MÄRSCHE, UM DEN SIEG ZU VERFEHLEN
Richard Frankenberger und Günter Gstrein. Kugel und Kagel




"... der Kampf gilt dem Wahne als solchem, gilt der Siegbesessenheit als solcher, und wenn es gelingt, ihn zu seinem Ziel zu bringen, so ist diese 'Besiegung des Sieges' kein Sieg im althergebrachten Sinne mehr, kein ekstasierender Freudenrausch, sondern lediglich Erfüllung einer schmerzlichen, einer schmerzlich ernsten Pflicht; beinahe möchte man sagen, daß der gewohnte (und so überaus menschliche) Siegesjubel fortab durch Siegestrauer ersetzt werden müßte, damit die notwendige 'Entwertung des Sieges' tatsächlich erreicht werde." Hermann Broch, Massenwahntheorie

Ein Hochsitz dient einem Jäger als Deckung und Witterungsschutz bei der Jagd. Er ermöglicht ein sicheres Erkennen und Beurteilen des Wildes sowie sicheres Schießen. Durch die erhöhte Position auf dem Hochsitz kann der Erdboden als natürlicher Kugelfang für Geschosse dienen, die das Ziel durchschlagen oder verfehlen. Zudem kann die Jagdwaffe beim Anlegen auf das Wild aufgestützt oder angelehnt werden. Ein ausreichend hoher Hochsitz kann auch dafür sorgen, dass der Jäger "über dem Wind" sitzt und vom Wild nicht gewittert wird. Lauerstellungen geringerer Bauhöhe werden Ansitz genannt.

Auch wenn man kein Gegner der Jagd ist und "Entnahmen", wie es so schön heißt, unter Beachtung bestimmter Regeln als nötig erachtet, so ist doch die Frage nach dem affektiven Geschehen zu stellen, also nach den Empfindungen jener, die etwa einen Hirsch abschießen. Zum einen beziehen sich diese auf das zu erlegende Tier: Es wird als Gegner phantasiert, was heute nicht mehr wirklich der Fall sein kann. Immerhin wird es noch niedergestreckt und liegt dann in seinem Blut, und die Posen, die Jäger einnehmen können, sind Posen eines Siegers. Zum anderen gelten die Empfindungen Mitkonkurrenten, wird ihnen doch ein Beutestück entrissen. Was einer erlegt hat, kann ein anderer nicht mehr erlegen.

Richard Frankenberger, müde geworden, ist in einem Hochsitz zu sehen, in der Haltung eines Jägers, der auf der Lauer ist, um einen Hirsch, ein Reh oder einen Hasen zu erlegen. Aber statt eines Gewehrs bedient er sich eines krummen Astes. Richard Frankenberger spielt nicht Jäger, sondern führt nur dessen Gestik ad absurdum.

Zahllose Regeln und Rituale der Jagd dienen dazu, all die mit ihr einhergehenden Affekte unter Kontrolle zu halten. Diesbezügliche Regelverstöße können auf sehr unterschiedliche Weise geahndet werden, sei es mit einer Beschämung, einer Ächtung, schlimmstenfalls mit einer gerichtlichen Ahndung und Bestrafung. In Wahlkämpfen, wie wir nun wieder einen erleben, mangelt es an vergleichbaren Regeln. Es geht um Sieg und Niederlage, letztlich um Vernichtung, die sich im Idealfall in einem "ekstasierenden Freudenrausch" entlädt. Dabei findet sich keiner, der seine Hand in das Blut des Unterlegenen tauchte im Wissen, was er dem Unterlegenen, dem Besiegten verdankt. Die Siegestrunkenen nehmen das ganze Land in Besitz, obwohl sie das Allgemeinwohl im Munde führen: "Wir", "Gemeinsam die Zukunft gestalten", "Zusammen. Neue Wege gehen." Da sie aber Sieger sind, steht es ihnen zu, alle Schlüsselstellen zu besetzen, nicht zuletzt die jener Institutionen, denen als übergeordnete Instanzen eine korrigierende Funktion hinsichtlich parlamentarischer Entscheidungen oder der Verwaltung zukommt.

