Der Weg führt durch mehrere Räume, deren gekachelten Wände wie die geltenden
Hygienestandards an Krankenhäuser oder Schlachthöfe denken lassen. Mein
Blick fällt durch große Glasscheiben in einen hell erleuchteten Büroraum,
dann in die Milchsammelstelle. Ich betrete eine große Halle, die im
Hintergrund ins Freie geöffnet ist. Das durch Oberlichten einfallende Licht
macht den Raum angenehm hell. Viele der Kühe liegen in Boxen, einzelne
stehen in den Laufgängen, andere an den Kraftfutterstationen. Da öffnet sich
ein Gatter, dort schiebt ein Roboterarm die Zitzenbecher unter das Euter, an
anderer Stelle wird eine Kuh in eine Besamungsbox dirigiert.
War Milchwirtschaft bislang eine arbeitsintensive Angelegenheit, so sind
Menschen hier nur noch in wenigen Bereichen erforderlich, etwa dann, wenn es
gilt, eine Kuh zu besamen. Wer so einen Stall betreibt, steht dem Buchhalter
näher als dem traditionellen Bauern, wobei "Buchhalter" insofern irreführend
ist, da an die Stelle von Büchern Computerprogramme getreten sind,
selbstschreibende Systeme, die dank der rund um die Uhr gesammelten Daten
den Vorgaben entsprechend reagieren, Entscheidungen, die es zu treffen gilt,
vorwegnehmen. Für den Bauern oder Unternehmer bleiben bestenfalls punktuelle
Entscheidungen. Er muss sich etwa fragen, ob sich ein Tierarzt lohnt oder
eine Kuh dem Schlachthof überantwortet werden soll.
Fragt man heute jemand nach den größten technischen Leistungen, dann werden
die Raumfahrt, die Entschlüsselung des genetischen Codes oder die
Transplantationsmedizin genannt. Wer denkt schon an Kuhställe! Dabei wurden
hier innerhalb weniger Jahrzehnte höchst komplexe Systeme entwickelt. Es
muss wohl am Stallgeruch liegen, dass die bahnbrechenden Entwicklungen der
Agroindustrie kaum Eingang in Breitendiskurse gefunden haben. In der Regel
ist Massentierhaltung höchst negativ gesetzt. Wir denken an hormon- und
antibiotikaverseuchtes Fleisch, an die Verfütterung von Klärschlamm oder
BSE. Zu unrecht. Allein die Tatsache, dass es nun möglich ist, Kühe nahezu
vollkommen im Wechselspiel mit technischen Apparaturen zu organisieren, muss
als eine der bemerkenswertesten Leistungen der letzten Jahrzehnte betrachtet
werden. Nicht zufällig fallen die ersten diesbezüglichen Versuche mit den
Raumflügen in den sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zusammen. Da
wie dort fanden sich die Voraussetzungen vor allem in den Möglichkeiten der
Informatik.
Arbeitsplatz / Bauer
Die Agro- und Lebensmittelindustrie kennt, was die Automatisierung von
Abläufen wie die bestmögliche Nutzung vorhandener Ressourcen betrifft,
allerdings eine wesentlich längere Geschichte. Wir assoziieren das Fließband
mit Ford und der Produktion von Autos. Tatsächlich wurde es in der ersten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in den Schlachthöfen von Chicago und
Cincinnati eingeführt. Kühe und Schweine wurden in das oberste Stockwerk
getrieben, um mit dem Gewicht der Tierkörper den für die Bewegung des
Fließbandes notwendigen Energieaufwand möglichst gering zu halten. Vor allem
die Haltung von Schweinen und Hühnern ließ sich bereits früh weitgehend
automatisieren. Solche Systeme beschränkten sich jedoch fast ausschließlich
auf die automatische Fütterung oder die Regulierung von Licht und
Temperatur. Die automatisierte Milchkuhhaltung geht von völlig anderen
Vorstellungen aus. Herdenmanagement lautet das Zauberwort der modernen
Rinderhaltung. Das Futter wird nicht zu den Kühen gebracht, vielmehr sollen
diese die Futterstellen, den Melkroboter oder ihre Liegeplätze aus eigenem
Antrieb aufsuchen. Voraussetzung dafür sind leistungsfähige elektronische
Systeme, die in der Lage sind, komplexe Abläufe zu steuern. Es bedurfte der
Arbeit und Erfahrung unzähliger Ingenieure, Informatiker,
Verhaltensforscher, Veterinärmediziner oder anderer Spezialisten. Tiere
führen ein Eigenleben, sie haben ihren Eigensinn, der ihre Einfügung in
vorgegebene maschinell gesteuerte Abläufe erschwert oder vielfach unmöglich
macht. Im Melkautomat können Kühe dazu neigen, mit den Beinen nach
Zitzenbechern und Schläuchen zu treten. Da sich die Euter der Kühe in Form
und Milchleistung unterscheiden, muss sich der Roboter den einzelnen Kühen
anpassen.
