Maria Peters: Der Fall Marie 23

In einer perfektionierten Welt wird das Schöpferische sinnlos.
(Eintrag von Marie 23 im Kontaktserver einige Wochen vor ihrem Verschwinden)



Im 20. Jahrhundert der Menschheit erzählte der Schriftsteller Michel Houellebecq in seinem Buch „Die Möglichkeit einer Insel“ von unseren Vorgängern, den Menschen, die ihre DNA hinterlassen hatten und so, durch fortwährendes Klonen, eine Form von Unsterblichkeit erreicht hatten. Er beschrieb damit als erster wie wir Neomenschen schrittweise optimiert wurden. Und dass wir uns bereits damals wie die Pflanzen durch Photosynthese ernähren konnten. Da ab diesem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte keine Fortpflanzung mehr nötig war, gab es natürlich auch keine Sexualität und damit auch keinen Grund für ein Zusammentreffen der Individuen mehr. Die Qual und das Elend der Liebe und der Sterblichkeit wurden allerdings schon den ersten Neomenschen durch die Lebensberichte der ursprünglichen DNA-Spender überliefert. Und damit auch die Freuden und die Intensität des Lebens der früheren Menschen.
Marie 23, eine Figur die Houellebecq in seinem Buch zu Wort kommen ließ, verkörperte einen tragischen Zwischenschritt in der Entwicklung hin zu unserem Neomenschentum.
Sie war eine unfreiwillige Artemis. Reste unserer Vorläufer in ihrer DNA reagierten mit einem dumpfen Unbehagen auf ihre neomenschlichen Anteile. Sie sehnte sich nach Schmerz und Tod. Sie verließ den geschützten Ort, der ihr Überleben und ihr Wiedergeklontwerden sicherte, und entschwand in die unbekannte Wildnis.

      

Hier die erste Veröffentlichung des ungekürzten Wortlauts des letzten Eintrags im Lebensbericht von Marie 23 über den allgemeinen Kontaktserver:

2.Juni 3968 Aus den Lebensberichten meiner Vorgängerinnen entnehme ich, dass es außerhalb der Station immer noch wild lebende Menschen geben soll. Keine meiner Vorgängerinnen verließ jedoch jemals die Station, und alles was überliefert ist, sind lediglich Gerüchte.
Die Idee jedoch, dass die Wilden, die es außerhalb unserer Lebensstationen noch geben soll, die letzte Verbindung zu meinen verkümmerten Emotionen sein könnten, lässt mich nicht mehr los.

Ich weiß nicht, ob es außerhalb meines Areals gefährlich ist. Aber diese Tatsache ist auch belanglos.
Denn ich kenne keine Angst.
Ich kenne lediglich die Begierde nach der Begierde.

Ich verlasse nun meine Station.
Ich nehme Pelzchen mit, wir haben genügend Futter und Mineralstoffpillen um etwa drei Wochen außerhalb der Station überleben zu können. Danach werde ich berichten. Oder meine Linie erlöscht.

Dieser Eintrag war das letzte Lebenszeichen von Marie 23. Nach damaliger Rechtslage wurde ihre Station nach der vorgeschriebenen Wartefrist von 3 Monaten geschlossen und ihr DNA-Depot vernichtet.
Normalerweise wurden die Abtrünnigen nicht mehr erwähnt und bald vergessen. Maries letzter Eintrag jedoch löste eine noch nie da gewesene Fluchtwelle unter uns Neomenschen aus. Ich persönlich vermute, dass der Grund dafür die Klarheit war, mit der sie die Sehnsucht nach Emotionen beschrieb, etwas, worüber vorher niemand offen geschrieben hatte.
Die Zweifel an der Weiterentwicklung von uns Neomenschen sind seither nie mehr verstummt.
Auch die aktuellen Experimente mit alten und noch unoptimierten DNA-Stämmen haben ihren Ursprung letztlich im Verschwinden von Marie. Und ebenso war ihr letzter Eintrag der Auslöser dafür, dass wir uns heute wieder teilweise (und inzwischen legal) auch außerhalb unserer Stationen aufhalten können.

Im Jahr 4015 reiste ich auf den Spuren der Epoche der Romantik des 19. Jahrhunderts durch Deutschland. Dabei hielt ich mich häufig in den Wäldern und vorwiegend außerhalb der Ortschaften auf. Auf einer meiner Wanderungen (es war zwischen Weimar und Jena) entdeckte ich ein verfallenes Haus. Als ich es näher untersuchte, sah ich, dass es jemandem als Unterschlupf gedient hatte.

Die Reste einer Feuerstelle waren zu sehen, ein alter Schlafsack lag daneben. Vor dem Fenster, durch welches man einen perfekten Rundblick auf die Felder und den Waldrand dahinter hat, lehnte ein Stock. So, als sei ein Wanderer eben kurz hinaus gegangen.
Als ich den Schlafsack aufschlug, lag darin ein zerschlissenes Tagebuch. Mein erster spontaner Verdacht bestätigte sich bei späteren Recherchen im Kontaktserver:
Es ist das Buch von Marie 23.
Das Rätsel über ihren Verbleib kann somit heute als gelöst betrachtet werden.


