädchen denken anders, glauben den geliebten Freund noch bei sich, und sei es als Zeichen, als Fleck eben. Ach, was gäbe ich für solche Kindereien! Unlängst war ich sehr irritiert, als ich am Hals einer Kassiererin in einem Supermarkt, die Frau ist in meinem Alter, einen solchen Fleck sah. Späte Liebe? Sie muss es wohl bemerkt haben, schob sie doch mit einer fast unmerklichen Bewegung den Kragen hoch. Ich glaubte in ihrem Gesicht eine leichte Errötung zu sehen. Dabei war es bloß ein kleines Feuermal. Einmal bemerkte Paul: „Liebe macht unempfindlich gegen das Leiden anderer. Wann werden wir dafür zahlen müssen?“ Ich verstand ihn nicht.

Stellen wir uns vor, man hätte einen Gefangenen nach seiner Verhaftung in ein Auto gezerrt, ihm die Augen verbunden. Um ihm jede Orientierung zu rauben, bewegt sich das Auto im Kreis, durch dieselben Straßenzüge, um einige Häuserblocks. Erst im Verließ wird ihm die Augenbinde abgenommen. Spärliches Licht fällt durch eine kleine Fensterluke. Ein Bett, tagsüber an die Wand geklappt, ein Stuhl, ein Kübel, um die Notdurft zu verrichten. Es ist ihm nicht möglich, selbst wenn er auf den Stuhl steigt, sich an der Fensterkante hochzuziehen und einen Blick hinaus zu werfen. Stets sieht er nur einen Ausschnitt des Himmels, einmal als mehr oder weniger graues, dann wieder als ein strahlend blaues Viereck. Einzig auf die Ausrichtung der Zelle nach südwestlicher Richtung kann er schließen, fällt doch erst am frühen Nachmittag, so es nicht bewölkt ist, der erste Sonnenstrahl durch die Fensterluke. Nur mit Hilfe des Gehörsinnes ist es ihm möglich, Orientierung zu gewinnen. Der Gefangene hört Dinge, die jenen, die sich Gewissheit mit den Augen verschaffen, nur selten oder nie bewusst werden. Vogelstimmen. Schritte in den Gängen, das Öffnen und Schließen von Zellentüren, wiederkehrende Geräusche, aber auch solche, die wie die Schreie eines Gefangenen in einer anderen Zelle aus der Ordnung fallen. Und würde der Gefangene nach langen Jahren der Haft wieder in die Freiheit entlassen, setzte man ihn in einem Wald, am Rande einer Autobahn oder mitten in einer Stadt aus, er wüsste all die Schrecknisse nicht zu berichten. Niemand würde ihm glauben. Es bliebe, was immer er sagte, eine einzige Leerstelle. Selbst dann, zeigte er all seine Narben, die deutlich auf erduldete Foltern wiesen, niemand würde ihm glauben, können sich doch solche Narben ganz alltäglichen Missgeschicken verdanken, und sei es nur ein Topf mit kochendem Wasser, der umstürzt. Und hätte er all die Jahre mit seinen Fingernägeln Schriftzeichen in die Mauern geritzt, es wäre ohne jede Bedeutung. Und hätte man ihn während seiner Haft gezwungen, Teeschalen aus Ton zu formen, es hätte keinen Niederschlag gefunden. Die Teeschalen wären in Gebrauch, Menschen würden daraus trinken, aber keine dieser Teeschalen verwiese auf ihn. Ich denke an meine zahllose Nachkommenschaft. Wie all die Teeschalen des Gefangenen verweist nicht eines dieser Kinder auf mich. Ich weiß um die Orte, an denen ich meine Kindheit, mein halbes Leben verbracht habe, aber ich kann sie nicht aufsuchen, kann sie niemandem zeigen, nicht davon erzählen. Es ist, als würden sie nicht existieren.

