KÖNNEN KÜHE TRÄUMEN?
Eine Klanginstallation von Andrea Sodomka

„Der Geburtenrückgang in den frühen 1970er Jahren wurde als Folge der Einführung der Pille erklärt und deshalb als ‚Pillenknick‘ bezeichnet. Namhafte Studien konnten später schlüssig belegen, dass die Pille für den Geburtenrückgang nicht ausschlaggebend war. Von größerer Bedeutung waren der ökonomische und technologische Wandel, Mobilität, Bildungsmöglichkeiten, die „freie“ Berufs- und Partnerwahl. Der Geburtenrückgang fiel im Alpenraum zeitlich mit der Einführung der Silage und dem Niedergang der Heuställe zusammen. Silage hat sich nicht sehr förderlich für das menschliche Paarungsverhalten erwiesen. Wir brauchen wieder mehr Heuställe und Bauern eine Heustallpaarungsförderung. Die Klanginstallation setzt genau hier an. Das Heu ist frisch. Magerwiesenheu, kurzfaserig und wohlduftend. Bitte nicht mit Schuhen betreten. Dass man nicht rauchen darf, versteht sich von selbst.“


Kühe gelten allgemein als ruhige Tiere. Insbesondere das Wiederkäuen scheint eine geruhsame Angelegenheit zu sein. Wer sich aber genauer mit Kühen beschäftigt, der wird sehen, dass Nahrungsaufnahme und Verdauung mit einem enormen Energieaufwand verknüpft sind. Das Maschinelle wird zumeist übersehen. Vilém Flusser notierte: „Kühe sind effiziente Maschinen zum Verwandeln von Gras in Milch.“ In der heutigen Rinderhaltung, die der Milchwirtschaft dient, verdoppelt sich das Maschinelle des Tierkörpers in den technischen Habitaten, in denen sich Kühe maschinengesteuert bewegen und so noch einmal maschinenähnlicher werden. Wir haben es nicht mit Schnittstellen zwischen Maschine und Tier zu tun, sondern mit der Überlappung von Lebendigem und Maschinellem, wobei ein computergesteuerter Kuhstall selbst Züge des Lebendigen tragen kann.

Genau hier setzt Andrea Sodomkas Klanginstallation an. Atmende und stöhnende Kühe. Rhythmische, treibende, pulsierende Geräusche, die an eine Maschinenhalle, an Fließbänder und Roboter denken lassen. Das Ausgangsmaterial verdankt sich Tonaufnahmen aus unterschiedlichen Anbindeställen. Sitzt man abends in solch einem Stall, dann mag man eine angenehme Ruhe empfinden. Hört man sich allerdings im Nachhinein solche Aufnahmen an, dann stören die vielen Nebengeräusche, wie Selbsttränken oder Ketten, die an das Eisengestänge schlagen. Da sich solches Klangmaterial nur sehr bedingt verwenden lässt, entschied sich Sodomka dafür, mit Kleinstpartikeln solcher Aufnahmen zu arbeiten: „Ich hab versucht, die ‚maschinenaesthetik‘ dezent zu zitieren ... aber die ist ja da, in jedem klang der originalaufnahmen. Meine maschine kuh ist natuerlich stark gepraegt von der soundbearbeitung ... d.h. ich habe zuerst alle ‚stoergeraeusche‘ rausgeschnitten, isoliert, und die, die ich wollte, in meinen eigenen rhythmus und klang gebracht. Der atem, das stoehnen und das ruelpsen waren mir wichtig ... aber auch die ketten ... in dieser komposition ist kein einziger unbearbeiteter ‚originalsound‘, virtuell wiederkaeuende rinder ...“ Die Klanginstallation gibt nicht vor, einen Kuhstall akustisch abzubilden. Vielmehr ist sie Ausdruck des Versuchs einer Annäherung an die Geräuschwelt eines Kuhstalls, und zwar bezugnehmend auf Gespräche, die wir im Vorfeld über das Wiederkäuen, die Ruhephasen von Rindern (... können Kühe träumen?) oder das Maschinelle geführt haben: „Gemeinsam mit dem atmen, den wiederkaeugeraeuschen, den nebengeraeuschen, ergibt es eine hyperreale situation. Eine kuhmaschine – eine maschinenkuh ……………. trotzdem atmen, atmen, leben … meditationsmusik irgendwie.“ Das Rohmaterial wurde also in eine Struktur gebracht, die einerseits an eine Maschine, an eine Maschinenhalle denken lässt, andererseits an Kühe, die zur Ruhe kommen.