Das aufgefundene Tagebuch der Marie 23 in ungekürzter (und unkommentierter) Fassung:

6.Juni 3968
Zwischen den Städten Deutschlands.
Alles verlassen, die Namen der Orte - längst vergessen.
Ich benenne alles neu.



12.Juni 3968
Es gibt die Wilden tatsächlich. Ich beobachte sie seit einigen Tagen aus der Ferne.
Heute wurde dort ein Kind geboren.
Die Frau, die es gebar, schrie vor Schmerzen. Dieser qualvolle Zustand hat mehrere Stunden gedauert.
Als alles vorbei war, verfiel die Horde in einen Freudentaumel.
Die Frau scheint sich jetzt an die Schmerzen nicht mehr zu erinnern. Sie drückt ihr Kind fortwährend lächelnd und streichelnd an sich. Das Kind trinkt an ihrer Brust.

19. Juni 3968
Ich kann die Gefühle der Wilden nicht nachempfinden und nehme deshalb Abstand von meinem ursprünglichen Plan, Kontakt zu ihnen aufzunehmen.
Ich werde morgen in die Station zurückkehren, denn das Leben außerhalb scheint nichts an meiner psychischen Verfassung zu ändern.
Mein Verlangen nach Emotionen ist zwar ungebrochen, doch ich fürchte, die Fähigkeit sie zu erleben ist mir nicht mehr übertragen worden.

20. Juni 3968
Pelzchen ist gestorben.
Es hat bei den Wilden einen Hund entdeckt, es wollte ihm eine gefangene Maus als Geschenk bringen. Der Hund hat Pelzchen getötet und gefressen.
Ich empfinde so etwas wie Schmerz.
Ich glaube, ich erahne nun, was die früheren Menschen empfanden.
Ich glaube ich habe Pelzchen geliebt.

21. Juni 3968
Der Verlust von Pelzchen hat mir gezeigt, dass eine Weiterentwicklung der Neomenschen nicht zielführend ist, denn es ist uns nicht gelungen die Sehnsucht nach Emotionen wegzuzüchten.
Hätte ich den Drang, meine Station zu verlassen nicht verspürt, so wäre Pelzchen nicht gestorben.

Wäre Pelzchen aber nicht gestorben, so hätte ich nicht erkannt, dass die Endlichkeit die unbedingte Voraussetzung für Emotionen ist.
Die Möglichkeit des Verlusts
Der Drang nach Liebe und Veränderung
Und die Unvollkommenheit als Grundlage dafür, dass Wünsche überhaupt entstehen:
Das ist es, was die früheren Menschen das Leben nannten.

Und sollte es einst gelingen nicht nur jede Notwendigkeit,
sondern auch die Sehnsucht nach Gefühlen zu beseitigen,
so wird auch der Wille zum Leben selbst vernichtet sein.
Denn jeder Wunsch und jedes Streben
Braucht zuerst den Mangel
Und dann die Bedrohung.

Mir als Neomensch bleibt nur eine Möglichkeit, um das Leben zu erfahren:
Ich gehe nicht zur Station zurück.

Und nun, endlich, eine Emotion:

Ich freue mich
auf die Angst vor dem Tod.



Abb., Text © Maria Peters 2013

Nachtrag:
In Michel Houellebecqs Buch „Die Möglichkeit einer Insel“ finden sich zahllose Motive aus der Geschichte der Science Fiction. Franz Rottensteiner, ausgewiesener Kenner der Science Fiction Literatur, hat uns freundlicherweise eine Toplist jener Romane zusammengestellt, in denen es um die Optimierung des Menschen mit Hilfe der Biotechnologie geht:
Mary Shelley, Frankenstein (1818)
H.G. Wells, Doktor Moreaus Insel (The Island of Dr. Moreau, 1896)
Maurice Renard, Der Doktor Lerne (1908)
Konrad Loele, Züllinger und seine Zucht (1920)
Alfred Döblin, Berge, Meere und Giganten (1924)
Olaf Stapledon, Die letzten und die ersten Menschen (Last and First Men, 1932)
Aldous Huxley, Schöne Neue Welt (Brave New World, 1932)
Curt Siodmaks, Donovans Gehirn (Donovan's Brain, 1942)
James Blish, Auch sie sind Menschen ... (The Seedling Stars, 1957)
Cordwainer Smith, Ein Planet namens Schayol (A Planet Named Shayol, 1961)
J.G. Ballard, „Koitus 80: eine Beschreibung des Sexualaktes im Jahre 1980“ (1970)
Greg Bear, Blutmusik (Blood Music, 1985)
Greg Egan, Diaspora (Diaspora, 1997)
Andreas Eschbach, Der letzte seiner Art (2003)
Charles Stross, Accelerando (2005)
Kazuo Ishiguro, Alles, was wir geben mussten (Never Let Me Go, 2005)
Dietmar Dath, Die Abschaffung der Arten (2008)/Pulsarnacht (2012)
Michael K. Iwoleit, Am Ende der Ewigkeit (Kurzgeschichtensammlung, Wurdack 2012), darin z. B. „Wachablöse" oder „Zur Feier meines Todes“

[ zur Startseite ]