Lange lag ich wach im Bett. Meine Geschichte verschwamm mit der von Astrid, einem siebenjährigen Mädchen, dem Mädchen, das sich unter Tischen verkriecht und gleichförmig wippende Bewegungen macht, mit der Handfläche über seine Zunge streicht. Wie es war, als ich sieben Jahre alt war? Nein, in eine Kiste wurde ich nicht gesperrt. Auf freie Bewegung wurde geachtet. Und dennoch befand auch ich mich in einer Art Kiste. Als ich zehn war, begann mein Noviziat. Ich muss an Niobe denken. Von den Geweihten wurde erwartet, Verantwortung für eines oder zwei der Mädchen zu übernehmen, ihnen als „ältere Schwester“ Vorbild zu sein, sie zu unterweisen und auf ihre Aufgabe vorzubereiten. Wie alle anderen hatte auch ich eine ältere Schwester, die sich meiner annahm und der ich nacheiferte. Ich wollte genau so werden wie sie. Nach meiner großen Feier hatte ich diese Rolle für Niobe, ein damals zehnjähriges, etwas in sich gekehrtes Mädchen, zu übernehmen. Anfangs nahm ich das sehr ernst, setzte ich doch alles daran, aus Niobe eine der besten unter den Geweihten zu machen. Abends durfte mich Niobe manchmal in das Museum begleiten. Flüsternd erzählte ich ihr von Geweihten, die mir Vorbild waren, die es als ihre Aufgabe betrachtet hätten, durch ihre Hingabe die Welt zu retten, dabei manche Schmerzen ertragend. Die meisten Menschen, so erklärte ich es dem Mädchen, würden sich ihrer Verantwortung nie bewusst. Es gäbe Menschen, die damit zufrieden seien, tagein tagaus die Schuhe anderer zu putzen. Niobe meinte: „Aber das muss doch auch jemand machen. Wozu gibt es Dienerinnen?“ Was hätte ich darauf antworten sollen? Ich erklärte Niobe damals, dass es ganz unterschiedliche Menschen gebe, ganz wenige, und dazu zähle auch sie, später einmal werde sie all das begreifen, denen aufgrund ihrer Herkunft eine besondere Verantwortung zufalle. Niobe: „Was heißt Herkunft? Ich habe gelesen, dass Kinder reicher Eltern von Herkunft sprechen ... Ich hätte auch gerne Eltern ...“ Was hätte ich darauf schon sagen können? Zunehmend fiel mir es mir schwer, sie über manches, wohl das Entscheidende, im Unklaren zu lassen. Dass der Alltag einer Geweihten doch recht banal ist und wenig mit all dem Überhöhten zu tun hat, darüber durfte nicht gesprochen werden, um genauer zu sein, es bedurfte keines solchen Verbots, war es uns doch eingeschrieben. Letzteres sei doppelt und dreifach unterstrichen, war es doch undenkbar, die zahllosen Eingriffe, die eine Geweihte über sich zu ergehen lassen hat, einem Mädchen gegenüber auch nur anzudeuten, ihm zu sagen, diese und jene Regeln seien zu befolgen, vor allem gälte es, sich einzufügen und unterzuordnen, für Fragen oder Zweifel sei kein Platz vorgesehen. Vieles durfte eine ältere Schwester einer Novizin erst dann mit auf den Weg geben, wenn sie in das Programm gewechselt war – dass nicht alles, was Zurüster sagten, wörtlich zu nehmen sei, wie man sich unangenehmen Fragen entziehe, wie man sich verhalten müsse, damit einem eine gewisse Schonzeit gewährt würde. Darüber konnte man ab einem gewissen Zeitpunkt sprechen. Aber die Welt, in der wir lebten, all das, was von uns erwartet wurde, das durfte nicht in Frage gestellt werden. Auch ich habe damals, trotz mancher Zweifel, trotz meines Aufbegehrens, diese Welt nie wirklich in Frage gestellt, empfand ich sie doch als gegeben, kannte ich doch keine andere. Schlupflöcher ja, solche finden sich in jedem Leben, aber keine Fragen. Ich sprach mit Deborah lange darüber. Sie verstand mich und verstand mich doch nicht.
„Warum hast du Niobe nicht erklärt, was ihr bevorstand?“
„Ist man selbst gefangen, lässt es sich nicht erklären.“
„Aber du hattest doch Zweifel?“
„Zweifel genügen nicht, man muss Gewissheit haben.“
„Du sahst dich an Niobes Stelle?“
„Gewiss. Aber damals fand ich die nötigen Worte nicht, konnte es nicht. Wird etwas weggenommen, dann bedarf es einer Vorstellung, was an dessen Stelle treten könnte. Ich hatte keine solche Vorstellung. Und selbst wenn ich eine gehabt hätte, keinesfalls hätte ich Niobe ins Ungewisse gestoßen.“
„Was wäre mit ihr geschehen?“
„Was wäre mit ihr geschehen? ich weiß es nicht. Im Park war es nicht ungewöhnlich, dass der Platz eines der Mädchen leer blieb. Nie wurde ein solches Verschwinden erklärt, nie darüber gesprochen. Und doch lebten wir alle in der Angst, selbst in einem Nichts zu verschwinden. Diese Angst saß so tief, dass wir diesbezügliche Fragen nicht zu stellen wagten. Selbst als ich im Programm war, konnte eine der Geweihten, mit der wir Tür an Tür lebten, in einem geschwisterlichen Verhältnis, aus den Behandlungsräumen auf der anderen Seite der Brücke, die wir weniger als Brücke, eher als langen, fast endlos scheinenden Gang wahrnahmen, nicht mehr zurückkehren. All die Fragen, die sich in solchen Fällen aufdrängten, gingen in einer gesteigerten Selbstdisziplin unter, die Tage, manchmal auch Wochen anhielt, in gymnastischen Übungen, Massagen oder auch Betrachtungsübungen. Eine gedrückte Stimmung machte sich breit. Tagelang blieb der Mantel unbenutzt. Keine von uns wagte zu scherzen. Was hätte ich also Niobe sagen sollen? Mit meinem heutigen Wissen fiele es mir leichter, könnte ich ihr das Leben einer Geweihten erklären, aussprechen, dass es kein Vergnügen ist, in einem Krankentrakt zu leben, ohne wirkliches Ziel vor Augen. Heute wüsste ich Alternativen zu nennen. Man hätte sie wohl zur Adoption freigegeben. Ich hätte ihr sagen können: ‚Reiche Eltern werden sich deiner annehmen. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Du wirst gewiss liebevolle Menschen kennenlernen.’ So würde ich heute sprechen. Dass man sie wie ein Sklavenmädchen verkaufen würde, behielte ich für mich.“
Deborah fragte nicht weiter.
