Schöne neue Kuhstallwelt

Bernhard Kathan


"Sie leben ohne Schmerz, ohne Furcht, ohne Erschütterung, ein bis ins
einzelne geregelte Dasein, befreit von den Bürden von ehemals. Kann man
dies aber als Glück bezeichnen? [...] Sie sind glücklich. Glücklich!
Glücklich! Ich sage euch, daß sie glücklich sind, daß sie sich wie Enten
in einem Tümpel ergötzen, in den spiegelglatten Gewässern - ach, da ist das
Wort, das aus meiner Feder quillt - lest es nicht; ich schreibe: sozialen Automatismus!"
Victor Méric, Die Verjüngten


Heimatmuseum


Der Weg führt durch mehrere Räume, deren gekachelten Wände wie die geltenden Hygienestandards an Krankenhäuser oder Schlachthöfe denken lassen. Mein Blick fällt durch große Glasscheiben in einen hell erleuchteten Büroraum, dann in die Milchsammelstelle. Ich betrete eine große Halle, die im Hintergrund ins Freie geöffnet ist. Das durch Oberlichten einfallende Licht macht den Raum angenehm hell. Viele der Kühe liegen in Boxen, einzelne stehen in den Laufgängen, andere an den Kraftfutterstationen. Da öffnet sich ein Gatter, dort schiebt ein Roboterarm die Zitzenbecher unter das Euter, an anderer Stelle wird eine Kuh in eine Besamungsbox dirigiert.

War Milchwirtschaft bislang eine arbeitsintensive Angelegenheit, so sind Menschen hier nur noch in wenigen Bereichen erforderlich, etwa dann, wenn es gilt, eine Kuh zu besamen. Wer so einen Stall betreibt, steht dem Buchhalter näher als dem traditionellen Bauern, wobei "Buchhalter" insofern irreführend ist, da an die Stelle von Büchern Computerprogramme getreten sind, selbstschreibende Systeme, die dank der rund um die Uhr gesammelten Daten den Vorgaben entsprechend reagieren, Entscheidungen, die es zu treffen gilt, vorwegnehmen. Für den Bauern oder Unternehmer bleiben bestenfalls punktuelle Entscheidungen. Er muss sich etwa fragen, ob sich ein Tierarzt lohnt oder eine Kuh dem Schlachthof überantwortet werden soll. Fragt man heute jemand nach den größten technischen Leistungen, dann werden die Raumfahrt, die Entschlüsselung des genetischen Codes oder die Transplantationsmedizin genannt. Wer denkt schon an Kuhställe! Dabei wurden hier innerhalb weniger Jahrzehnte höchst komplexe Systeme entwickelt. Es muss wohl am Stallgeruch liegen, dass die bahnbrechenden Entwicklungen der Agroindustrie kaum Eingang in Breitendiskurse gefunden haben. In der Regel ist Massentierhaltung höchst negativ gesetzt. Wir denken an hormon- und antibiotikaverseuchtes Fleisch, an die Verfütterung von Klärschlamm oder BSE. Zu unrecht. Allein die Tatsache, dass es nun möglich ist, Kühe nahezu vollkommen im Wechselspiel mit technischen Apparaturen zu organisieren, muss als eine der bemerkenswertesten Leistungen der letzten Jahrzehnte betrachtet werden. Nicht zufällig fallen die ersten diesbezüglichen Versuche mit den Raumflügen in den sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zusammen. Da wie dort fanden sich die Voraussetzungen vor allem in den Möglichkeiten der Informatik.

