Kapitel 20

Sie sind jetzt ganz ruhig
Sie haben Ihre Augenlider geschlossen
Sie liegen in einem Boot
Sie liegen auf einer weichen Decke
Ihr Körper ist jetzt ganz leicht
Das Boot trägt Sie in den See des Schlafs
Sie sind ganz aufgehoben in Raum und Zeit
Nicht länger spüren Sie die Schwerkraft
All Ihre Sorgen haben Sie abgestreift
Ihr rechtes Knie ist ganz warm
Ruhig liegt es auf
Ihr linkes Knie ist ganz warm
Sie sind sehr müde ...
Sie haben alle Anstrengung hinter sich gelassen...
Sie werden in einen tiefen Schlaf fallen
... in einen sehr tiefen Schlaf
Ihr linkes Knie ....
Sie haben Ihre Augen geschlossen
Ihr rechtes Knie ...
Ihr rechtes Augenlid ...
Ihr Nacken ist jetzt ganz entspannt Ihr Kopf liegt schwer auf
... und ist doch leicht wie eine Feder
Es ist, als wiegte Sie ihre Mutter in den Schlaf
Als lägen Sie schlaftrunken in den Armen Ihrer Geliebten
Ihr rechtes Handgelenk ist ganz warm
Der See des Schlafs wird Sie tragen
... wie Ihre Mutter Sie getragen hat
keine störenden Gedanken
nur Schlaf
ein tiefer Schlaf
ein ganz tiefer Schlaf
ein ganz tiefer Schlaf, der Sie alles vergessen lassen wird
... ein gabelförmiges Rohr voller pulverisierter Diamanten
... Ihr rechter Arm ist ganz schwer
.... ein kleiner Spiegel, der allem, was sich zeigt, das Bild raubt und wieder zurückgibt
... Ihr linkes Knie ist ganz schwer ...
.... im Königreich der Luchse
Sie ruhen in der Mitte Ihres Leibes
Es ist, als wiegte Sie Ihre Mutter in den Schlaf
... aus der Tiefe des Sees ist nur noch ein fernes Echo Ihrer Gedanken zu hören
Sie werden getragen vom tiefen Blau des Sees des Schlafs
.... nur noch aus weiter Ferne ist das Gekrächze von Hähern, Papageien, Elstern, Staren, Hänflingen und Finken zu hören ...
... sanft schweben Sie dahin
... Sie tauchen ein in den See des Schlafs
.... Sie tauchen ein in den See, der keine Wiederkehr kennt
.... sein schimmerndes Wasser glitzert nach allen Seiten
.... in seinem Schlamm wächst der Nieswurz, dessen Wurzeln sich in langen Fäden ausbreiten und das Wasser reinigen Ihr rechtes Knie ....
.......... Knie ............
................Fuß ..............
.................... Ihr rechter ..................
.........................Ihr .........................
.... auf dem weichen Gras, das die Ufer säumt, wiegen eine Million Elefanten ihre Köpfe .....
......... Ihr Kopf
................. leicht wie eine Feder ..................... Feder ...................... Feder ...............
.............leicht ..................... ganz leicht
............................ Schlaf
Zärtlich tasten die Elefanten mit den Spitzen ihrer Rüssel die Gesichter ab
.................. ein ganz tiefer Schlaf
............................. tiefer Schlaf
................................... tiefer und tiefer
.... Knie ................... Haus .................. Hund .................... Garten .................. Blume
...... Schlaf .................... Hund ............................. Knie ....................
.......................tiefer .....................tiefer .........................tiefer ................
... dorthin, wo der Strom des Lebens in sich selbst zurückfließt
........... tiefer ................. tiefer ...........
........... Knie .....
.... tiefer ..........
........................
.............



