„.... ein ganz zahmes Biest, von einer Dame zu lenken und zu reiten.“




„Mein jetziges Leben ist Selbstmord, ich kann mich nicht länger der Tatsache verschließen, dass ich selbst mich von der Gewohnheit des ,Träumens’ nicht befreien kann; wie Schnapstrinken zehrt sie meine Lebenskraft auf. Nun habe ich mich gänzlich gehen lassen. ... Mein Gott, was soll aus mir werden? ... Mein einziges Verlangen ist, zu sterben. Es gibt keinen Abend, an dem ich nicht mit dem Wunsch zu Bett gehe, nie mehr aufstehen zu müssen. Bewusstlosigkeit ist alles, was ich ersehne. Ich bleibe im Bett, solange ich kann; denn was erwartet mich?“
Florence Nightingale, 31. Dezember 1850


Denkt man an Simone Weils „Plan zu einer Gruppe von Krankenschwestern an vorderster Front“, dann stellt sich die Frage, welchen Bildern sich dieser Plan verdankte. Hat sie Bücher über Krankenschwestern gelesen, hatte sie Vorbilder? Hat sie sich mit Florence Nightingale beschäftigt? Dies ist eher nicht anzunehmen. Dabei hatten die beiden vieles gemeinsam. Wie Simone Weil hatte auch Florence Nightingale mystische Erfahrungen. Auch sie glaubte, von Gott in seinen Dienst berufen zu sein. Auch sie hoffte ein Zeit lang, ihr Heil in der römisch-katholischen Kirche zu finden. Simone Weil und Florence Nightingale engagierten sich in ähnlicher Weise für Arme und Deklassierte. Auch Florence Nightingale verfasste politische Schriften, mochte sie in ihrem politischen Handeln auch wesentlich pragmatischer gedacht haben. Beide teilten die Leidenschaft für Mathematik. Beide schrieben gegen ihren Tod an, stürzten sich von einem Projekt in das nächste, teilten einen beängstigenden Erfahrungshunger, den Hang zum Extremen, zu einer maßlosen Selbstüberforderung. Durchaus vergleichbar empfand es auch Florence Nightingale als Missgeschick, als Mädchen auf die Welt gekommen zu sein. Auch sie fühlte sich zum Soldatischen hingezogen. Ähnlich wie Simone Weil litt sie ein Leben lang an Krankheiten und erlebte zahllose Zusammenbrüche. Während sich Florence Nightingale oft genug vor fester Nahrung ekelte, war sie gleichzeitig bemüht, ihre Besucher bestens zu verköstigen. Beide teilten eine tiefe Todessehnsucht. Auch Florence Nightingale neigte dazu, ihre Sünden „auszurotten“, letztlich sich selbst zu „zertreten“. Durchaus in verwandter Weise dachte sie an die Spiritualisierung der Arbeit und verstand unter Bildung mehr als nur die Vermittlung von instrumentellem Wissen. Wie wir später sehen werden, gelang es Florence Nightingale allerdings, ganz im Gegensatz zu Simone Weil, den Kippschalter ihres Selbstzerstörungsprogramms umzulegen.

Zweifellos hätte Florence Nightingale höchst ablehnend auf Simone Weils „Plan zu einer Gruppe von Krankenschwestern an vorderster Front“ reagiert. Mochte sie sich auch mehrfach großen Risiken ausgesetzt haben, so etwa während der Cholera-Epidemie des Jahres 1854, so sah sie ein persönliches Opfer dennoch als sinnlose und dumme Verschwendung. Als erste Bedingung für eine Krankenschwester nannte sie die Fähigkeit, sich in den Kranken versetzen zu können, Pflege als eine Tätigkeit, in der nur das zu geschehen habe, was dem eigenen Körper angemessen sei. Tatsächlich hielt sie die von ihr betreuten und bemutterten Pflegerinnen stets zu einem sorgsamen Umgang mit sich selbst an. Allein aus diesem Grund hätte sie Simone Weils „Plan zu einer Gruppe von Krankenschwestern an vorderster Front“ wohl nie unterstützt. Sie hätte nicht anders entschieden als jene, die diesen Plan zu verhindern wussten. Florence Nightingales Erfolg verdankte sich nicht zuletzt dem Umstand, dass sie die Pflege analog zu militärischen Strukturen organisierte. Eine strikt hierarchische Ordnung hielt sie für umso dringlicher, je schlechter die unteren Ränge der Pflegekräfte ausgebildet waren. Simone Weil hätte sich als unausgebildete Pflegekraft also einem strikten Reglement unterordnen müssen. Sie wollte zwar eine Uniform tragen, in eine militärische Struktur hätte sie sich wohl nie eingefügt. Auf ein persönlich motiviertes Projekt hätte Florence Nightingale aller Wahrscheinlichkeit nach mit einer sofortigen Entlassung geantwortet.