Arbeitsplatz / Bauer   Zeichnung: Bernhard Kathan


Die Agro- und Lebensmittelindustrie kennt, was die Automatisierung von Abläufen wie die bestmögliche Nutzung vorhandener Ressourcen betrifft, allerdings eine wesentlich längere Geschichte. Wir assoziieren das Fließband mit Ford und der Produktion von Autos. Tatsächlich wurde es in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in den Schlachthöfen von Chicago und Cincinnati eingeführt. Kühe und Schweine wurden in das oberste Stockwerk getrieben, um mit dem Gewicht der Tierkörper den für die Bewegung des Fließbandes notwendigen Energieaufwand möglichst gering zu halten. Vor allem die Haltung von Schweinen und Hühnern ließ sich bereits früh weitgehend automatisieren. Solche Systeme beschränkten sich jedoch fast ausschließlich auf die automatische Fütterung oder die Regulierung von Licht und Temperatur. Die automatisierte Milchkuhhaltung geht von völlig anderen Vorstellungen aus. Herdenmanagement lautet das Zauberwort der modernen Rinderhaltung. Das Futter wird nicht zu den Kühen gebracht, vielmehr sollen diese die Futterstellen, den Melkroboter oder ihre Liegeplätze aus eigenem Antrieb aufsuchen. Voraussetzung dafür sind leistungsfähige elektronische Systeme, die in der Lage sind, komplexe Abläufe zu steuern. Es bedurfte der Arbeit und Erfahrung unzähliger Ingenieure, Informatiker, Verhaltensforscher, Veterinärmediziner oder anderer Spezialisten. Tiere führen ein Eigenleben, sie haben ihren Eigensinn, der ihre Einfügung in vorgegebene maschinell gesteuerte Abläufe erschwert oder vielfach unmöglich macht. Im Melkautomat können Kühe dazu neigen, mit den Beinen nach Zitzenbechern und Schläuchen zu treten. Da sich die Euter der Kühe in Form und Milchleistung unterscheiden, muss sich der Roboter den einzelnen Kühen anpassen.

Melkroboter / Rinder   Zeichnung: Bernhard Kathan


Keines der Tiere ist angebunden, es bedarf keiner Schläge, um Kühe an den gewünschten Platz zu dirigieren, nicht länger sind Fress- und Melkzeiten an den Tagesrhythmus des Menschen gebunden. Das Futterangebot ist reichlich. Es finden sich selbst Apparate, die der Fellpflege dienen. Diese werden von den Kühen regelmäßig frequentiert. Anbieter solcher Systeme sprechen von artgerechter Tierhaltung, davon, dass der Landwirt eine andere Beziehung zu seinen Tieren aufbauen könne, da der mit einem gewissen Zwang verbundene enge Kontakt während des Melkens nicht mehr notwendig sei. Auch Tierschützer können solchen Laufställen viel abgewinnen. Vorbei sind die Zeiten, in denen Kühe in dunklen und verschmutzten Ställen an Ketten hingen. Allerdings ist das verpflichtende Band zwischen Mensch und Tier zerrissen. Wie Schweine und Hühner werde nun auch Kühe dem Funktionskreis der Maschinen überantwortet und so endgültig in Masse und Ware verwandelt.

Es geht um Leistungen, mögliche Gewinne. Tiere sind Mittel, nicht Anliegen. Ihre Existenz im diesseitigen Kuhhimmel mit ausreichendem und nahrhaftem Futterangebot (Raubtiere kennt diese Welt nicht) verdanken sie der einzig der Tatsache, aufgrund gewisser Merkmale darin zugelassen zu sein. Von den Abmessungen der Liegeboxen über die Milchleistung bis hin zur optimalen Verwertung der von einer Kuh aufgenommenen Kraftfuttermenge: der moderne Kuhstall kennt eine Unzahl von Normgrößen, exakt errechneten Mittel- und Idealwerten. All diese Leistungsvorgaben wirken auf die Zucht und Auswahl der Tiere zurück. Kleine, berggängige Rinderrassen haben in solchen Ställen keinen Platz. Das Ideal liegt in leistungsfähigen Milchkühen, deren Verhaltensdispositionen der technisch-maschinellen Organisation möglichst entgegenkommen. Lebenserfahrene Kühe kleiner Bergbauern ließen sich in solche Ställe nicht wirklich integrieren. Die Züchtungsanstrengungen beziehen sich nicht nur auf die Leistung. Den Vorgaben der Aufstallung entsprechend gilt es möglichst alle Unterschiede zu beseitigen.

Mag die Rede von artgerechter Tierhaltung sein, das Entscheidende findet sich dort, wo Bedürfnisse und Verhaltensdispositionen von Kühen systematisch für die Organisation der Bewegungsabläufe genutzt werden. Die Tiere sollen sich nicht frei, sondern bestimmten Zielsetzungen entsprechend bewegen. Dies setzt eine Raumstruktur voraus, in der grundlegende Bedürfnisse jeweils nur in dem einen oderen anderen Bereich befriedigt werden können. Das Gegenstück des Liegebereiches mit den Selbsttränken und der Silagefütterung bildet der Bereich mit den Kraftfutterstationen. Zwischen diesen Bereichen zirkulieren die Kühe. Sie müssen zurückkehren, wollen sie ihren Durst stillen, sie müssen den Melkautomaten passieren, um in den Bereich mit den Kraftfutterstationen zu gelangen. In diesen Durchgangspassagen lassen sich einzelne Tiere computergesteuert durch Selektionstore in kleinere Bereichen separieren, sei es zur Besamung, zum Kalben, zur Behandlung oder zum Abtransport in den Schlachthof. In totalitärer Weise durchdringt die Struktur die kleinsten Lebensbereiche. Dies auch dann, wenn sich die Kühe auf den ersten Blick frei bewegen können. Ihre Bewegungsmöglichkeiten verdanken sie keineswegs einer wie immer gearteten Tierliebe, sondern einzig ökonomischen Interessen.

