Schöne neue Kuhstallwelt





"Sie leben ohne Schmerz, ohne Furcht, ohne Erschütterung, ein bis ins einzelne geregeltes Dasein, befreit von den Bürden von ehemals. Kann man dies aber als Glück bezeichnen? [...] Sie sind glücklich. Glücklich! Glücklich! Ich sage euch, daß sie glücklich sind, daß sie sich wie Enten in einem Tümpel ergötzen, in den spiegelglatten Gewässern eines - ach, da ist das Wort, das aus meiner Feder quillt - lest es nicht; ich schreibe: sozialen Automatismus!"
Victor Méric, Die Verjüngten

"Die bloße Gegenwart der Kuh übt ihren kuhartigen Einfluß aus. Unsere Phantasie sträubt sich, die Folgen vorzustellen. Es ist indessen nötig, dieser Gefahr ins Auge zu sehen und die Phantasie zu zwingen. Sie enthüllt einen Blick auf die Menschheit als eine Herde von Kühen. Eine weidende und wiederkauende, zufriedene und unbewußte Menschheit, die Gras konsumieren wird, die Milch erzeugt für eine unsichtbare Elite von ‚Hirten', die an ihr Interesse hat. Eine solche Menschheit wird sanft und geschickt manipuliert werden, so daß sie sich für frei halten wird. Das wird infolge des automatischen Funktionierens der Kuh möglich sein. Die eingebildete Freiheit wird die Manipulation durch den Hirten vollkommen verdecken. Das Leben wird sich auf die typischen Funktionen der Kuh beschränken: Geburt, Konsumieren, Wiederkäuen, Erzeugung, Muße, Reproduktion, Tod. Eine paradiesische und erschreckende Aussicht. Sehen wir bei der Betrachtung der Kuh nicht den Menschen von morgen? Die Zukunft ist bislang nur eine Möglichkeit. Es ist noch Zeit einzugreifen. Der Fortschritt verläuft nicht automatisch, sondern ist Folge des menschlichen Willens und der menschlichen Freiheit. Der Fortschritt in Richtung Kuh ist noch aufzuhalten."
Vilem Flusser, Vogelflüge. Essays zu Natur und Kultur, 2000

Der Weg führt durch mehrere Räume, deren gekachelte Wände wie die geltenden Hygienestandards an Krankenhäuser oder Schlachthöfe denken lassen. Mein Blick fällt durch große Glasscheiben in einen hell erleuchteten Büroraum, dann in die Milchsammelstelle. Ich betrete eine große Halle, die im Hintergrund ins Freie geöffnet ist. Das durch Oberlichten einfallende Licht macht den Raum angenehm hell. Viele der Kühe liegen in Boxen, einzelne stehen in den Laufgängen, andere an den Kraftfutterstationen. Da öffnet sich ein Gatter, dort schiebt ein Roboterarm die Zitzenbecher unter das Euter, an anderer Stelle wird eine Kuh in eine Besamungsbox dirigiert.

War Milchwirtschaft bislang eine arbeitsintensive Angelegenheit, so sind Menschen hier nur noch in wenigen Bereichen erforderlich, etwa dann, wenn es gilt, eine Kuh zu besamen. Wer so einen Stall betreibt, steht dem Buchhalter näher als dem traditionellen Bauern, wobei "Buchhalter" insofern irreführend ist, als an die Stelle von Büchern Computerprogramme getreten sind, selbstschreibende Systeme, die dank der rund um die Uhr gesammelten Daten den Vorgaben entsprechend reagieren, Entscheidungen, die es zu treffen gilt, vorwegnehmen. Für den Bauern oder Unternehmer bleiben bestenfalls punktuelle Entscheidungen. Er muss sich etwa fragen, ob sich ein Tierarzt lohnt oder eine Kuh dem Schlachthof überantwortet werden soll.

Herdenmanagement lautet das Zauberwort der modernen Rinderhaltung. Das Futter wird nicht zu den Kühen gebracht, vielmehr suchen diese die Futterstellen, den Melkroboter oder ihre Liegeplätze aus eigenem Antrieb auf. Voraussetzung dafür sind leistungsfähige elektronische Systeme, die in der Lage sind, komplexe Abläufe zu steuern. Es bedurfte der Arbeit und Erfahrung unzähliger Agraringenieure, Informatiker, Verhaltensforscher, Veterinärmediziner oder anderer Spezialisten.