„Du kannst aufhören. Das Herz schlägt nicht mehr. Keine Gehirnaktivitäten. Für heute ist Schluss. Das war die Letzte. Für den Rest sind andere zuständig.“
„Oder Maschinen. Menschen braucht es nur noch, um andere in den Tod zu sprechen. Wir Sterberedner. Unsere menschliche Stimme. Sanfte Stimmen sollen es sein. Dem langsamer werdenden Herzschlag entsprechend. Eine technische Stimme könnte das nie. Trotz aller Schauspielerei, ohne Lebenserfahrung funktionierte es nicht.“
„Man muss schon einmal in Panik gefallen sein, eine Mutter gehabt haben, die einen auf den Schoß nahm und tröstete. Ich habe Hunger. Hast du auch Lust auf ein Bier?“
„Du bist jetzt sehr müde. Dein rechtes Knie ist ganz warm ...“
„Willst du mich verarschen? Ich mache hier nur meinen Job. Andere fälschen Bilanzen, um Geld zu verdienen, oder unterrichten Kinder. Ich rede Menschen, die ihres Lebens müde sind, in den Tod, in einen tiefen, tiefen, sanften Schlaf.“
„Ist doch alles zum Kotzen. Kaum haben wir das letzte Wort gesprochen, steht die Verwertungsabteilung bereit.“
„Was geht mich das an? Wir sitzen in unserem Wächterhäuschen über dem See. Beste Aussicht. Eine beeindruckende Naturlandschaft. Ein sehr friedlicher Ort. Auch die Architektur des Wächterhäuschens ist bestechend. Willst du dein Leben in einem Büro verbringen?“
„Du bist wohl stolz auf deine Priesterwürde. Früher hast du vermutlich Staubsauger verkauft. Den Leuten etwas vorgeschwatzt, etwas versprochen, was ihnen niemand zu geben vermag. Ich kann da keinen großen Unterschied sehen ...“
„Ich glaube an den See des Schlafs. Besser kann man sein Leben nicht beenden. Du würdest doch auch mich in den Tod sprechen? Darin bist du viel besser als ich. Das hat sogar die Kontrollabteilung bestätigt. Herzstillstand, im Durchschnitt siebzehn Sekunden rascher. Nur Max von Sydow, lebte er noch, könnte es besser. Hast du die diesbezügliche Prämie etwa abgelehnt? Also ich ...“
„Vergiss doch diesen ganzen Quatsch. Ich würde lieber Staubsauger verkaufen als in diesem beschissenen Gebäude, das sich ein beschissener Architekt ausgedacht hat, andere in den Tod zu sprechen. Ein Architekt, der wohl gemeint hat, der Tod brauche so etwas wie ein symbolisches Bauwerk. Und dann der Blick auf diesen beschissenen See, den man nicht einmal sieht, von dem nur wir wissen, damit wir uns ihm nicht nähern. Da gibt es kein Blau. In diesem See spiegeln sich keine Berge, keine Bäume. Nicht einmal Wasser kennt dieser See. Nur eine Art Nebel, von dem ich nicht weiß, ob ich ihn mir bloß einbilde. Hinunter starren auf einen See, den es gar nicht gibt. Ein giftiges Gas, schwerer als Luft, ein Gas, das Sauerstoff verdrängt.“
„Du entsprichst den Erwartungen nicht, die an dich gestellt werden. Eigentlich müsste ich dein Verhalten der Kontrollabteilung melden. Du bist ein Sicherheitsrisiko. Vielleicht solltest du eine Auszeit nehmen.“
„Ruf doch an. Man wird dich mit einer Prämie belohnen!“
„Kannst du denn nicht sehen, wie perfekt, wie großartig hier alles organisiert ist? Während des Versuchsstadiums, ja, damals hätte ich deine Kritik verstanden. Da lief nicht alles so glatt. Es gab Störfälle. Schnappatmung. Motorische Unruhe.[1] Kein Problem mehr. Der See, also das Gasgemisch, kennt heute feinste Duftnoten, ätherische Öle, die beruhigend auf das Zentralnervensystem wirken. Man wird es auch noch schaffen, den See des Schlafs sichtbar zu machen ...“
„Hör doch auf mit deinem Gefasel. Sind dir nicht die vielen Frauen und Mädchen aufgefallen, die wir seit Wochen abarbeiten? Sie scheinen mir nicht sehr lebensmüde. Unter ihnen nicht eine, die gebrechlich war, manche von ihnen sehr jung, fast noch Kinder. Hast du ihre seltsame Kleidung bemerkt? Und wie sie sich ins Boot legen, eine nach der anderen, ganz so, als habe man ihnen solches von Kind an eingetrichtert. Erinnerst du dich nicht an das Mädchen, das aus dem Boot kletterte, mit letzter Kraft versuchte, dem See zu entkommen? Was ihm nicht gelang, nicht gelingen konnte. Du sprichst wie jemand aus der Marketingabteilung. Als wolltest du dich selbst in das Boot legen. Dabei weißt du nur zu gut, was es mit diesem Sterben auf sich hat. Das hat sich wohl auch unser Architekt ausgedacht ... das Boot trägt Sie in den See des Schlafs ... Ja, es sieht aus wie ein Boot. Aber es ist schwimmuntauglich, als hätte man es leckgeschlagen. Man brauchte es nicht leckzuschlagen. Taucht es in den See, der kein See ist, kein Wasser kennt, so trägt es nicht. Keinen einzigen, keine einzige, nicht einmal ein Kind. Alle saufen ab. Schwimmuntauglich. Bewegt sich auf Schienen. Ein Eisenbahngefährt. Hinunter in den Tod, dann hinauf in die Verwertungsabteilung. Was sich nicht verwerten lässt, landet in der Verbrennungsanlage, wo die Abwärme genutzt wird, um das Ganze in Gang zu halten.[2] Wie oft wünsche ich mir hier einen Störfall, eine Schnappatmung, die eines Passagiers, die des ganzen Unternehmens. Möge doch die gewonnene Energie eines Menschen, dem wir Totenredner waren, sinnlos verpuffen, die Abwärme verlorengehen, das Ganze zum Stillstand kommen, mögen die Kollegen in der Kontrollabteilung frieren, das Licht erlöschen. Du mit deinem See des Schlafs. Du bist längst schon eingeschlafen. Wir brauchen Störungen. Das macht den Menschen aus ... Ihr Knie ist jetzt ganz schwer. Sie haben Ihre Augenlider geschlossen ... Ficken Sie sich doch selbst. Es gibt kein Zurück. In wenigen Augenblicken werden Sie tot sein! Aber nehmen Sie den Gedanken mit, dass wir Sie nur bewirtschaftet haben, dass es mir gar nicht gefällt, Sie mit meiner Stimme in den Schlaf zu wiegen. Wachen sie auf, wenigstens für einen Augenblick. Denken Sie an die Sortier- und Gefrierabteilung ...“