Da es kostengünstiger ist, die Kotflächen in einem Laufstall auf bestimmte Bereiche zu beschränken, werden Liegeboxen verwendet, die gerade so groß sind, um das Abliegen und sichere Aufstehen einer Kuh zu erlauben, aber so eng bemessen, dass sich nicht zwei Kühe in eine dieser Boxen drängen können. Damit die Boxen von den Kühen benutzt werden, bedarf es eines entsprechenden "Liegekomforts", etwa einer Gummimatte oder einer leichten Einstreu. Die Liegeflächen müssen trocken, wärmegedämmt und weich sein.

Liegeboxen / Detail    Zeichnung: Bernhard Kathan


Rangkämpfe an den Kraftfutterstationen lassen sich weitgehend vermeiden, wenn die ausgeschütteten Mengen so bemessen sind, dass keine Restmengen verbleiben. Für die knapp bemessene Kraftfutterausgabe gibt es allerdings andere wichtige Gründe. Das Futter wird dann bestmöglich verwertet, wenn die täglichen Kraftfuttermengen in kleinen Portionen aufgenommen werden. So wird eine Pansenübersäuerung mit ihren nachteiligen Einflüssen auf Futterverwertung, Milchfettgehalt, Gesundheit und Fruchtbarkeit vermieden. Auch sind die Kühe so gezwungen, täglich mehrfach den Melkroboter zu passieren.

Eine Herde lässt sich nicht maschinell bewirtschaften. Es gilt also, diese in eine Ansammlung von Einzeltieren aufzulösen. Liegeboxen, Melkroboter, Kraftfutterstationen, Absperrungen und Tore, die sich öffnen oder geschlossen bleiben. Wir haben es mit einer Anordnung zu tun, die neben einfachsten raumstrukturierenden Elementen Automaten kennt, die durch einen Zentralcomputer gesteuert, zur selben Zeit in geradezu unspektakulärer Weise funktionieren. Voraussetzung für die Steuerung all dieser Abläufe ist die Möglichkeit, jedes der Tiere elektronisch zu identifizieren. Rund um die Uhr werden über jede Kuh unterschiedlichste Daten gesammelt, die, in das Programm eingespeist, unmittelbar und weitgehend automatisch für die Steuerung genutzt werden. Jeder Melkautomat erhebt Leistungsdaten wie Milchmenge, Fett- und Eiweißgehalt. Die am Melkstandausgang platzierte Tierwaage kontrolliert die Lebendmasse jeder einzelnen Kuh und liefert zusätzliche Daten zur gezielten Tierüberwachung und Fütterung. Das Computerprogramm errechnet aus unterschiedlichen Parametern die für das einzelne Tier optimale Menge und Mischung des Futters ("Trennkost" gilt also nicht nur für Menschen). Der Kraftfutteranspruch ergibt sich aus der Milchleistung. Die genau dosierte Abgabe schließt jeden "Luxuskonsum" aus. Wird das an der einzelnen Kuh befestigte Identifikationssystem mit einem Pedometer gekoppelt, werden zudem die Aktivitätsmuster der Kühe erfasst. Aufgrund der so erhobenen Parameter lässt sich zuverlässig auf Brunst als auch auf spezifische Krankheiten wie Stoffwechselstörungen schließen. Während der Brunst zeigen die Kühe wesentlich mehr Aktivität. Die Brunsterkennung zahlt sich aus. So lässt sich die Abkalberate erhöhen, es sind weniger Besamungen pro Kuh erforderlich wie sich auch der Zeitaufwand verringert, Kühe zu beobachten. Ein unter dem errechneten Durchschnitt liegendes Aktivitätsmuster deutet auf eine Erkrankung und ermöglicht eine frühzeitige Behandlung. Dies bedeutet eine höhere "Rentabilität" bei jeder einzelnen Kuh.