Melkroboter / Rinder
Keines der Tiere ist angebunden, es bedarf keiner Schläge, um Kühe an den
gewünschten Platz zu dirigieren, nicht länger sind Fress- und Melkzeiten an
den Tagesrhythmus des Menschen gebunden. Das Futterangebot ist reichlich. Es
finden sich selbst Apparate, die der Fellpflege dienen. Diese werden von den
Kühen regelmäßig frequentiert. Anbieter solcher Systeme sprechen von
artgerechter Tierhaltung, davon, dass der Landwirt eine andere Beziehung zu
seinen Tieren aufbauen könne, da der mit einem gewissen Zwang verbundene
enge Kontakt während des Melkens nicht mehr notwendig sei. Auch Tierschützer
können solchen Laufställen viel abgewinnen. Vorbei sind die Zeiten, in denen
Kühe in dunklen und verschmutzten Ställen an Ketten hingen. Allerdings ist
das verpflichtende Band zwischen Mensch und Tier zerrissen. Wie Schweine und
Hühner werde nun auch Kühe dem Funktionskreis der Maschinen überantwortet
und so endgültig in Masse und Ware verwandelt.
Es geht um Leistungen, mögliche Gewinne. Tiere sind Mittel, nicht Anliegen.
Ihre Existenz im diesseitigen Kuhhimmel mit ausreichendem und nahrhaftem
Futterangebot (Raubtiere kennt diese Welt nicht) verdanken sie der einzig der Tatsache, aufgrund
gewisser Merkmale darin zugelassen zu sein. Von den Abmessungen der
Liegeboxen über die Milchleistung bis hin zur optimalen Verwertung der von
einer Kuh aufgenommenen Kraftfuttermenge: der moderne Kuhstall kennt eine
Unzahl von Normgrößen, exakt errechneten Mittel- und Idealwerten. All diese
Leistungsvorgaben wirken auf die Zucht und Auswahl der Tiere zurück. Kleine,
berggängige Rinderrassen haben in solchen Ställen keinen Platz. Das Ideal
liegt in leistungsfähigen Milchkühen, deren Verhaltensdispositionen der
technisch-maschinellen Organisation möglichst entgegenkommen.
Lebenserfahrene Kühe kleiner Bergbauern ließen sich in solche Ställe nicht
wirklich integrieren. Die Züchtungsanstrengungen beziehen sich nicht nur auf
die Leistung. Den Vorgaben der Aufstallung entsprechend gilt es möglichst
alle Unterschiede zu beseitigen.
Mag die Rede von artgerechter Tierhaltung sein, das Entscheidende findet
sich dort, wo Bedürfnisse und Verhaltensdispositionen von Kühen systematisch
für die Organisation der Bewegungsabläufe genutzt werden. Die Tiere sollen
sich nicht frei, sondern bestimmten Zielsetzungen entsprechend bewegen. Dies
setzt eine Raumstruktur voraus, in der grundlegende Bedürfnisse jeweils nur
in dem einen oderen anderen Bereich befriedigt werden können. Das Gegenstück
des Liegebereiches mit den Selbsttränken und der Silagefütterung bildet der
Bereich mit den Kraftfutterstationen. Zwischen diesen Bereichen zirkulieren
die Kühe. Sie müssen zurückkehren, wollen sie ihren Durst stillen, sie
müssen den Melkautomaten passieren, um in den Bereich mit den
Kraftfutterstationen zu gelangen. In diesen Durchgangspassagen lassen sich
einzelne Tiere computergesteuert durch Selektionstore in kleinere Bereichen
separieren, sei es zur Besamung, zum Kalben, zur Behandlung oder zum
Abtransport in den Schlachthof. In totalitärer Weise durchdringt die
Struktur die kleinsten Lebensbereiche. Dies auch dann, wenn sich die Kühe
auf den ersten Blick frei bewegen können. Ihre Bewegungsmöglichkeiten
verdanken sie keineswegs einer wie immer gearteten Tierliebe, sondern einzig
ökonomischen Interessen.