Die Arbeit mit akustischen Kleinstpartikeln erlaubt es, auch den störendsten Nebengeräuschen ihren Platz und eine Wendung zu geben. Eine rasselnde Kette mag nun als leises Rieseln wahrgenommen werden, als glöckchenhafter Klang, der aus der Ferne kommt. Atemgeräusche – stets handelt es sich um kräftiges Ausstoßen von Atemluft – können auch so bearbeitet sein, dass sie an Pumpgeräusche denken lassen, an das Hineinschwappen von Milch in ein großes Sammelgefäß.

Formal haben wir es mit einer Kreisform zu tun, in der einzelne Geräuschpartikel so versetzt sind und sich so überlagern, dass sich ein pulsierender Rhythmus ergibt. Aus dem Klangstrom können sich einzelne Geräusche – dies gilt insbesondere für das Stöhnen, für das Rülpsen wie auch für Atemgeräusche – strukturgebend abheben. Das Musikstück kennt einen Spannungsbogen, einen durchaus dramatischen Aufbau. Es dauert etwa 17 Minuten, funktioniert als Loop, Anfang und Ende gehen nahtlos ineinander über.

Während sich zur formalen Struktur dieses oder jenes sagen lässt, ist es schwierig, die Wirkung des Stücks anderen mitzuteilen. Auch wenn man es großartig findet, ist nichts damit gesagt, wenn man schreibt, das Stück sei toll. Es gibt aber verlässliche Indikatoren. Wer immer in Ausstellungsprojekten Erfahrungen mit elektroakustischen Arbeiten gesammelt hat, der weiß, wie schnell solche Klanginstallationen einem auf die Nerven gehen können. Inzwischen habe ich mir Sodomkas Arbeit wiederholt angehört, im Heu liegend oder auch sitzend. Ich empfand sie nie als langweilig, immer wieder als höchst anregend, auch unterhaltsam, vorausgesetzt, ich hörte allein zu, war nicht durch anderes oder andere abgelenkt. Unterhalte ich mich mit einem Besucher, während im Hintergrund die Klanginstallation zu hören ist, dann wirkt sie störend. Man kann nicht gleichzeitig solcher Musik und einem anderen zuhören. Das gilt auch für die tollsten Stücke von Schubert.

Umgekehrt lässt sich auch sagen, dass sich Sodomkas Arbeit nicht für die Beschallung eines Geschäftes, eines Lokals oder einer Arztpraxis eignet. Ironischerweise wurden die aus ästhetischen Gründen verwendeten Kugel- oder Lampenlautsprecher gerade für solche Orte entwickelt, für die Beschallung eines sich drängelnden und drängenden Publikums, für eine Musik also, die unerträglich wäre, würde man genauer hinhören. Sodomkas Arbeit zwingt dagegen geradezu zum Hinhören.