Ich fügte noch hinzu: „Gewaltsam sollten die Novizinnen in ihre Aufgabe gestoßen werden.“

Hatte ich ohnehin zunehmend Mühe, mich ins Programm zu fügen, so erst recht, nachdem ich Paul kennengelernt hatte. Da gab es etwas, da gab es jemanden außerhalb der Welt, in der ich lebte. Dabei war auch Paul ein Produkt des Parks. Je öfter ich Paul traf, umso mehr ließ meine Disziplin zu wünschen übrig. Für Niobe war ich gewiss kein Vorbild mehr. Immer seltener besuchte ich sie im Park, nicht länger ging ich mit ihr abends ins Museum, für das ich jedes Interesse verloren hatte und das mich heute an Schaufensterauslagen denken lässt, an denen man nach Einbruch der Dunkelheit vorbeiläuft, mit dem Unterschied, dass das dort Gezeigte weder Überraschungen noch Versprechen kannte, letztlich, hätte ich es zu lesen verstanden, nur das eine gesagt hätte: Von dir wird nichts bleiben als ein geschichtsloses Stück Stoff, ein namenloses Stück Stoff, als hätte es keine Schmerzen und Tränen gegeben. Das Museum sagte nichts aus über Hingabe, doch vieles über Verschwendung und Gebrauch. Traf ich Niobe, so war ich mit meinen Gedanken abwesend. Immer zweifelhafter erschien mir das, worauf ich sie vorbereiten hätte sollen. Es drängte mich, Niobe ihren Namen zu erklären. Es ist kein beliebiger Name. Sieben Söhnen und sieben Töchtern war Niobe, Tochter des Tantalos, Mutter. Und sie hätte noch viele Kinder zur Welt gebracht, hätte sie es in ihrer Vermessenheit nicht gewagt, sich über die Titane Leto zu stellen, die nur zwei Kinder, nämlich Apollon und Artemis, geboren hatte. Die beiden rächten die gekränkte Mutter und streckten zuerst alle Söhne, dann alle Töchter mit Pfeil und Bogen nieder. Vergeblich bat Niobe, ihr die jüngste Tochter zu lassen. Niobe erstarrte in ihrer maßlosen Trauer zu Stein und dieser Stein hörte nicht auf, Tränen zu vergießen. Darüber drängte es mich zu sprechen, wusste ich doch bereits, dass auch Geweihte manche Tränen ob ihrer zahlreichen Nachkommenschaft vergießen. Ich hätte Niobe von ihrer Namensgeberin erzählen sollen, aber das durfte ich nicht. Vor aller Augen offensichtlich wurde mein Unbehagen, als ich es verabsäumte, Niobe zu einem Fest der zusammenprallenden Steine zu begleiten. Dies kam einem Sakrileg gleich. Vor allem deshalb wurde ich aus dem Park vertrieben.

Seit die Ampeln nicht mehr funktionieren, regeln die zweihundert schönsten Mädchen den Verkehr in der Stadt. Es ist, als führten sie ein Ballett auf. Tagein tagaus dieselben, exakt eingeübten Bewegungen. Bewegungen menschlicher Maschinen. Signalanlagen aus Fleisch und Blut. Was für eine Verschwendung, so sagen wir, längst daran gewöhnt, dass selbst das Liebesleben und die Fortpflanzung der Automatisierung unterliegen. Die Bewegungen der Mädchen auf den Verkehrsinseln kennen keine Variation des Themas. Geschichte wird keine erzählt. Die Haupttonart verdankt sich dem Verkehrslärm und Lautsprechern, aus denen ununterbrochen Glück behauptet wird. Gleichbleibend die zackigen Bewegungen, die ihren Anfang nehmen, wenn ein Mädchen der Verkehrsbrigade in seine Uniform schlüpft, wobei es irreführend ist, von „seiner“ Uniform zu sprechen, dienen doch alle Uniformen einzig dem Zweck, das Eigenleben jener, die sie tragen, zu veröden. Tatsächlich nimmt die Uniform alle erwarteten Bewegungen vorweg, die Art und Weise, wie eine Hand sich hebt, der Kopf sich in diese oder jene Richtung wendet. Beim Auf- und Abmarschieren über mehrspurige Fahrbahnen gilt es, ohne auf den Verkehr zu achten geradeaus zu schreiten, geradeaus zu blicken, nicht nach rechts und links zu schauen. Auffallend ungelenk erfolgt die Kommandoübergabe auf der Verkehrsinsel, unter einem Sonnenschirm, trotz aller choreographischen Übungen. Den Stolz dieser Mädchen zu sehen hat mich sehr berührt. Musste an meine eigene Geschichte denken. Auch wir wollten unser Bestes geben, dachten, es läge an uns. Dabei wurden wir wie in einem Marionettenspiel von unsichtbaren Fäden bewegt.