Da es kostengünstiger ist, die Kotflächen in einem Laufstall auf bestimmte
Bereiche zu beschränken, werden Liegeboxen verwendet, die gerade so groß
sind, um das Abliegen und sichere Aufstehen einer Kuh zu erlauben, aber so
eng bemessen, dass sich nicht zwei Kühe in eine dieser Boxen drängen können.
Damit die Boxen von den Kühen benutzt werden, bedarf es eines entsprechenden
"Liegekomforts", etwa einer Gummimatte oder einer leichten Einstreu. Die
Liegeflächen müssen trocken, wärmegedämmt und weich sein.
Liegeboxen / Detail
Rangkämpfe an den Kraftfutterstationen lassen sich weitgehend vermeiden,
wenn die ausgeschütteten Mengen so bemessen sind, dass keine Restmengen
verbleiben. Für die knapp bemessene Kraftfutterausgabe gibt es allerdings
andere wichtige Gründe. Das Futter wird dann bestmöglich verwertet, wenn die
täglichen Kraftfuttermengen in kleinen Portionen aufgenommen werden. So wird
eine Pansenübersäuerung mit ihren nachteiligen Einflüssen auf
Futterverwertung, Milchfettgehalt, Gesundheit und Fruchtbarkeit vermieden.
Auch sind die Kühe so gezwungen, täglich mehrfach den Melkroboter zu
passieren.
Eine Herde lässt sich nicht maschinell bewirtschaften. Es gilt also, diese
in eine Ansammlung von Einzeltieren aufzulösen. Liegeboxen, Melkroboter,
Kraftfutterstationen, Absperrungen und Tore, die sich öffnen oder
geschlossen bleiben. Wir haben es mit einer Anordnung zu tun, die neben
einfachsten raumstrukturierenden Elementen Automaten kennt, die durch einen
Zentralcomputer gesteuert, zur selben Zeit in geradezu unspektakulärer Weise
funktionieren. Voraussetzung für die Steuerung all dieser Abläufe ist die
Möglichkeit, jedes der Tiere elektronisch zu identifizieren. Rund um die Uhr
werden über jede Kuh unterschiedlichste Daten gesammelt, die, in das
Programm eingespeist, unmittelbar und weitgehend automatisch für die
Steuerung genutzt werden. Jeder Melkautomat erhebt Leistungsdaten wie
Milchmenge, Fett- und Eiweißgehalt. Die am Melkstandausgang platzierte
Tierwaage kontrolliert die Lebendmasse jeder einzelnen Kuh und liefert
zusätzliche Daten zur gezielten Tierüberwachung und Fütterung. Das
Computerprogramm errechnet aus unterschiedlichen Parametern die für das
einzelne Tier optimale Menge und Mischung des Futters ("Trennkost" gilt also
nicht nur für Menschen). Der Kraftfutteranspruch ergibt sich aus der
Milchleistung. Die genau dosierte Abgabe schließt jeden "Luxuskonsum" aus.
Wird das an der einzelnen Kuh befestigte Identifikationssystem mit einem
Pedometer gekoppelt, werden zudem die Aktivitätsmuster der Kühe erfasst.
Aufgrund der so erhobenen Parameter lässt sich zuverlässig auf Brunst als
auch auf spezifische Krankheiten wie Stoffwechselstörungen schließen.
Während der Brunst zeigen die Kühe wesentlich mehr Aktivität. Die
Brunsterkennung zahlt sich aus. So lässt sich die Abkalberate erhöhen, es
sind weniger Besamungen pro Kuh erforderlich wie sich auch der Zeitaufwand
verringert, Kühe zu beobachten. Ein unter dem errechneten Durchschnitt
liegendes Aktivitätsmuster deutet auf eine Erkrankung und ermöglicht eine
frühzeitige Behandlung. Dies bedeutet eine höhere "Rentabilität" bei jeder
einzelnen Kuh.
Paradoxerweise wird die Herde zwar konsequent in eine Abfolge von
Einzeltieren aufgelöst, letztlich verschwindet aber jedes einzelne Tier in
einem abstrakten Ganzen, in Vorgaben, Umsätzen oder Gewinnen. Es ist eine
vollkommen künstliche Welt, die in nichts mehr an einen wie immer gearteten
Lebensraum denken lässt, den Kühe und Rinder einmal kannten. Ziel ist es,
alle Zufälle des Lebens, welche die Zielsetzungen gefährden, also selbst den
Bewegungsdrang der Tiere, bestmöglich zu vermeiden.