Paradoxerweise wird die Herde zwar konsequent in eine Abfolge von Einzeltieren aufgelöst, letztlich verschwindet aber jedes einzelne Tier in einem abstrakten Ganzen, in Vorgaben, Umsätzen oder Gewinnen. Es ist eine vollkommen künstliche Welt, die in nichts mehr an einen wie immer gearteten Lebensraum denken lässt, den Kühe und Rinder einmal kannten. Ziel ist es, alle Zufälle des Lebens, welche die Zielsetzungen gefährden, also selbst den Bewegungsdrang der Tiere, bestmöglich zu vermeiden.

Auch wenn in solche Kuhställe eingespeist wird (Silage, Kraftfutter, Wasser, Samen, Medikamente, Energie, Kühe etc.) und anderes wiederum abgezweigt und nach außen verbracht wird (Milch, Mist, Jauche, Kälber, schlachtreife Kühe etc.), so handelt es sich letztlich um ein nahezu vollkommen geschlossenes System. Es findet sich wohl kaum eine stringenter geplante Organisation des Lebendigen. Die in einem Hightech-Kuhstall geltenden Kriterien lassen an Max Webers Überlegungen zur bürokratischen Herrschaft denken, an "Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Diskretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten", an "sachliche" Erledigung eben, die "ohne Ansehen der Person [hier der einzelnen Kuh] nach berechenbaren Regeln" geschieht. Parallelen finden sich auch dort, wo wie in der Bürokratie Arbeitsabläufe in kleine Segmente zerteilt werden oder auch, wo der Auflösung der Herde in Einzeltiere das Bemühen von Verwaltungsapparaten entspricht, amorphe Menschengruppen in eine Serie von Einzelindividuen zu verwandeln.

Solche Anlagen überzeugen dort, wo trotz des enormen technischen Aufwands alles fehlt, was im Interesse der Steuerung der Abläufe oder der Ökonomie nicht unbedingt erforderlich ist. Die komplexe Technologie steht in einem geradezu krassen Widerspruch zur Halle, einer einfachen Stahlkonstruktion mit Wellblechdach, ohne jede Wärmedämmung. Sind die Kühe vor Zugluft geschützt, vertragen sie auch winterliche Außentemperaturen. Es gilt, mit geringstmöglichem Einsatz an Mitteln höchste Effizienz zu erreichen. Absolute Beschränkung auf das Funktionale, konsequente Orientierung an der Wirtschaftlichkeit und möglichst exakte Steuerung von Abläufen.

Kürzlich habe ich eine in den fünfziger Jahren errichtete Kraftwerksanlage besucht. Die Turbinen befinden sich in einer riesigen in den Fels gehauenen Halle, tief unter Tag. Obwohl die Anlage höchst funktional konzipiert ist, ließ der Architekt alle Maschinenteile, Rohre, Metallbrücken und Geländer in sehr genau aufeinander abgestimmten, leuchtenden Farben streichen. Große Aufmerksamheit schenkte er auch der Beleuchtung. Das durch riesige Milchglasscheiben fallende künstliche Licht lässt den Raum so erscheinen, als befände man sich ein einer künstlichen Gartenlandschaft. Solche Überlegungen sind modernen Kuhstallplanern fremd. Mit Farbgebung würden sie sich bestenfalls dann beschäftigen, hätten wissenschaftliche Studien belegt, dies erhöhe die Milchleistung oder wirke sich günstig auf das Herdenverhalten wie die Futterverwertung aus. Der Architekt des erwähnten Kraftwerks war bemüht, die in den Berg gesprengte Halle zu einem Lebensort für die Beschäftigten zu machen. Dagegen sind die modernen Kuhställe konsequent als Transiträume geplant.

Strichcode / Herkunftskontrolle   Zeichnung: Bernhard Kathan


Wir haben es mit Kühen und nicht mit Menschen zu tun. Und dennoch bestimmen ähnliche Systeme zunehmend unseren Alltag. Um Menschen zu steuern, bedarf es nicht einmal komplexer elektronischer Systeme. Werden Verhaltensdispositionen analysiert, dann lässt sich bereits mit denkbar geringem Einsatz ein gewünschtes Verhalten höchst effizient organisieren. Beispielsweise können die Kunden in Lebensmittelgeschäften über einen simplen Münzmechanismus veranlasst werden, ihre Einkaufswagen wieder an den dafür vorgesehenen Ort zu stellen.