Wurde während des Krimkrieges (1854 – 1856) in Skutari wieder ein Transportschiff mit hunderten verletzten oder erkrankten britischen Soldaten entladen, dann soll Florence Nightingale oft zwanzig Stunden ohne Unterbrechung auf den Beinen gewesen sein. Bis zu acht Stunden habe sie auf den Knien verbracht, um Wunden zu verbinden. Sie habe es sich zur Regel gemacht, wenn nur möglich niemanden allein sterben zu lassen. In landläufigen Vorstellungen gilt Florence Nightingale als aufopferungsvolle Schwester, die während des Krimkrieges im Lazarett von Skutari nachts mit einer Lampe in der Hand durch die Krankensäle huschte und sich unermüdlich um die Kranken bemühte. Zweifellos hat sie zahllose Wunden versorgt, Sterbende „begleitet“, Briefe an Hinterbliebene geschrieben. Aber hätte sie nur das getan - so wie viele andere Krankenschwestern -, kaum jemand würde heute ihren Namen kennen. Ihr Erfolg wäre undenkbar gewesen, hätte sie nur an frische Luft, genügend Wärme, Ruhe, Sauberkeit, gelüftete Betten, an angemessene Krankenkost, Blumenschmuck und Bilder oder an die Zuverlässigkeit der Pflegenden gedacht. Florence Nightingales Bedeutung verdankt sich anderen Leistungen. Aus einer begüterten Familie stammend, bestens ausgebildet, von klein an vertraut im Umgang mit gesellschaftlichen Eliten, wusste sie in Strukturen zu denken. So hingebungsvoll sie sich auch um einzelne Kranke gekümmert haben mag, Einzelfälle waren ihre Sache nicht. Stets verstand sie ihr Tun als öffentliche Angelegenheit, mochte sie zumeist auch aus dem Hintergrund agieren.

Florence Nightingale hätte ein völlig sorgenfreies Leben führen können. Sie hätte nur in die ihr zugedachte Rolle hineinwachsen und einen reichen und angesehenen Mann heiraten müssen. Keinesfalls hätte sie irgendeiner Arbeit nachgehen müssen, sieht man einmal von den Pflichten der Hauhaltsführung ab, die einer begüterten Frau der Viktorianischen Zeit oblagen. Florence Nightingale verstand ihr Interesse für die Krankenpflege als Folge einer göttlichen Berufung. Tatsächlich dürfte sich dieses entscheidend dem Umstand verdankt haben, dass sie gegen die ihr zugedachte Rolle aufbegehrte, ein Konflikt übrigens, der über lange Zeit die Beziehungen zu ihrer Familie prägte. Florence Nightingale machte genau das, was den an sie gerichteten Erwartungen widersprach. Gegen den heftigsten Widerstand ihrer Eltern begann sie, sich mit dem Elend in den umliegenden Dörfern zu beschäftigen, das die Industrialisierung mit sich gebracht hatte. Anfangs verteilte sie Arzneien, Nahrungsmittel, Bettzeug oder Kleider, später begann sie Kranke zu pflegen. Für ihre Mutter war es unfassbar, dass sie sich mit dem „schwarzen Unrat“ der Hütten befasste, Kranke berührte oder gar deren Betten machte. Während ihre Mutter eine „geheime Liebesgeschichte mit irgendeinem niederen, gewöhnlichen Wundarzt“ fürchtete, hatte sich die Tochter längst entschieden, keine Beziehung mit einem Mann einzugehen. Gegen heftigsten Widerstand ihrer Familie eignete sie sich mathematische Kenntnisse an. Für ihre Eltern war dies völlig unverständlich, fragten sie sich doch, welchen Nutzen Mathematik für eine Tochter haben könne, deren Bestimmung in einer standesgemäßen Heirat liege.