Mir fielen beim An- und Hinhören viele Bilder ein, mögliche und unmögliche. Ein moderner Melkstand drängt sich geradezu auf. Auch Bilder der Kindheit. Schnaubende Kühe. Wassertropfen auf Mäulern. Unmöglich dagegen folgendes Bild: In einer mit hoher Geschwindigkeit fahrenden U-Bahn stehen Kühe. Sie strecken ihre Köpfe durch die geöffneten Fenster und atmen in die Nacht hinein, in das Dunkel. Auch buddhistische Mönche mit ihrem Gesang kamen mir in den Sinn. Ganz im Widerspruch zu den ersten Eindrücken übt Sodomkas Klanginstallation eine beruhigende Wirkung aus. Sie dachte während der Arbeit, man solle hineinfallen können. Besucher meinten wiederholt, die Soundarbeit habe sehr beruhigend auf sie gewirkt: „Die Geräusche, die zu hören sind, sind wie eine Decke, wenn sie aufhören, fehlt etwas. Ich fühlte mich wie Jonas im Magen des Wales.“

Sodomka war es wichtig, dass man sich hineinfallen lassen kann, in das Heubett, in die Klangwelt. Aber mit „Landlust“-Retro haben weder das Projekt noch ihre Arbeit etwas gemein, haben wir es doch mit einer Einladung zu tun, uns in eine alles andere als heile Welt hineinzudenken. Wäre es anders, dann würden wir das Projekt etwa in folgender Weise bewerben: „Haben Sie auch schon mal von einem Heubett geträumt? Entspannen Sie im Heu und fühlen Sie, wie gut es Sie wärmt. Die Kraft der Natur für Ihre Entspannung. In der Wohlfühloase am Grüblerhof.“ Mit einem Heubett haben wir es tatsächlich zu tun, nicht aber mit einer Wohlfühloase. Und schon gar nicht glauben wir an die Kraft der Natur. Bezeichnenderweise wird die Publikumszeitschrift „Landlust“ von einem Landwirtschaftsverlag herausgegeben, dessen Kernpublikum Bauern bilden, die ganz andere Vorstellungen vom Landleben haben als die Leser des besagten Magazins. Sie wollen informiert sein über Agrotechnik, neueste Entwicklungen in der Rinder- und Schweinehaltung, über Schweinezucht und Schweinemast. Daran denken die Leser des Magazins, es sind vor allem Leserinnen zwischen 40 und 60 Jahren, freilich nicht. Während „Landlust“ wie zahlreiche ähnliche Magazine Sehnsüchte befriedigt, also dem Landkitsch zuzuordnen ist, weist Sodomkas Klanginstallation in eine unvertraute Welt: „Ich will diese ‚kuhmaschine‘, diese heile nicht existierende heumilchwelt mit meinen soundmitteln erzaehlen, noisige brueche und muuuhh ...“ Dass die Musik dabei durchaus entspannend wirken kann, muss kein Widerspruch dazu sein.

Die Klanginstallation ist ganz auf den Raum abgestimmt. Beide Elemente korrespondieren in einem hohen Maß miteinander. Sodomka hat ihre Arbeit installativ gedacht, als eines von mehreren Elementen einer räumlichen und situativen Anordnung. Der Raum lässt durch das viele Heu einerseits an einen Heustall, durch seine Möblierung andererseits an ein Hotelzimmer denken. „Zimmer für eine Liebesnacht“, so einer der Besucher. Es sind mehrere Sinne angesprochen, auch der Geruchs- und der Sehsinn, wobei die Lichtwirkung je nach Witterung und Tageszeit sehr unterschiedlich sein kann. Ähnliches lässt sich auch über die Gerüche sagen. Nicht unwesentlich ist der Geruch, den das Heu verströmt. Allein schon aufgrund dieses Geruchs fallen einem bestimmte Bilder ein. An heißen Tagen riecht das Heu anders als an regnerischen. Es ist eben kein völlig abgeschirmter Raum. Gerade in diesem Projekt schiene mir ein Raum mit gleichbleibenden Lichtverhältnissen und konstanter Temperatur widersinnig. Da das Licht auch tagsüber durch einen Vorhang gedämpft ist, tritt der Sehsinn zugunsten des Hörsinns und des Geruchssinns in den Hintergrund. Außengeräusche können sich durchaus mit der Klanginstallation überlagern. Sie sind mitgedacht, das Zirpen der Grillen an heißen Tagen, der Lärm von Landmaschinen oder Sportflugzeugen, das sirrende Geräusch von Segelflugzeugen, Vogelstimmen, nach Einbruch der Dunkelheit Rufe eines Käuzchens oder einer Waldohreule.