Die Organisation komplexerer, vor allem interaktiver Abläufe setzen elektronische Systeme voraus, die infolge einer eindeutigen Identitätsbestimmung etwas möglich machen oder verhindern. Viele Türen öffnen sich heute nur noch dann, wenn nach einer elektronischen Identifikation eine Berechtigung oder ein Anspruch bestätigt wird. Ein Bankomat funktioniert nicht viel anders als ein moderner Kraftfutterausgabeautomat. Da wie dort wird ausgeschüttet, ist die sichere Identifikation Voraussetzung jeder Ausschüttung. Kühe lernen sehr rasch, sich in ihrer Maschinenwelt zurechtzufinden. Sie machen schnell die Erfahrung, dass das Verdrängen eines anderen Tieres von der Kraftfutterstation zu keinem Erfolg führt. Wie Kühe werden auch wir Menschen angehalten, mit Maschinen zu interagieren, genötigt, zu lernen und sich den Vorgaben entsprechend zu verhalten.

Eine Schulkantine lässt sich effizienter, vor allem aber mit deutlich geringerem Personaleinsatz organisieren. Voraussetzung ist wie in modernen Kuhställen die eindeutige Identifizierung jedes einzelnen Schüler aufgrund eines biometrischen Merkmals, etwa des Fingerabdrucks. Die Bestellung des gewünschten Menüs erfolgt wie die monatliche Abrechnung auf elektronischem Weg. Eine Vielzahl von Interaktionen werden so überflüssig. Solche System sind ausbaufähig. In Schulen lassen sie sich in der Bewirtschaftung von Bibliotheken anwenden oder zur Disziplinierung von Schulschwänzern.

Ein anderes Beispiel findet sich in der elektronischen Fußfessel, dank derer Verurteilte die Strafe in ihrer Wohnung oder an ihrem Arbeitsplatz "absitzen" können. Das System steckt allerdings noch in den Anfängen, erinnert es doch - mag sich die Überwachung auch gewandelt haben - an das Benthamsche Panoptikum. Zweifellos wird sich die elektronische Fußfessel, nicht viel anders, als dies in modernen Kuhställen zu beobachten ist, von der bloßen Überwachung hin zu interaktiven Systemen entwickeln. Dann werden Computerprogramme aufgrund einer Vielzahl von erhobenen Daten die faktische Strafdauer bestimmen. Von Krankenhäusern, Liftanlagen, der Steuerung von Verkehrsflüssen bis hin zur Zielgruppenbewirtschaftung finden sich zahllose Beispiele, in denen Teilsegmente modernen Herdenmanagements effizient umgesetzt sind.

Identifikationssytem    Zeichnung: Bernhard Kathan


Wer immer eine Bankomatkarte benutzt, überlässt eine Unzahl von Daten, die, würden sie systematisch benutzt, Auskunft über Einkommen, Konsum- und Mobilitätsverhalten und vieles andere zu geben vermöchten, lassen sich doch mit Hilfe von Computerprogrammen ziemlich exakte Profile jeder einzelnen Person erstellen. Gesetze bieten einen relativen Schutz vor dem Missbrauch von Daten. Für Kühe gilt kein Datenschutz. Im Gegenteil, Herkunft und Identität jedes einzelnen Tieres sollen eindeutig bekannt sein. Deshalb lassen sich computergesteuerte Kuhställe als Planspiele totalitärer Herrschaft denken.

Experten, die sich mit Fragen des Herdenmanagements beschäftigen, denken an Sojaschrot, Futtermischungen, Pansenaktivitäten, Laktationsdauer, an Steuerungssysteme und Schleusen, die sich nach Vorgaben automatisch in diese oder jene Richtung öffnen, an ökonomische Zielsetzungen. Unter den heutigen Kuhstallplanern finden sich wohl nur wenige, die Science Fiction lesen. Dabei haben sich Huxley wie andere Autoren mit durchaus verwandten Fragen beschäftigt, allerdings nicht auf Kühe, sondern auf Menschen bezogen.