Auch wenn in solche Kuhställe eingespeist wird (Silage, Kraftfutter, Wasser,
Samen, Medikamente, Energie, Kühe etc.) und anderes wiederum abgezweigt und
nach außen verbracht wird (Milch, Mist, Jauche, Kälber, schlachtreife Kühe
etc.), so handelt es sich letztlich um ein nahezu vollkommen geschlossenes
System. Es findet sich wohl kaum eine stringenter geplante Organisation des
Lebendigen. Die in einem Hightech-Kuhstall geltenden Kriterien lassen an Max
Webers Überlegungen zur bürokratischen Herrschaft denken, an "Präzision,
Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit,
Diskretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen,
sachlichen und persönlichen Kosten", an "sachliche" Erledigung eben, die
"ohne Ansehen der Person [hier der einzelnen Kuh] nach berechenbaren Regeln"
geschieht. Parallelen finden sich auch dort, wo wie in der Bürokratie
Arbeitsabläufe in kleine Segmente zerteilt werden oder auch, wo der
Auflösung der Herde in Einzeltiere das Bemühen von Verwaltungsapparaten
entspricht, amorphe Menschengruppen in eine Serie von Einzelindividuen zu
verwandeln.
Solche Anlagen überzeugen dort, wo trotz des enormen technischen Aufwands
alles fehlt, was im Interesse der Steuerung der Abläufe oder der Ökonomie
nicht unbedingt erforderlich ist. Die komplexe Technologie steht in einem
geradezu krassen Widerspruch zur Halle, einer einfachen Stahlkonstruktion
mit Wellblechdach, ohne jede Wärmedämmung. Sind die Kühe vor Zugluft
geschützt, vertragen sie auch winterliche Außentemperaturen. Es gilt, mit
geringstmöglichem Einsatz an Mitteln höchste Effizienz zu erreichen.
Absolute Beschränkung auf das Funktionale, konsequente Orientierung an der
Wirtschaftlichkeit und möglichst exakte Steuerung von Abläufen.
Kürzlich habe ich eine in den fünfziger Jahren errichtete Kraftwerksanlage
besucht. Die Turbinen befinden sich in einer riesigen in den Fels gehauenen
Halle, tief unter Tag. Obwohl die Anlage höchst funktional konzipiert ist,
ließ der Architekt alle Maschinenteile, Rohre, Metallbrücken und Geländer in
sehr genau aufeinander abgestimmten, leuchtenden Farben streichen. Große
Aufmerksamheit schenkte er auch der Beleuchtung. Das durch riesige
Milchglasscheiben fallende künstliche Licht lässt den Raum so erscheinen,
als befände man sich ein einer künstlichen Gartenlandschaft. Solche
Überlegungen sind modernen Kuhstallplanern fremd. Mit Farbgebung würden sie
sich bestenfalls dann beschäftigen, hätten wissenschaftliche Studien belegt,
dies erhöhe die Milchleistung oder wirke sich günstig auf das
Herdenverhalten wie die Futterverwertung aus. Der Architekt des erwähnten
Kraftwerks war bemüht, die in den Berg gesprengte Halle zu einem Lebensort
für die Beschäftigten zu machen. Dagegen sind die modernen Kuhställe
konsequent als Transiträume geplant.
Strichcode / Herkunftskontrolle
Wir haben es mit Kühen und nicht mit Menschen zu tun. Und dennoch bestimmen
ähnliche Systeme zunehmend unseren Alltag. Um Menschen zu steuern, bedarf es
nicht einmal komplexer elektronischer Systeme. Werden
Verhaltensdispositionen analysiert, dann lässt sich bereits mit denkbar
geringem Einsatz ein gewünschtes Verhalten höchst effizient organisieren.
Beispielsweise können die Kunden in Lebensmittelgeschäften über einen
simplen Münzmechanismus veranlasst werden, ihre Einkaufswagen wieder an den
dafür vorgesehenen Ort zu stellen.