Von den "Superbefriedigungen der Gemeinschaftsbildung", von denen Broch spricht, sind wir weit entfernt. Die "emotionalen und ekstasierenden Stimulanzien", angefangen beim scheinbar "harmlosen Chorgesang und den schon weniger harmlosen überdimensionierten Flaggenparaden bis zur Entfesselung aller sadistischen Haßtriebe in der Niederprügelung und Ausrottung von Minoritäten", sind in Misskredit geraten. Heutige Sieger treten als Opfer auf: "Sie sind gegen mich, weil ich für euch bin". Dabei gebärden sie sich, als ginge es um die Behauptung eines Massenprodukts wie Leberkäse.

Der Hochsitz drängt sich mir nicht zufällig auf, ist er doch als bauliche Anordnung zu betrachten, die nicht nur Übersicht schafft, einen Überblick ermöglicht, sondern die Wahrnehmung festlegt. Man kann sich Wahlkampfbüros als ähnliche Einrichtungen vorstellen. Vor allem gilt es Gegner auszumachen, mögen sie auch keine sein, Faulenzer, Migranten, kopftuchtragende Mädchen in Kindergärten, die es zu schützen gelte, Linke (ein sehr dehnbarer Begriff), Juden (Tal Silberstein), freilich ohne letztere als solche zu bezeichnen.

Der von Hermann Broch beschriebene "Siegeswahn", die "Ansteckungsgefahr der Siegesbesessenheit", die er wahrnimmt, seine Hoffnung auf die Möglichkeit einer "Entwertung des Sieges und der Siegesvorstellung", also einer "Besiegung des Sieges", dies mit dem Ziel, die Gewissenskräfte zu aktivieren und ihnen wieder Geltung zu verschaffen - all diese Vorstellungen lesen sich heute reichlich antiquiert. Sie werden verständlicher, gönnt man sich Mauricio Kagels "Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen". Kagels Märsche heben vertraut an, verlieren sich dann aber in einem wohltuenden und hoffnungsfreudigen Durcheinander. Mit Beliebigkeit hat dieses Durcheinander nichts gemein, sind doch folgende Anforderungen zu beachten: "Metrisch ist das Werk nur auf den ersten Blick einfach, im Detail sind komplexe metrische Akzentverschiebungen prägend. / Rhythmisch arbeitet das Werk hauptsächlich mit punktierten und synkopischen Motiven in reichen Variationen. / Alle InstrumentalistInnen benötigen eine solide Instrumentaltechnik und eine hohe metrischrhythmische Sicherheit. / Dynamisch ist das Werk genau bezeichnet und stellt keine außergewöhnlichen Anforderungen an das Ensemble. / Das Zusammenspiel jedoch ist rhythmisch komplex, die Eigendynamik der Marschmotive wird oft durch Akzentverschiebungen konterkariert - hierfür ist höchste Konzentration der InstrumentalistInnen notwendig. / Größere Ensembles sind auf jeden Fall auf eine Ensembleleitung mit präziser Zeichengebung angewiesen". Und die besondere Herausforderung dabei: Das Ensemble solle verstimmt klingen, dies dürfe aber nicht absichtlich erzeugt werden: "Am einfachsten ist dies zu erreichen, indem auf das Stimmen verzichtet wird. In einem laufenden Konzert ist das natürlich nicht möglich. Als Alternative ist dann tatsächlich denkbar, die Veränderungen beim Stimmen der Instrumente untereinander wieder rückgängig zu machen. Professionelle Ensembles werden nicht umhinkönnen, die Instrumente bewusst dezent gegeneinander zu verstimmen. Absichtlich unsauberes Spiel ist aber ausdrücklich nicht erwünscht.

Eine Demokratie darf keine Sieger kennen. Athen ist daran zugrunde gegangen, ebenso wie das Österreich der Zwischenkriegszeit. Jede vitale Demokratie lebt vom Austragen und Aushandeln von Konflikten und Widersprüchen. Und sollte es zu keiner Einigung kommen, so ließen sich manche Entscheidungen durch das Los herbeiführen. Das Los kennt keinen Sieger. Die Entscheidung verdankt sich einem Zufall. Übrigens hat sich der Losentscheid in manchen Traditionen durchaus bewährt. Auch der, der das bessere Los zieht, weiß, dass sich dies einem Zufall verdankt, weshalb Überheblichkeit nicht angebracht ist.

