Lost in Space
Schwangerschaftsbilder | Geburtsbilder
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Unsere Welterfahrung verdankt sich nicht zuletzt aus der Schwerkraft. Vom
Boden stoßen wir uns ab, von ihm erheben wir uns. Menschen mit einer
beschädigten Identität hätten, so sagt man, den Boden unter den Füßen
verloren. Es fehlt ihnen an Halt. In den frühen Science Fiction Filmen
bewegten sich die Menschen in den Raumschiffen, als seien sie auf der Erde.
Unter dem Eindruck der ersten Raumflüge und der Mondlandung hat Stanley
Kubrick in „2001. Odyssee im Weltraum“ (1968) mit solchen Kulissenwelten
gebrochen und den Reisenden im galaktischen Raum den Zustand der
Schwerelosigkeit abverlangt. Eine Stewardess bewegt sich durch die
Grossraumfähre, ohne wirklichen Kontakt zum Boden. Ihr Bemühen, den Kontakt
zum Boden nicht völlig zu verlieren, erfordert Anstrengung. Der einzige
Passagier ist in seinem Sitz festgeschnallt. Er schläft. In einer
mühevollen, aber doch leichten Geste, fängt sie seinen Kugelschreiber, der
sich selbständig gemacht hat und zwischen den Sitzreihen schwebt, und
schiebt ihn zurück in die Brusttasche des Schlafenden. Eine fast zärtliche
Geste, doch der Reisende bemerkt es nicht. In einem Videoclip von Touch and
Go versucht eine junge Frau wie die Stewardess in Kubricks Grossraumfähre
den Kontakt zum Boden nicht zu verlieren: „I am nervous if you are around. I
find you very attractive. Would you go to bed with me?” Ist die Schwerkraft
aufgehoben, drohen wir in einen embryonalen Zustand zurückzufallen. Nicht
zufällig begegnen wir nicht nur in „2001“, sondern auch in Ridley Scotts
„Alien“ (1979) Bildern, die auf die Geburt oder die Gebärmutter anspielen.
Während in „2001“ ein Sternenkind geboren wird, brüten die Männer in „Alien“
in ihrem Leib ein Ungeheuer aus. Sie nennen den Computer, der die Technik
überwacht, „Mutter“. Das Kommandozentrum wirkt wie eine Höhle, ein Nest oder
eine Art Mutterschoß.
In Massive Attacks Videoclip „Tear Drop“ schwebt ein Embryo in einer
Fruchtblase mit trübem Fruchtwasser. Das computeranimierte Geschöpf singt
mit kleinen Lippenbewegungen und reduzierter Mimik. Es könnte auch durch den
Sternenraum schweben. Videoclips sind voll von ähnlichen Bildern. Das Gefühl
von Schwerelosigkeit empfinden wir vor allem im Wasser. Der Swimmingpool
zählt zu den prominenten Orten in Videoclips. Es sind vor allem Frauen, die
im Wasser schweben und Luftblasen aus Mund und Nase hochsteigen lassen.
Manchmal treiben sie wie die Cellistin in Robert Altmans „Short Cuts“ (1993)
leblos an der Wasseroberfläche. Aus dem Rauch, der eine Seifenblase füllt,
kann sich eine Frau formen, die in einer Blase zappelt und zuckt. Die Blase
treibt im Wasser. Die Nabelschnur fehlt. Ungeschlechtliche Fortpflanzung.
Ohne Wasser gäbe es kein Leben. Wasser ist aber auch ein bedrohliches
Medium. Der Swimmingpool ist einer der klassischen Orte des Kinotodes.
Wasser bezeichnet die Nähe von Geburt und Tod. Heute läse sich das Ende von
Brian Jones, der im swimming pool ertrank, anders. Zu den Uterusbildern ist
auch der schwerelose Raum des Alls zu zählen. Neben Michael Jackson und
anderen begegnen wir hier auch Herbert Grönemeyer. „Ich dreh’ mich um dich“,
singt er. Offensichtlich klappt die Telefonverbindung nicht. Dort, wo sie
klappt, ist sie gestört: „I am sorry to interrupt your conversation, but we
are experiencing violent storm conditions in the asteroid belt in this time.”
Mit Hilfe des Computers lassen sich Wasserwelten auch außerhalb des Wassers
inszenieren. Die Sängerin kann erst an der Zimmerdecke, später durch die
Häuserschluchten der Stadt schweben. Der Bildschirm scheint sich in eine Art
Aquarium verwandelt zu haben. Während jedoch der Embryo geschützt in der
Placenta aufgehoben ist, gehen solche Körper in künstlichen Landschaften
verloren. Wie ein roter Faden zieht sich durch Videoclips der beschädigte,
instabil gewordene Körper. Vor allem sind diese Körper schlecht verankert,
sie drohen, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dies reflektiert das
Ende aller stabilen Bindungen. Die Orte driften auseinander, verlieren ihren
sinnlich wahrnehmbaren Zusammenhang. „Wir steigen irgendwo aus und wissen
nicht mehr, wo wir sind. Die Welt ist voller Zeichen, doch für manche sind
wir blind. Wir kommen durcheinander mit verschiedenen Programmen“, singen
Die Sterne.