Weiters sind taktile Erfahrungen von Bedeutung. Liegend nimmt man anders wahr, und liegt man weich auf Heu, dann noch einmal anders. Dass man sich entspannen kann, verdankt sich nicht zuletzt auch dem Raum und seiner Einrichtung. Nicht jeder Besucher legt sich übrigens ins Heu. Das hat nicht nur damit zu tun, dass man sich im Heu schmutzig machen könnte – man kann ja eine weiße Decke aufs Heu breiten. Entscheidender ist die Preisgabe. Liegend gibt man Haltung auf, vor allem im Heu, versinkt man doch darin.

Im Augenblick ist die Klanginstallation in ländlicher Gegend zu hören. Aber sie würde auch ganz gut in eine leerstehende Maschinenhalle passen, etwa, um ein Beispiel zu nennen, in die Halle, die vom KUNSTRAUM DORNBIRN bespielt wird. Freilich müsste man auch in solchen Räumen an ein Binnenklima denken, an einen Raum im Raum. In einer solchen Halle könnte sich das Heubett zum Pool wandeln, das individuelle Erlebnis zugunsten einer Gruppenerfahrung verschieben.
Sodomkas Klanginstallation lässt sehr unterschiedliche Hörweisen zu. Wer mit Rinderställen vertraut ist, wird sie verständlicherweise ganz anders hören als jemand, der nie etwas mit Kühen zu tun gehabt hat. Es können sich auch ganz andere Assoziationsräume öffnen. Man kann sich die Kuh oder die Rinderhaltung als Modell künftiger Menschenbewirtschaftung denken, die Vilém Flusser so beschreibt: „Unsere Phantasie sträubt sich, sich die Folgen vorzustellen. Es ist indessen nötig, dieser Gefahr ins Auge zu sehen und die Phantasie zu zwingen. Sie enthüllt einen Blick auf die Menschheit als eine Herde von Kühen. Eine weidende und wiederkauende, zufriedene und unbewußte Menschheit, die Gras konsumieren wird, die Milch erzeugt für eine unsichtbare Elite von ‚Hirten‘, die an ihr Interesse hat. Eine solche Menschheit wird sanft und geschickt manipuliert werden, so daß sie sich für frei halten wird. Das wird infolge des automatischen Funktionierens der Kuh möglich sein. Die eingebildete Freiheit wird die Manipulation durch den Hirten vollkommen verdecken. Das Leben wird sich auf die typischen Funktionen der Kuh beschränken: Geburt, Konsumieren, Wiederkäuen, Erzeugung, Muße, Reproduktion, Tod. Eine paradiesische und erschreckende Aussicht. Sehen wir bei der Betrachtung der Kuh nicht den Menschen von morgen? Die Zukunft ist bislang nur eine Möglichkeit. Es ist noch Zeit einzugreifen. Der Fortschritt verläuft nicht automatisch, sondern ist Folge des menschlichen Willens und der menschlichen Freiheit. Der Fortschritt in Richtung Kuh ist noch aufzuhalten. Gewiß nicht auf ‚reaktionäre Art‘, die die ersichtlichen Vorteile der Kuh und die schöpferische Phantasie leugnet, die durch sie zutage tritt. Sondern durch den Versuch, die Kuh den menschlichen Bedürfnissen und den echten menschlichen Idealen anzupassen. Zweifellos ist die Kuh eine Bedrohung, zugleich aber auch eine Herausforderung, der wir die Stirn bieten müssen.“

© Bernhard Kathan, 2017

Dank an:
Martin Lauterer, Kuhstallaufnahmen
Norbert Math, Technischer Support
[ zur Startseite ]