Keines der Tiere ist angebunden, es bedarf keiner Schläge, um Kühe an den gewünschten Platz zu dirigieren, nicht länger sind Fress- und Melkzeiten an den Tagesrhythmus des Menschen gebunden. Das Futterangebot ist reichlich. Es finden sich selbst Apparate, die der Fellpflege dienen. Diese werden von den Kühen regelmäßig frequentiert. Anbieter solcher Systeme sprechen von artgerechter Tierhaltung, davon, dass der Landwirt eine andere Beziehung zu seinen Tieren aufbauen könne, da der mit einem gewissen Zwang verbundene enge Kontakt während des Melkens nicht länger notwendig sei. Auch Tierschützer können solchen Laufställen viel abgewinnen. Vorbei sind die Zeiten, in denen Kühe in dunklen und verschmutzten Ställen an Ketten hingen. Ihre Existenz im diesseitigen Kuhparadies mit ausreichendem und nahrhaftem Futterangebot (Raubtiere kennt diese Welt nicht) verdankt sich allerdings einzig einer entsprechenden Milchleistung.

Mag auch die Rede von artgerechter Tierhaltung sein, das Entscheidende findet sich dort, wo Bedürfnisse und Verhaltensdispositionen von Kühen systematisch für die Organisation der Bewegungsabläufe genutzt werden. Die Tiere sollen sich nicht frei, sondern bestimmten Zielsetzungen entsprechend bewegen. Dies setzt eine Raumstruktur voraus, in der grundlegende Bedürfnisse jeweils nur in dem einen oder anderen Bereich befriedigt werden können. Das Gegenstück des Liegebereiches mit den Selbsttränken und der Silagefütterung bildet der Bereich mit den Kraftfutterstationen. Zwischen diesen Bereichen zirkulieren die Kühe. Sie müssen zurückkehren, wollen sie ihren Durst stillen, sie müssen den Melkautomaten passieren, um in den Bereich mit den Kraftfutterstationen zu gelangen. In diesen Durchgangspassagen lassen sich einzelne Tiere computergesteuert durch Selektionstore in kleinere Bereiche separieren, sei es zur Besamung, zum Kalben, zur Behandlung oder zum Abtransport in den Schlachthof.

Ob implantierte Chips, Transponder, umfassende Datenerfassung mit all ihren Normierungen oder Reproduktionstechnologie - in all diesen Bereichen befinden wir uns erst am Anfang dessen, was in der Rinderhaltung bereits üblich ist. Wie in modernen Kuhställen öffnen sich heute viele Türen nur noch dann, wenn nach einer elektronischen Identifikation eine Berechtigung bestätigt wird. Ein Bankomat funktioniert nicht viel anders als ein moderner Kraftfutterausgabeautomat. Die automatisierte Tieridentifikation, Voraussetzung für jedes effiziente Herdenmanagement, findet sich heute, wenn auch unter anderen Bezeichnungen, in Krankenhäusern, Altenheimen, Gefängnissen, an Universitäten oder in der Verwaltung. Ohne die in der Rinderhaltung gesammelten Erfahrungen wäre die heutige Reproduktionsmedizin nicht zu denken. Die moderne Rinderhaltung ist gleichermaßen Experimentierraum wie Modell künftiger Herrschaft. Nicht anders als Kühe werden wir tagein tagaus an zahllosen Schnittstellen die für unsere Bewirtschaftung nötigen Daten liefern. Nicht anders als Kühe werden wir zu ständiger Bewegung gezwungen sein, Freiheit mit dem Zwang verwechseln, zwischen vorgegebenen Angeboten wählen zu müssen. Wie Rinder werden wir unsere Unterwerfung konsumieren.

Rindern und Kühen wird dies aufgezwungen, der Mensch wird sich dagegen aus eigenem Antrieb in seine technokratische Organisation fügen. Warum sollte man sich nicht einen Chip zur eindeutigen und schnellen Identifikation implantieren lassen, können dadurch Wartezeiten an Flughäfen vermieden werden. Menschen werden sich aus eigenem Antrieb in ihre Ausbeutung und Unterwerfung schicken, in eine Herrschaft, die sich der ständigen Bedürfnisbefriedigung wie dem Konsum verdanken wird. Der Fortschritt in Richtung Kuh ist nicht mehr aufzuhalten.


     Bernhard Kathan
Schöne neue Kuhstallwelt
Herrschaft, Kontrolle und Rinderhaltung
Martin Schmitz Verlag
272 Seiten, Abbildungen
ISBN 978-3-927795-50-1
Euro 19.80
Bestellen:
martin-schmitz-verlag.de



[ zur Startseite ]