Ich habe Günter Gstrein gebeten, die Aufnahme von Richard Frankenberger (Foto: Reserl Frankenberger) den baulichen Vorgaben entsprechend zu ergänzen. Über Inhaltliches haben wir nicht gesprochen. Umso mehr freue ich mich über seine Kugel-Graphik. Es ist immer eine undankbare Aufgabe, etwas Vorgegebenes zu ergänzen. Oft genug hat dies ein Unterlaufen, eine Entwertung oder eine Konterkarierung des zu Ergänzenden zur Folge. Günter Gstrein hat sich dagegen in Demut geübt, in zurückhaltender Weise aufgegriffen und fortgeführt, also nur "bewusst dezent gegeneinander verstimmt", aber kein "absichtlich unsauberes Spiel geführt". Kugel und Kagel. Dass der Weg, an den das Grundstück grenzt, "Kugelweg" heißt, erwähnte ich nie. Möglicherweise habe ich von den Hirschen erzählt, die allabendlich das Gelände frequentieren und die früher oder später einer Kugel zum Opfer fallen. In der "Ergänzung" scheint mir also manches aufgegriffen und weitergeführt. Der entscheidende Punkt ist allerdings dort zu sehen, wo zwei formal sehr unterschiedliche Bildelemente trotz der Irritation ein Ganzes bilden. Hier kommt eine Haltung zum Ausdruck, die man sich für das politische Geschehen in einer Demokratie wünschen möchte.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Als ich unlängst in der Früh ins Café ging, um Zeitung zu lesen, kam ich, es war bereits gegen zehn Uhr, an einem Nachtlokal vorbei, aus dem die letzten Gäste torkelten. Ein Schwarzafrikaner war mit dem Türsteher in Streit geraten. Der sehr kräftig gebaute und wohl auch weniger betrunkene Türsteher prügelte mit seinen Fäusten auf den Schwarzen ein, auch dann noch, als dieser am Boden lag. In diesem Augenblick zerschmetterte ein zweiter Schwarzafrikaner eine Bierflasche auf dem Kopf des Türstehers. Ich hätte die Polizei rufen können, tat es aber nicht, da mir das Kräfteverhältnis in diesem Kampf ziemlich ausgewogen schien. Mit Siegesbesessenheit hatte diese Auseinandersetzung nicht das geringste zu tun. Es wurden Regeln, wohl auch Kränkungen verhandelt. Anders hätte ich mich verhalten, hätte sich eine Meute gebildet, wären die Akteure einander nicht bekannt gewesen. Der Siegesbesessenheit fehlt es zumeist an unmittelbarer Erfahrung und konkreter Auseinandersetzung.

Die Installation wird im HIDDEN MUSEUM von Mitte August bis zum Wahlabend zu sehen sein. Wir werden den Wahlabend mit einem Essen begehen. Es wird wohl Fleisch eines erlegten Tieres geben. Wir werden uns die Wahlnachrichten aus einem Transistorradio anhören, dabei aber gewiss in keinen Siegesrausch verfallen.

© Bernhard Kathan, 2019

Richard Frankenberger, geb. 1947, lebt und arbeitet als Künstler in Rohrbach am Kulm; neben seinem umfangreichen zeichnerischen und bildnerischen Werk ist er vor allem als Initiator zahlreicher Kunsteingriffe im ländlichen Raum hervorgetreten: statt Behübschung konfliktreiche Auseinandersetzung. Zuletzt erschienen: RICHARD FRANKENBERGER, Landschaften - Aquarelle und Zeichnungen - 1965 bis 1993, Verlag Bibliothek der Provinz 2017, ISBN 9783990286777.

Günter Gstrein, geb. 1958, lebt und arbeitet in Innsbruck. Beschäftigt sich mit abstrakten Graphiken, die auf höchst subtile Weise die Wahrnehmung in die Irre führen.
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