Die schönsten Mädchen mendeln den Verkehr, die vielen Autos, die an ihnen vorbeifahren. Mendeln, ja, das ist das richtige Wort, wirken ihre Bewegungen doch, als würden sie mit einem Pinsel Blütenpollen von einer blühenden Erbse auf die Blüte einer anderen Erbse übertragen, von rot- auf blaublühende Erbsen, von Erbsen mit gelben Samen auf solche, deren Samen grün sind. Pollen der einen Sorte auf die Narben anderer Sorten. Schwarze, violette, blaue, rote und gelbe Stiefmütterchen. Was für eine Variationsvielfalt! Die Stadt als Klostergarten. Statt eines beleibten Augustinermönchs die hübschesten Mädchen im paarungsbereiten Alter.[2] Kreuzungsexperimente sind ihnen jedoch strikt untersagt, ist es doch ihre Aufgabe, Verkehrsströme zu trennen, keine Mendeleien zwischen den Verkehrsteilnehmern zuzulassen. Dabei sind sie es, an denen allerlei Mendeleien betrieben werden.
„Nein, grau und trist,“ so erklärte mir eines der hübschen Mädchen, „das sind wir nicht. Wenn wir ausgehen, tragen wir gern helle und bunte Sachen, damit wir so schön sind wie unsere Stadt. Wir geben uns viel Mühe mit unserem Aussehen, mit den Haaren und so. Mein zukünftiger Mann, er muss nicht groß sein, nur so groß wie ich. Schön muss er nicht sein, aber charmant. Er muss treu sein, treu dem Land. Auch mir muss er treu sein, mich richtig lieben. Und weil ich schon immer eine Uniform tragen wollte, wünsche ich mir einen aus der Armee. Einen Mann in Uniform. Ich führe das Kommando über die größte Kreuzung. Es gilt den Verkehrsfluss unter allen möglichen Bedingungen zu optimieren. Grün, gelb und rot sind in unsere Körper geschrieben. Stets müssen wir besser werden. Es ist nicht nur eine Frage der Konzentration. Hingabe ist gefordert. Der Verkehr muss durch uns fließen, durch unsere Körper. Mit all unseren Sinnen nehmen wir ihn auf. Mögen auch strenge Regeln gelten, so lächeln wir doch. Wir sind das Gesicht der Stadt, die Blumen, wie unser großer Herr sagt. Blumen müssen schön sein. Im Winter tauschen wir die Röcke gegen Hosen, tragen Winterjacken mit Pelzkragen und Pelzmützen. Um die hat sich unser großer Herr selbst gekümmert. Er liebt uns Mädchen von der Verkehrsbrigade. Alle unsere Kleidungsstücke hat er für uns entworfen, ob Mütze, Gürtelschnalle, Söckchen oder Unterwäsche. Deshalb ist es uns, schlüpfen wir in unsere Wäsche, als berührte uns der große Herr. ER kleidet uns nicht nur. ER ist in mir und ich bin in ihm. Was für ein Glück, von IHM berührt zu werden.“ So das hübsche Mädchen.
Habe in einem türkischen Wäschegeschäft nach einem Stoff gesucht. Es fanden sich nur synthetische Stoffe. Bunteste Unterwäsche. BHs mit aufgedruckten Pfingstrosen. Vielleicht gibt es zu dieser Unterwäsche passende Bettwäsche und Vorhänge, um eine Art Mimikry zu betreiben. Mit der Bettwäsche verschwimmen, als Teil von Decken und Polstern betrachtet werden. Das stelle ich mir eher ernüchternd vor. Als ich in dem Alter war, in dem heranwachsende Mädchen gesehen und bewundert werden wollen, da gab es Augenblicke, da wünschte ich mir, mich unsichtbar zu machen. Ich wünschte mir einen Ornat in den Mustern und Farben der Umgebung, wollte mit dem Hintergrund verschmelzen wie ein braungeflecktes Tier mit dem Unterholz, wohin es sich zur Ruhe zurückzieht oder wo es auf der Lauer liegt. Die hübschesten Mädchen der Stadt. Obwohl all ihre Bewegungen wirken, als würden sie Rot, Gelb oder Grün pinseln, so verschwimmen sie doch mit dem Grau des Verkehrs. Und doch tun sie so, als gäben sie sich einer stundenlangen Geschlechtlichkeit hin, anders, dann aber doch nicht viel anders, als ich es erfahren habe.