Die Organisation komplexerer, vor allem interaktiver Abläufe setzen
elektronische Systeme voraus, die infolge einer eindeutigen
Identitätsbestimmung etwas möglich machen oder verhindern. Viele Türen
öffnen sich heute nur noch dann, wenn nach einer elektronischen
Identifikation eine Berechtigung oder ein Anspruch bestätigt wird. Ein
Bankomat funktioniert nicht viel anders als ein moderner
Kraftfutterausgabeautomat. Da wie dort wird ausgeschüttet, ist die sichere
Identifikation Voraussetzung jeder Ausschüttung. Kühe lernen sehr rasch,
sich in ihrer Maschinenwelt zurechtzufinden. Sie machen schnell die
Erfahrung, dass das Verdrängen eines anderen Tieres von der
Kraftfutterstation zu keinem Erfolg führt. Wie Kühe werden auch wir Menschen
angehalten, mit Maschinen zu interagieren, genötigt, zu lernen und sich den
Vorgaben entsprechend zu verhalten.
Eine Schulkantine lässt sich effizienter, vor allem aber mit deutlich
geringerem Personaleinsatz organisieren. Voraussetzung ist wie in modernen
Kuhställen die eindeutige Identifizierung jedes einzelnen Schüler aufgrund
eines biometrischen Merkmals, etwa des Fingerabdrucks. Die Bestellung des
gewünschten Menüs erfolgt wie die monatliche Abrechnung auf elektronischem
Weg. Eine Vielzahl von Interaktionen werden so überflüssig. Solche System
sind ausbaufähig. In Schulen lassen sie sich in der Bewirtschaftung von
Bibliotheken anwenden oder zur Disziplinierung von Schulschwänzern.
Ein anderes Beispiel findet sich in der elektronischen Fußfessel, dank derer
Verurteilte die Strafe in ihrer Wohnung oder an ihrem Arbeitsplatz
"absitzen" können. Das System steckt allerdings noch in den Anfängen,
erinnert es doch - mag sich die Überwachung auch gewandelt haben - an das
Benthamsche Panoptikum. Zweifellos wird sich die elektronische Fußfessel,
nicht viel anders, als dies in modernen Kuhställen zu beobachten ist, von
der bloßen Überwachung hin zu interaktiven Systemen entwickeln. Dann werden
Computerprogramme aufgrund einer Vielzahl von erhobenen Daten die faktische
Strafdauer bestimmen. Von Krankenhäusern, Liftanlagen, der Steuerung von
Verkehrsflüssen bis hin zur Zielgruppenbewirtschaftung finden sich zahllose
Beispiele, in denen Teilsegmente modernen Herdenmanagements effizient
umgesetzt sind.
Identifikationssytem
Wer immer eine Bankomatkarte benutzt, überlässt eine Unzahl von Daten, die,
würden sie systematisch benutzt, Auskunft über Einkommen, Konsum- und
Mobilitätsverhalten und vieles andere zu geben vermöchten, lassen sich doch
mit Hilfe von Computerprogrammen ziemlich exakte Profile jeder einzelnen
Person erstellen. Gesetze bieten einen relativen Schutz vor dem Missbrauch
von Daten. Für Kühe gilt kein Datenschutz. Im Gegenteil, Herkunft und
Identität jedes einzelnen Tieres sollen eindeutig bekannt sein. Deshalb
lassen sich computergesteuerte Kuhställe als Planspiele totalitärer
Herrschaft denken.
Experten, die sich mit Fragen des Herdenmanagements beschäftigen, denken an
Sojaschrot, Futtermischungen, Pansenaktivitäten, Laktationsdauer, an
Steuerungssysteme und Schleusen, die sich nach Vorgaben automatisch in diese
oder jene Richtung öffnen, an ökonomische Zielsetzungen. Unter den heutigen
Kuhstallplanern finden sich wohl nur wenige, die Science Fiction lesen.
Dabei haben sich Huxley wie andere Autoren mit durchaus verwandten Fragen
beschäftigt, allerdings nicht auf Kühe, sondern auf Menschen bezogen.