Zierpflanzen / Eingangsbereich Büro   Zeichnung: Bernhard Kathan


Laurence Manning beschrieb in seinem Roman Der Jahrtausendschläfer (1933) eine perfekt organisierte und von einem Elektronengehirn gesteuerte Gesellschaft. Die Menschen können sich dem Müßiggang hingeben, den größten Teil ihrer Zeit in Vergnügungspalästen verbringen. Das System verdankt seine Stabilität gleichermaßen der Befriedigung von Bedürfnissen wie der umfassenden Individualisierung und Kontrolle jedes Einzelnen. In Franz Werfels Roman Stern der Ungeborenen (1946) findet sich der Ich-Erzähler in einer fernen Zukunft wieder, in einer Gesellschaft, in der alle Grundbedürfnisse befriedigt werden. Jede produktive Arbeit ist überflüssig geworden. Krankheiten gibt es nicht länger. Die Astromentalen, also Werfels Menschen der Zukunft, verfügen auch nach zweihundert Jahren über einen jugendlichen Körper. Die Menschen sterben nicht mehr, in einem retrogenetischen Verfahren werden sie zurückverwandelt, um schließlich nur noch eine unter unzähligen Margueriten auf einem endlosen Feld zu sein. Freiwillfig fügen sich die Menschen in die fabriksmäßig organisierte Entsorgung. Eine Beobachtung des Ich-Erzählers: "Ich spürte aber sofort, daß der gute behagliche Empfang einen bestimmten Zweck hatte. Alles sollte hier schnell gehn, ehe man recht zur Besinnung kam. Während man einander anlachte und ankomplimentierte, wurden Herren und Damen und vorzüglich die Ehepaare unmerklich voneinander getrennt." Die einzelnen werden nicht nur genauestens erfasst, sie werden in eine bearbeitbare Abfolge aufgelöst. Bereits dies nimmt ihren Tod vorweg. Aldous Huxley schrieb, ein wirklich leistungsfähiger totalitärer Staat wäre ein Staat, "in dem die allmächtige Exekutive politischer Machthaber und ihre Armee von Managern eine Bevölkerung von Zwangsarbeitern beherrscht, die zu gar nichts gezwungen zu werden braucht, weil sie ihre Sklaverei liebt." Herrschaft, die sich der Verhaltensdispositionen jener bedient, die es zu kontrollieren gilt, mehr noch, die selbst deren Energie zu nutzen weiß, hat sich allemal effizienter als die Anwendung brachialer Gewalt erwiesen.

Schlachtroboter / Rinder   Zeichnung: Bernhard Kathan


In der Science Fiction brechen solche Systeme meist zusammen. Immer wieder finden sich einzelne Menschen, die ihre Würde abseits aller Versorgung und Kontrolle zu wahren hoffen. Ob bei Edward Morgan Forster, Franz Werfel oder anderen, angesichts versorgender und verdummender Herrschaft werden Mangelerfahrungen und Schmerz eingeklagt, selbst das Recht auf das Risiko des Todes. Diese Vorstellung ist tröstlich, auch wenn sich unsere Gesellschaft in absehbarer Zeit nicht umfassend im Sinne modernen Herdenmanagements organisieren lassen wird. Dagegen spricht bereits, dass die Welt des Menschen in höchstem Maß symbolüberfrachtet ist. Eine Übertragung bedürfte also eines allumfassenden und sinnstiftenden Kultes. Diesebzügliche Überlegungen finden sich in vielen Anti-Utopien. In Friedrich Freksas utopischem Roman Druso oder: Die gestohlene Menschenwelt (1931) haben Drusonen, intelligente Rieseninsekten, die Erde erobert und halten die Menschen wie Nutztiere, Frauen als Milchkühe. Die meisten verschwinden allerdings in Schlachthöfen. Sie würden sich nicht freiwillig in den Ablauf fügen, wäre dieser nicht als kultische Inszenierung organisiert. Die Blumengeschmückten bewegen sich in einem tranceartigen Zustand durch ein Tor, welches ein besseres Leben verspricht, während sie tatsächlich in eine ganz banale Schlachtfalle tappen. Nicht zufällig nutzten nahezu alle totalitäre Systeme des zwanzigsten Jahrhunderts die Möglichkeiten kultischer Inszenierungen. Die modernen Gesellschaften kennen dergleichen nicht, bestenfalls wäre auf den Konsum zu verweisen, aber hier stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des einzelnen zur Masse, jene der Reinigung oder des Versprechens, anders. In den Kuhställen wird sich das Modell zweifellos behaupten. Bleibt also nur, sich zu fragen, was dann geschähe, würde der Strom ausfallen, das Datenverarbeitungssystem zusammenbrechen, würden die Futterstationen kein Futter mehr ausgeben, sich die Absperrungen nicht mehr öffnen oder die Melkroboter verrückt spielen.

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