Die Unterwäsche der Mädchen von der Verkehrsbrigade muss makellos weiß sein, aus Seide gefertigt. Kaum zu glauben bei all dem Kitsch, mit dem sich der große Herr umgibt. Auch die Sonnenschirme mit ihrem futuristisch anmutenden Design soll der große Herr entworfen haben. Die Mädchen sollen nicht nur zu den schönsten zählen, sie müssen auch jungfräulich sein. Es ist, als würde aus ihrem Schoß die neue Zeit geboren. Zeigen sich aber erste Zeichen einer Schwangerschaft, wird das betreffende Mädchen erbarmungslos ausgemustert. Mädchen der Verkehrsbrigade, dann die Mädchen der Vergnügungsbrigade. Leibtänzerinnen. Vier Kompanien ausgewählter junger Mädchen. Sie, die allerallerallerschönsten Mädchen, müssen ein viel strengeres Ausleseverfahren durchlaufen als die Mädchen von der Verkehrsbrigade. Mit Tanz und Gesang sollen sie den großen Herrn, IHN, der unter Langeweile leidet, aufmuntern. Der große Herr könne nur dann die schwere Last der Verantwortung tragen, werde er geliebt, sei er von Leibtänzerinnen umgeben. Ein schöner Körper genüge nicht. Nur Mädchen, die den Katzentanz vollkommen beherrschten, würden ausgewählt. Doch auch dies genüge nicht, wirkliche Hingabe sei gefordert. Über eine solche Hingabe verfügten unter zweihundert Mädchen höchstens drei. Auch über die Ausstattung und die Kostüme der Leibtänzerinnen habe der große Herr lange nachgedacht, viele seiner Entwürfe verworfen. Besonderes Augenmerk habe er Bändern und Knöpfen geschenkt, bereite es ihm doch großes Vergnügen, Mädchen vor versammelten Gästen aufzufordern, eine Schnur oder ein Band zu lösen, diese oder jene Knöpfe zu öffnen, um sich vor seinen Augen einem der Gäste hinzugeben. Und es verstehe sich von selbst, dass dies schwerste Züchtigungen zur Folge habe, habe sich doch das Mädchen, vom großen Herrn dazu aufgefordert, einem anderen, nicht ihm hingegeben. Später werden dieselben Mädchen sagen: Ich war so aufgeregt. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Er ist doch unser großer Herr. Ich habe mit ihm getanzt, ich durfte mit ihm zu Abend essen. Als ich ihm so nahe war, habe ich mich selbst vergessen. Meine Striemen, die lange geeitert haben, sind vernarbt.

Paul verdanke ich, dass ich den Park und alles, was damit zu tun hat, anders zu sehen begann. Er war es, der mir das Modell erklärte, all die Erfahrungen, die man in Jahrzehnten in der Rinderzucht gesammelt hatte. Die Kühe, die ich auf den Weiden sah, so sagte er mir, das seien keine wirklichen Kühe. Solche Kühe habe es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben. Sie verdankten sich der Zucht, dem Labor. Die Kühe dienten einzig der Produktion hochwertiger Embryonen, die von anderen Kühen ausgetragen würden. Ihre Milch sei bedeutungslos. Schon allein die andauernde Verabreichung von Hormonpräparaten mache sie für den menschlichen Genuss wertlos. Nicht auf die Milch, auf das genetische Potential käme es an. Jede Kuh sei eindeutig identifiziert. Wie wir trüge auch jede von ihnen einen Chip in ihrem Körper. Rund um die Uhr würden Daten erfasst und automatisch ausgewertet. Man wisse von jedem Tier, wie viel es fresse, wie es sich bewege, wann eine Kuh besamt werden müsse, welches Sperma zur Anwendung kommen solle, ob eine Besamung erfolgreich war oder nicht. Alles sei perfekt organisiert: Futterzuteilung, Besamung, Embryonenentnahme, ja selbst der Abtransport in den Schlachthof. Betrachte das Programm eine Kuh als unwirtschaftlich, und sei es nur ihres eigensinnigen Verhaltens wegen, so öffne sich während ihres Rundganges ein Selektionstor. Täglich würden sich mehrere Kühe in diesem abgegrenzten Bereich finden, aus dem es kein Zurück gebe. Kühe ließen sich leicht bewirtschaften, mache man sich ihre Bedürfnisse und Neigungen zunutze. Aus eigenem Antrieb suchten sie den Melkroboter auf. Es bedürfe keines einzigen Schlages, um sie in jene Box zu dirigieren, die ihren Tod bedeute. In eigenen Stallungen würden Stiere gehalten, aber eine Kuh begegne in ihrem ganzen Leben nicht einem Stier, wie auch kein Stier je eine Kuh zu Gesicht bekäme. Sperma sei viel zu kostbar, um an eine einzige Kuh verschwendet zu werden. Und so sei es auch mit den Kühen. Dass auch mein Leben nicht viel anders organisiert war, konnte ich mir damals noch nicht vorstellen.

