Erzählen Sie mir die Kriegserlebnisse Ihres Vaters oder Großvaters!




Erzählen Sie mir die Kriegserlebnisse Ihres Vaters oder Großvaters! Jetzt liegt der Zweite Weltkrieg siebzig Jahre hinter uns. Da muss sich doch jede Erinnerung verflüchtigt haben. Bleiben da nicht nur Informationen und Bilder, die wir aus Medien kennen?

Wirklich erinnern können sich nur jene, die den Krieg erlebt haben. Aber es gibt noch eine andere Form des Erinnerns. Ich denke an die Weitergabe von Erfahrungen an die Kinder und Kindeskinder. Und das geschieht weniger über das Erzählte, als durch bestimmte Haltungen, Stereotypen oder durch das Schweigen. Meine Generation ist noch mit Kriegsgeschichten aufgewachsen. Die meisten meiner Lehrer waren im Krieg, einige davon auch in Stalingrad. Die Kriegsgeschichten, die Erwachsene in unserer Kindheit erzählt haben, hatten eher mit Verdrängung zu tun. Die meisten dieser Geschichten waren anekdotisch. Die Begeisterung für Hitler wurde ausgeblendet. Die Form der Erinnerung, an die ich denke, geschieht weitgehend unbewusst, gewissermaßen zwischen den Zeilen, zwischen den Worten. Die Gewalttätigkeit von Lehrern sahen wir als Folge unseres flegelhaften Verhaltens. Das hatte man uns so eingetrichtert. Heute weiß ich, dass diese Lehrer wie viele Erwachsene meiner Kindheit maßlose Gewalterfahrungen erlebt haben. Und da sie keine Sprache hatten, arbeiteten sie diese an uns Kindern ab. Die brüchtigste Strafe in der Schule, die ich besuchte, nannte sich Trommelfeuer.

Aber das liegt doch lange zurück.

Und trotzdem ist die NS-Zeit wie der Zweite Weltkrieg gegenwärtig. In der Auseinandersetzung mit Kriegserfahrungen fällt mir immer wieder auf, dass vieles nicht angetastet werden darf. Der Vater sei Nazigegner gewesen, er habe im Krieg nur Panzer repariert oder in Finnland nur Bilder gemalt. Wenn jemand nicht müde wird, die Kriegsverbrechen der Alliierten anzuklagen, dann macht es deutlich, wie sehr die Vergangenheit in die Gegenwart reicht. Kinder, die aus Opferfamilien stammen, haben die Vergangenheit deutlich eingeschrieben. Das gilt, wenn auch auf andere Weise, auch für Kinder, deren Eltern oder Großeltern Mitläufer waren oder zu den Tätern zählten.

Es gibt viele, die meinen, man solle doch endlich die Vergangenheit vergessen.

Wenn das so einfach wäre. Es gibt noch einen anderen Grund, warum ich die Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg lohnend finde. Wir erleben im Augenblick eine Reihe von Kriegen, denken Sie etwa an Syrien, die wie das Beispiel der Flüchtlinge zeigt, auch uns tangieren. Man sieht vieles anders, beschäftigt man sich mit dem Zweiten Weltkrieg, der gar nicht so lange zurück liegt. Heute werden Flüchtlinge als Bedrohung wahrgenommen. Da lohnt es sich an die Millionen Vertriebenen zu erinnern, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Österreich und Deutschland gestrandet sind. Auch daran, dass all diese Vertreibungen ursächlich in nationalistischen Ideologien, allen voran in der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus gründeten. Heute haben solche Heilsversprechen wieder Konjunktur.

Sie arbeiten auch mit Feldpostbriefen oder anderen Dokumenten.

Ja, aber immer nur auf konkrete Familiengeschichten bezogen. Feldpostbriefe oder Kriegstagebücher können helfen, die eigene Familiengeschichte, die NS-Zeit anders zu sehen.

Feldpostbriefe lesen sich doch in der Regel ziemlich trivial.

Da haben Sie nicht unrecht. Aber gleichzeitig sind es wichtige Quellen, die ganz gut als Korrektiv der Erinnerung dienen können. Und dann lässt sich manche Überraschung darin finden. Erst in der Beschäftigung mit Feldpostbriefen ist mir so richtig bewusst geworden, dass das Wehrmachtsunternehmen als einziger Raubzug angelegt war, in dem einfache Soldaten auch gehörig zusammenrafften. Ein banales Beispiel aus einem Feldpostbrief, den ein Lusterauer schrieb: "In diesem Paket befinden sich 2 wunderschöne Ölgemälde, die ich aus einem verlassenen Palast herausnahm."

Finden sich in Feldpostbriefen auch erfreuliche Überraschungen?

Es gibt berührende Dokumente, die von Schrecken oder auch Mitgefühl zeugen. Aber das sind Ausnahmen.

Sie haben für das Projekt einen eigenen Raum eingerichtet.

Ja. Will man sich der Vergangenheit stellen, dann empfiehlt es sich, aus dem Alltäglichen herauszutreten. Ich unterhalte mich zwar auch in Lokalen oder an anderen Orten über Kriegserfahrungen oder die NS-Zeit, aber es hat etwas für sich, darüber in einem Raum zu sprechen, der eigens dafür eingerichtet ist.

Man muss sich anmelden, einen Termin vereinbaren.

Ich kann bestenfalls einem Menschen, vielleicht zwei Menschen zuhören. Nennen Sie mir zwei Bücher, die Ihnen wichtig sind.

Sándor Ferenczis Klinisches Tagebuch aus dem Jahr 1932. Das Buch hat nichts mit der NS-Zeit zu tun, geht es doch um kindliche Traumatisierungen, um Missbrauchsgeschichten. Aber es ist ein Schlüsselwerk, was das Erinnern betrifft. Dann Victor Klemperers Tagebücher aus den Jahren 1933 - 1945. Eine sehr lohnende Gegenlektüre zu all den Geschichten, mit denen wir aufgewachsen sind und die nach wie vor uns umwuchern. Lesenswert auch die Bücher der russischen Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch.

Lässt sich aus der Geschichte lernen?

Nur bedingt, da sich Geschichte ja nicht wiederholt. Aber will man die Gegenwart besser verstehen, dann muss man sich mit der Vergangenheit beschäftigen. Ich möchte es mit Primo Levi beantworten. Er schrieb: "Ich glaube, in den Schrecken des Dritten Reichs ein einzigartiges, exemplarisches, symbolisches Geschehen zu erkennen, dessen Bedeutung allerdings noch nicht erhellt wurde: die Vorankündigung einer noch größeren Katastrophe, die über der ganzen Menschheit schwebt und nur dann abgewendet werden kann, wenn wir alle es wirklich fertigbringen, Vergangenes zu begreifen, Drohendes zu bannen."

Georg Neurath im Gespräch mit Bernhard Kathan

HIDDEN MUSEUM - Fraxern
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