Zierpflanzen / Eingangsbereich Büro
Laurence Manning beschrieb in seinem Roman Der Jahrtausendschläfer (1933)
eine perfekt organisierte und von einem Elektronengehirn gesteuerte
Gesellschaft. Die Menschen können sich dem Müßiggang hingeben, den größten
Teil ihrer Zeit in Vergnügungspalästen verbringen. Das System verdankt seine
Stabilität gleichermaßen der Befriedigung von Bedürfnissen wie der
umfassenden Individualisierung und Kontrolle jedes Einzelnen. In Franz
Werfels Roman Stern der Ungeborenen (1946) findet sich der Ich-Erzähler in
einer fernen Zukunft wieder, in einer Gesellschaft, in der alle
Grundbedürfnisse befriedigt werden. Jede produktive Arbeit ist überflüssig
geworden. Krankheiten gibt es nicht länger. Die Astromentalen, also Werfels
Menschen der Zukunft, verfügen auch nach zweihundert Jahren über einen
jugendlichen Körper. Die Menschen sterben nicht mehr, in einem
retrogenetischen Verfahren werden sie zurückverwandelt, um schließlich nur
noch eine unter unzähligen Margueriten auf einem endlosen Feld zu sein.
Freiwillfig fügen sich die Menschen in die fabriksmäßig organisierte
Entsorgung. Eine Beobachtung des Ich-Erzählers: "Ich spürte aber sofort, daß
der gute behagliche Empfang einen bestimmten Zweck hatte. Alles sollte hier
schnell gehn, ehe man recht zur Besinnung kam. Während man einander anlachte
und ankomplimentierte, wurden Herren und Damen und vorzüglich die Ehepaare
unmerklich voneinander getrennt." Die einzelnen werden nicht nur genauestens
erfasst, sie werden in eine bearbeitbare Abfolge aufgelöst. Bereits dies
nimmt ihren Tod vorweg. Aldous Huxley schrieb, ein wirklich leistungsfähiger
totalitärer Staat wäre ein Staat, "in dem die allmächtige Exekutive
politischer Machthaber und ihre Armee von Managern eine Bevölkerung von
Zwangsarbeitern beherrscht, die zu gar nichts gezwungen zu werden braucht,
weil sie ihre Sklaverei liebt." Herrschaft, die sich der
Verhaltensdispositionen jener bedient, die es zu kontrollieren gilt, mehr
noch, die selbst deren Energie zu nutzen weiß, hat sich allemal effizienter
als die Anwendung brachialer Gewalt erwiesen.
Schlachtroboter / Rinder
In der Science Fiction brechen solche Systeme meist zusammen. Immer wieder
finden sich einzelne Menschen, die ihre Würde abseits aller Versorgung und
Kontrolle zu wahren hoffen. Ob bei Edward Morgan Forster, Franz Werfel oder
anderen, angesichts versorgender und verdummender Herrschaft werden
Mangelerfahrungen und Schmerz eingeklagt, selbst das Recht auf das Risiko
des Todes. Diese Vorstellung ist tröstlich, auch wenn sich unsere
Gesellschaft in absehbarer Zeit nicht umfassend im Sinne modernen
Herdenmanagements organisieren lassen wird. Dagegen spricht bereits, dass
die Welt des Menschen in höchstem Maß symbolüberfrachtet ist. Eine
Übertragung bedürfte also eines allumfassenden und sinnstiftenden Kultes.
Diesebzügliche Überlegungen finden sich in vielen Anti-Utopien. In Friedrich
Freksas utopischem Roman Druso oder: Die gestohlene Menschenwelt (1931)
haben Drusonen, intelligente Rieseninsekten, die Erde erobert und halten die
Menschen wie Nutztiere, Frauen als Milchkühe. Die meisten verschwinden
allerdings in Schlachthöfen. Sie würden sich nicht freiwillig in den Ablauf
fügen, wäre dieser nicht als kultische Inszenierung organisiert. Die
Blumengeschmückten bewegen sich in einem tranceartigen Zustand durch ein
Tor, welches ein besseres Leben verspricht, während sie tatsächlich in eine
ganz banale Schlachtfalle tappen. Nicht zufällig nutzten nahezu alle
totalitäre Systeme des zwanzigsten Jahrhunderts die Möglichkeiten kultischer
Inszenierungen. Die modernen Gesellschaften kennen dergleichen nicht,
bestenfalls wäre auf den Konsum zu verweisen, aber hier stellt sich die
Frage nach dem Verhältnis des einzelnen zur Masse, jene der Reinigung oder
des Versprechens, anders. In den Kuhställen wird sich das Modell zweifellos
behaupten. Bleibt also nur, sich zu fragen, was dann geschähe, würde der
Strom ausfallen, das Datenverarbeitungssystem zusammenbrechen, würden die
Futterstationen kein Futter mehr ausgeben, sich die Absperrungen nicht mehr
öffnen oder die Melkroboter verrückt spielen.