In der Mitte des Parks ein turmartiges, anthrazitfarbenes Bauwerk mit quadratischem Grundriss, das hoch über die Baumkronen ragt, dessen vier obere Ecken gleich weiblichen Brüsten auskragen, was mir allerdings erst lange später bewusst wurde. Man nannte dieses Gebäude das REGISTER. Es schien keine Funktion zu haben. Einfach so stand der Turm da. Wie oft haben wir in seinem Schatten gespielt, ihn umrundet! Am Fuße des Turms eine schwere eisenbeschlagene Tür, zu der einige Stufen hinaufführen. Über der Tür stand in goldenen Lettern zu lesen: DIE AUGEN SIND DER HEIMLICHE DIEB DER SEELE.[3] Über die Bedeutung dieser Worte haben wir weder nachgedacht, noch wurden sie uns erklärt. Es waren einfach nur Buchstaben, die seit undenklichen Zeiten von der Wand strahlten, die keinen Sinn machten, deren Bedeutung niemand zu kennen schien. Das mächtige Portal stand nie offen. Nie sah man einen Menschen, der das Gebäude betreten oder verlassen hätte. Mit dem Turm verbanden sich allerhand Phantasien, auch bedrohliche. Kinder kennen noch so etwas wie ein instinktives Misstrauen. Die anderen Bauwerke des Parks waren uns vertraut, so etwa die Große Kammer, in der die Feiern stattfanden. Wir wussten aber nicht um ihre eigentliche Bedeutung, konnten es nicht wissen, blieb doch vieles unseren Blicken verborgen, wurde uns wesentliches nicht erklärt. Das gilt auch für den Garten, ganz zu schweigen vom Komplex, der sich hinter dem Garten unübersehbar in die Höhe schob. Wie das REGISTER war der Komplex für uns einfach da, nicht mehr und nicht weniger, zumal in unseren Kindertagen. Wir bemerkten den weißen, manchmal ins Graue sich färbenden Rauch nicht, der da und dort aus Schloten aufstieg. Wie ein Gebirge, das sich im Hintergrund abhebt, so können Rauchwolken zur Gewissheit werden, zum gewohnten Bild, und man würde sich ihrer erst bewusst, wären die Berge plötzlich verschwunden, wären keine Rauchwolken mehr zu sehen. Es fiel mir schwer, solches Deborah zu erklären, dass es keiner Gitter, keiner Zäune bedurfte. Zwar war uns das Betreten vieler Bereiche verboten, aber eingesperrt fühlten wir uns nicht. Wir fügten uns selbst in das, was von uns erwartet wurde. Wohl kaum eine von uns nahm je Anstoß daran, bestimmte Bereiche nicht betreten zu dürfen. Das war im Park so wie auch später, als wir im Programm waren, im Garten lebten. Frei sollten wir uns bewegen. Wir wurden nicht dazu gezwungen, ein Dasein als Geweihte zu führen. Wir mussten es nicht. Wir durften es. Hätte man uns von den Feiern ausgeschlossen, wir hätten dies als furchtbare Bestrafung empfunden. Lange bevor wir Geweihte wurden, war all das in uns eingeschrieben. Geweihte. Man nannte uns Geweihte. Auch wir nannten uns so, ohne darüber nachzudenken. Man hätte uns auch Unberührte, Fruchtbare, Auserwählte, Nymphen oder auch anders bezeichnen können. Was für einen Unterschied hätte das schon gemacht? Worten und Begriffen haftet etwas Unbestimmtes an. Wir sprachen von Müttern, Zofen, Badedienerinnen oder Dienerinnen, wussten aber nicht um die wirkliche Bedeutung all dieser Worte, wussten nur, dass es den Dienerinnen, den Sprachlosen, die unsere Tische deckten oder abräumten, die Böden wischten oder uns frische Wäsche bereitlegten, verboten war, mit uns zu sprechen. Nie hätten wir uns an sie gewandt. Dass die Verachtung, mit der wir ihnen begegneten, uns selbst treffen konnte, waren doch die Dienerinnen als Geweihte selbst im Programm gewesen, daran dachten wir nicht. Hätte man mich gefragt, als ich dreizehn Jahre alt war, zweifellos hätte ich geantwortet, sehr stolz zu sein, dass man mich als Geweihte auserkoren habe. Damals ging ich ganz in dieser Vorstellung auf.

„In der Rinderhaltung hat sich alles automatisieren lassen, Viehverkehr, Zuteilung des Kraftfutters, Brunsterkennung und Melken, nur eines nicht: die künstliche Besamung. REPRO TECH II, Pionier der automatisierten Brunsterkennung, ist es als erstem Hersteller gelungen, einen Besamungsroboter für Rinder zur Serienreife zu bringen. Mit dem VBS, dem vollautomatischen Besamungssystem von REPRO TECH II, lassen sich nicht nur Tierarztkosten senken. Wie Studien belegen, liegt die Befruchtungsrate deutlich über dem Durchschnitt konventioneller Besamungen, was sich positiv auf die Abkalbefrequenz und somit auf die Lebensleistung auswirkt. Die automatisierte Brunsterkennung ist tiefgreifend in das System integriert. Verlässt eine Kuh während des optimalen Befruchtungszeitpunktes (dieser dauert nur wenige Stunden) einen der Melkroboter, wird sie automatisch durch das Selektionstor SmartGate in die