Erstaunlich viele Videoclips arbeiten mit Bildern der Medizin. Bevorzugte
Orte sind die Notaufnahme, der OP, die Psychiatrie, der Sektionssaal und die
Gebärstation. Eine Frau wird auf einer Liege durch lange Korridore eines
Krankenhauses geschoben. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt, sie schreit, bäumt
sich schrecklich auf. Dazwischen die bekannten Bilder einer akuten
Notsituation. Dramatische Bewegungen. Hände werden gewaschen. Monitore
zeigen Zackenlinien. Was fehlt der Frau eigentlich? In welchen OP könnte sie
geschoben werden, wenn nicht in den Kreißsaal. Mit bedrohlich wirkenden
Instrumenten wird versucht, etwas zwischen ihren gespreizten Beinen ans
Tageslicht zu befördern. Endlich ist es geschafft. Es ist kein Monster,
nein, ein vollkommen steriles, grosses Ei mit polierter Oberfläche. Werden
Eier ausgebrütet, dann ist unsicher, was zum Vorschein kommen wird. Chris
Marker schrieb, Videospiele könnten uns mehr über unser Unbewusstes sagen
als die gesammelten Werke Lacans. Dies gilt noch mehr für Videoclips.
Videoclips sind Werbung. Sie greifen Bedürfnisse und Befindlichkeiten
heutiger Jugendlicher auf. Bilder einer kantenlosen Welt, die das Individuum
wie ein Mutterschoß zu nähren und umschließen scheint, fügen sich zwar
widersprüchlich, aber dennoch bruchlos zu solchen, in denen der Körper
bedroht ist und Reproduktion zu einer Frage technischer Apparaturen wird. Da
mögen noch so viele Schwangerschaftsbilder zitiert werden, die
traditionellen Körper- und Gebärvorstellungen lösen sich auf. Der Körper
wird zur eigentlichen Bedrohung, die es mit Hilfe von Medizin und
Biotechnologie zu beherrschen gilt. So werden auch die Beziehungen zu den
Menschen und zur Welt neu bestimmt. Die Videoclips spiegeln es sehr gut:
Aufgeboben in der neuen Welt sind jene, die sie konsumieren.
Den Eindruck der Schwerelosigkeit vermitteln vor allem Explosionen, die in
extremer Zeitlupe gedreht sind. Die Zeitlupe nimmt den Explosionen alle
Ecken und Kanten, macht sie weich. Michelangelo Antonionis fulminantes Ende
von „Zabriskie Point“ (1970) hat Filmgeschichte gemacht. Als Daria im Radio
die Nachricht hört, Mark sei von der Polizei erschossen worden, träumt sie,
den Luxus-Bungalow ihres Arbeitgebers zu sprengen. In immer neuen
Einstellungen fliegt der Bungalow unter den Klängen von Pink Floyd in
Zeitlupe in die Luft. Es sind Bilder gegen die dekadente Welt der
Erwachsenen, die nur noch aus Verpackung, Limousinen, Anzügen, Swimmingpools
zu bestehen scheint. In einem Videoclip von Fatboy Slim folgt in ähnlicher
Weise Explosion auf Explosion. Auch hier ein Bücherregal, Glas und Papier.
Ein Kühlschrank, zerfetzte Fleischteile und Nudeln, der Rest ist nicht
identifizierbar. Ein Kleiderschrank. Die Fetzen schweben, als bewegten sie
sich im Wasser. Eine Sitzecke mit Polstermöbeln. Papier, Flaschen und
Scherben. Ein Spiegel. Gerade eben hat sich eine junge Frau vor diesem
Spiegel noch geschminkt. Natürlich ein Bildschirm. Kein Zweifel, bei diesen
Aufnahmen stand Antonioni Pate. Selbst die Farben stimmen. Aber was für ein
Unterschied! Diese Explosionen haben keine Richtung und kein Ziel mehr. Sie
sind unmotiviert. Als erstes explodiert eine Toilettenmuschel. Dies
bezeichnet es genau. Wir haben es mit einer Art Verstopfung zu tun, die sich
ihre Entladung sucht. Ein neues Geburtsbild. Gebären als Metapher.
Bernhard Kathan, 2006 /2013