Anmerkungen
Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.

[1] [Anspielung auf das bereits lange zuvor in großen Schlachthöfen praktizierte Verfahren, Schweine mittels Kohlendioxid zu betäuben. Dabei werden Schweine über eine Art Paternoster in eine Grube gefahren, deren Luft mindestens 70 Prozent Kohlendioxid enthält. Nach dem Eintauchen verhalten sich die Tiere etwa zehn Sekunden lang ruhig. Dann setzt Schnappatmung ein. Sie beginnen zu zittern. Der Blick wird starr. Es folgt eine Phase hoher motorischer Unruhe in der Dauer von 10 bis 15 Sekunden. Die Schweine husten, versuchen zu fliehen, ringen krampfhaft nach Luft. Schließlich fallen sie um und rudern mit den Beinen bis zur völligen Erschlaffung, worauf die Vorrichtung sie wenige Augenblicke später betäubt in den Schlachtraum kippt. Der ganze Vorgang dauert maximal zwei Minuten.]

[2] [Heute lässt sich die in Krematorien anfallende Abwärme nutzen, etwa für die Beheizung von Verwaltungsgebäuden. Der moderne Mensch, hemmungslos im Umgang mit Ressourcen, übt sich als Abfallvermeider und betrachtet seinen Körper als Recyclingobjekt.]