Besamungsbox dirigiert. Sensorgesteuert wird sie durch zwei mit widerstandsfähigem Schaumstoff gefütterte Wangen seitlich fixiert. Ist der Beckenbereich durch den sogenannten Mantel ruhiggestellt, tritt der eigentliche Besamungsarm in Tätigkeit. Auf stimulierende Druckbewegungen im Bereich der Schwanzwurzel folgt die Fixierung des Schwanzes. Die optimale Stimulierung führt zu einer höheren Befruchtungsrate. VBS arbeitet mit einem hydraulisch gesteuerten Multifunktionsarm mit vier Lasern und einem Bildverarbeitungssystem für schnelle und akkurate Organerkennung. VBS sieht buchstäblich die äußeren und inneren Genitalien. Das Reinigen und die Desinfektion des äußeren Genitalbereiches erledigt VBS mit größter Sorgfalt. Sowohl lange als auch kurze Kühe fühlen sich im VBS wohl. Der VBS-Multifunktionsarm hat keine Mühe mit anatomischen Unterschieden. Mit VBS müssen Sie also weniger Tiere selektieren. Und je weniger Tiere Sie schlachten oder verkaufen müssen, desto rentabler ist diese Investition für Sie. Hat der Roboterarm die Schamlippen gespreizt, schiebt sich sein steriler elastischer Mittelteil in den Vaginaltrakt und sucht sich den Gebärmutterhals. Jede Einschleppung von Keimen (etwa aus Kotabsatz) ist ausgeschlossen. Dank des mit Ultraschalltechnik ausgestatteten Roboterarms wie des ausgereiften Diagnoseprogramms AutoView erfolgt eine Besamung nur dann, wenn Eierstöcke und Gebärmutter keinen pathologischen Befund aufweisen, Zysten oder Infektionen ausgeschlossen sind. Beim Vorliegen eines Krankheitsbildes wird der Besamungsablauf unterbrochen und der Roboterarm kehrt in die Ausgangsstellung zurück. Automatisch ergeht an Sie eine Fehlermeldung sowie ein Protokoll. Werden keine Befunde erhoben, die gegen eine künstliche Besamung sprechen, fixiert der Roboterarm mit drei Fingern seiner sensorbestückten Multifunktionsspitze sanft den Gebärmutterhals, worauf sich sein Kernelement etwa 2 cm in den Gebärmutterkanal schiebt und unter leichtem Druck das auf Körpertemperatur gebrachte Ejakulat freigibt. Der Roboterarm des VBS hat keine Mühe, auf unterschiedliche Organlagen zu reagieren. Ist das Spermienmaterial abgegeben, zieht sich der Roboterarm schonend zurück, worauf sich die seitlichen Umklammerungswangen lösen und der Mantel sich hebt. Während sich die Besamungsbox öffnet und die Kuh wieder in den Freilaufbereich zurückkehrt, beginnt der Roboter mit der Desinfektion des Roboterarmes. Jede Kuh wird individuell besamt. Bereits zwei Stunden vor der Besamung bereitet sich VBS durch die Auswahl des optimalen Spermienmaterials darauf vor. Unser VBS weiß um den optimalen Befruchtungszeitpunkt, weiß, wann eine Kuh die Erlaubnis erhalten wird, den Melkroboter zu passieren. Der hydraulisch betriebene Roboterarm arbeitet schnell und leise, ist hart im Nehmen und sanft im Austeilen. Er arbeitet immer exakt auf dieselbe Weise, ganz so, wie es die Kühe mögen. Gefertigt aus verstärktem rostfreiem Stahl, genügt der Arm auch härtesten Bedingungen. Mit der Technologie des Multifunktionsarms betritt REPRO TECH II Neuland in der automatischen Besamung – immer mit der Ausrichtung auf noch höhere Zuverlässigkeit und Präzision. Dieser Arm wird nicht müde. Er verliert niemals die Geduld, sondern erledigt einfach die Besamung – während Sie sich um wichtigere Dinge kümmern können. Die Technik sollte sich an die Tiere anpassen, nicht umgekehrt. Deshalb erfolgt die Besamung in entspannter Atmosphäre und ohne Stress. Dadurch verbessern sich Tiergesundheit, Leistung und Nutzungsdauer. Die Kuh betritt den VBS ohne Angst, denn die Standfläche ist ohne Hindernisse ausgeführt. Die Besamungsstation bietet genügend Platz für die immer großrahmiger werdenden Kühe. In der Besamungsstation steht die Kuh auf einer ebenen, trittsicheren Gummimatte. Unter der Kuh gibt es während des Besamens keinerlei Technik, wodurch die Kuh entspannt, in natürlicher Beinstellung und ohne Verletzungsrisiko in der Besamungsstation steht. Es lohnt sich für Sie, wenn es Ihren Kühen gut geht. Damit Sie Zeit sparen, haben wir verschiedene Funktionen komplett automatisiert, um das System rund um die Uhr in einem einwandfreien hygienischen Zustand zu halten. Durch die programmierbare Standflächenreinigung stehen die Tiere immer auf sauberem Boden. Nach jeder Kuh wird der Besamungsarm innen und außen desinfiziert und in der keimfreien Ruhebox in Wartestellung gebracht. VBS erfasst alle relevanten Daten. Die Herdenmanagement-Software des Systems informiert Sie über den Status jeder Ihrer Kühe. Auf dieser Basis können Sie rechtzeitig die richtigen Entscheidungen treffen. Kühe sind Individuen, und VBS von REPRO TECH II behandelt sie als solche – ohne Kompromisse. Ein automatisches Besamungssystem besteht aus mehr als nur einem Besamungsroboter. Die Voraussetzung für ein funktionierendes System ist ein gut durchdachter Stall. Nutzen Sie unsere Kompetenz, unser Wissen und unsere Erfahrung aus mehr als 140 Jahren Zusammenarbeit mit Milcherzeugern in der ganzen Welt. Planen Sie Ihren Stall mit uns! Wir beherrschen alles, freien Kuhverkehr, selektiv gelenkten Kuhverkehr bis hin zu FeedFirst. Professionelle Stallplanung macht sich durch hohe Herdenleistung bei minimalem Arbeitseinsatz bezahlt. Für uns stehen immer die Interessen unserer Kunden – Ihre Interessen – im Vordergrund. Denn wir sind nur dann erfolgreich, wenn auch Sie Erfolg haben! Mit dieser Philosophie sind wir zum Weltmarktführer geworden! Wir leben in einer Zeit mit schnellen Veränderungen. Die Produktivität muss ständig gesteigert werden. Entscheiden Sie sich für den VBS von REPRO TECH II.“

Genaugenommen verdankt sich meine Existenz dem Rind. Wie ich heute weiß, wurde das Programm in der Rinderhaltung entwickelt und zur Serienreife gebracht. Es reifen nicht nur Früchte in Mutterleibern heran. Auch technische Systeme gelangen zur Reife. Rinder, ich denke dabei immer an Kühe, haben verständlicherweise eine große Bedeutung für mich. In den Rinderbetrieben, die an den Park angrenzen, soll es eine eigene Forschungsabteilung geben, die sich mit den Möglichkeiten beschäftigt, Kühe als Austragemütter menschlicher Embryonen zu nutzen. Transgene Geschöpfe. Das biotechnische Verfahren sei bereits weit fortgeschritten. Bislang, so erzählte mir Paul, soll allerdings noch kein Kind von einer Kuh ausgetragen worden sein. Auch bei einem komplikationslosen Schwangerschaftsverlauf werde spätestens im achten Monat ein Abort eingeleitet. Was sollte schrecklich daran sein, von einer Kuh ausgetragen zu werden? Es ist nur eine Frage der Betrachtung. Ich wäre lieber im Bauch einer Kuh herangereift als in dem einer Frau, die mir nie wirklich Mutter war. Mir wäre jede Kuh lieber. Ich stelle mir so eine Rinderleibeshöhle weniger beengt vor. In einem Kuhbauch zur Wahrnehmungsfähigkeit gelangen, das wäre doch eine sehr schöne Sache. Es wäre ein richtiges Schaukeln auf einem großen Haufen warmer Gedärme. Durch die Magen- und Darmtätigkeit würde man gleichsam ins Bewusstsein massiert. Und dann die großartige Geräuschwelt in einem Kuhinneren! Ein stetes Gurgeln und Plätschern. Denken Sie an den Geburtskanal. Da gäbe es kein Durchzwängen durch allzu enge Beckenknochen. Solche Säuglinge würden ohne blaue Flecken geboren. Sie würden gleichsam in die Welt flutschen, vorausgesetzt, Hände stünden bereit, sie aufzufangen. Natürlich denke ich dabei nicht an Kühe in computergesteuerten Ställen, nicht an das metallische Geklapper von Selektionstoren, nicht an Kühe, denen Futter verabreicht wird, das für den komplexen Rindermagen nur eine Beleidigung sein kann und andauernden Durchfall zur Folge hat. Auch nicht an Kühe, die in Kot traurig ihre Runden drehen, nicht an eine aseptische Rinderwelt mit gekachelten Wänden und Desinfektionswannen. Kühe als Austragemütter sollten sich frei im Gelände bewegen, auch bei Regen und Kälte, sie sollten sich ihre Nahrung selbst in offenen Buschlandschaften suchen. Sie sollten sich an Gebüsch reiben können, würden sie von Dasselfliegen geplagt, all das auch auf die Gefahr hin, dass sie die eine oder andere Frucht verwerfen würden, so nannte man das einmal, oder Neugeborene, die als Nesthocker auf menschliche Hände, Decken und anderes angewiesen sind, umkommen würden wie verlegte Eier. Was für eine schöne Vorstellung, von so einer Mutterkuh nach der Geburt trockengeleckt, also von oben bis unten bezeichnet zu werden: Da bist du ja, meine Kleine. Vergiss meine Schmerzen nicht.

Anmerkungen
Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.

[1] „... mischt sich brüllend unter die Rinder und wandelt auf weichem Gras in blendender Schönheit, denn seine Farbe ist wie Schnee, in dem noch kein fester Tritt seine Spur hinterließ und den noch nicht der regenbringende Südwind durchweichte.“ [Jupiter, der sich Europa, der Tochter des Agenor, in Gestalt eines Stieres nähert. Ovid, „Metamorphosen“.]

[2] [Anspielung auf den Augustinermönch Gregor Johann Mendel (1822 – 1884) und die nach ihm benannten mendelschen Regeln der Vererbung.]

[3] [Wohl Konrad von Megenbergs „Buch der Natur“ entnommen. Bezieht sich auf das Fabelwesen Cathapleba, dessen unzüchtiger Blick tödlich sein soll.]