Das langweilige und sinnentleerte Leben jener Gesellschaftsschicht, in die sie hineingeboren worden war, wurde der heranwachsenden Florence Nightingale zunehmend unerträglich. Immer weniger konnte sie sich vorstellen, die Tage auf dem Sofa zu verbringen und „einander zu bitten, sich doch ja nicht beim Blumenordnen zu überanstrengen.“ Beim Anblick des besten Versailler Services konnte sie sich fragen: „Können vernünftige Leute wirklich alles dies haben wollen?“ Auf die Konflikte in ihrer Familie reagierte sie mit Ohnmachtsanfällen oder tranceähnlichen Zuständen, in denen sie die Herrschaft über sich verlor, sich wie ein Automat bewegte, sich nicht mehr erinnern konnte, was sie getan oder was man ihr gesagt hatte. Ihre Aufzeichnungen aus dieser Zeit sind voll von Todessehnsüchten: „Ich kann nicht leben - verzeih mir, Herr, und lass mich sterben, lass mich noch heute sterben!“ „Ich wünsche mir nichts mehr als den Tod.“ „Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes?“ „In meinem einunddreißigsten Lebensjahr wünsche ich mir nichts als den Tod.“

Während dieser für sie sehr schwierigen Zeit verfasste Florence Nightingale eine Erzählung mit dem Titel „Cassandra“, in der sie das Leben eines Mädchens aus einer wohlhabenden Familie – also ihr eigenes Leben – beschreibt. Den Vormittag verbringt man im Salon, sieht sich Bilder an, macht Handarbeiten, liest ein wenig vor. Am Nachmittag unternimmt man eine kleine Ausfahrt. Abends leiden die Frauen an einer nervösen Erschöpfung: „Frauen tuscheln untereinander und predigen ihren Töchtern, dass Frauen keine Leidenschaft kennen ... Wenn jedoch die jungen Mädchen der höheren Stände, die niemals einen falschen Schritt tun, deren rechtmäßig erworbener guter Ruf nicht einmal durch den Makel des Wissens befleckt ist, einmal den Mund aufmachen müssten und sagen, womit sich ihre Gedanken beschäftigen, was würde man da erfahren! Die eine malt sich aus, wie sie irgendeinen neuen Freund in einer Krankheit pflegt, eine andere, wie sie romantische Gefahren mit ihm besteht, eine dritte, wie sie vor den Augen ihres erwählten Traumgefährten harten Prüfungen unterworfen wird.“ Da sie ihr Leben weder ertragen noch ändern kann, lässt Florence Nightingale Cassandra sterben, wobei klar ist, dass sie durch ihre eigene Familie getötet wird. Sie lässt die Sterbende rufen: „Freiheit, Freiheit, o göttliche Freiheit, kommst du endlich? Willkommen, freundlicher Tod!“

Angesichts ihrer konfliktreichen Kindheit schrieb sie später, würde sie genug Einfluss haben, dann dürfte keine Mutter ihr Kind selbst erziehen; für Arme wie Reiche sollte es Krippen geben. Selbst wenn sie Mutter von zwanzig Kindern wäre, so würde sie alle in Krippen stecken, vorausgesetzt, diese wären gut geführt. Später sprach sie von „geistiger Mutterschaft“, nicht zuletzt an die von ihr betreuten Soldaten denkend: „Was ist Mutterschaft dem Fleische nach? Ein hübsches Mädchen lernt einen Mann kennen, und sie heiraten. Denken sie überhaupt an Kinder? Die Kinder kommen, ohne dass man sie gefragt hat, weil es nun einmal nicht anders geht ... Für jedes meiner achtzehntausend Kinder, für jedes dieser armen, lästigen Geschöpfe in Harley-Street habe ich in einer Woche mehr mütterliches Gefühl gehegt und mehr mütterliche Taten vollbracht als meine Mutter für mich in zweiunddreißig Jahren.“

Um ihrem Elend, ihren Tagträumen zu entkommen, suchte sie Ablenkung in der Pflege von Kranken. Da war das Elend größer. Dieses schrie nach konkretem Tun: „Mrs. Spencer zum zweitenmal eingerieben. Ich bin so ein erbärmlicher Wurm, dass ich, wenn ich dergleichen tun kann, die Ehe, geistigen oder gesellschaftlichen Verkehr oder was es auch sei, wonach die Leute verlangen, gut entbehren kann ... Meine Seele findet dabei ihren Frieden, und jeder Wunsch des Herzens und des Geistes wird gestillt. Mein ganzes Leiden wird geheilt. Meine Seele wird dadurch vor der Zerstörung bewahrt. Ich verlange nach nichts anderem, mein Herz ist erfüllt. Ich bin zu Hause.“ Florence Nightingale begann sich systematisch in die ihr verfügbare Literatur über Spitäler einzuarbeiten, all dies verborgen vor ihrer Familie. Sie ordnete, verglich, fasste zusammen, sammelte Erfahrungen in evangelischen und katholischen Anstalten im Ausland. Für kurze Zeit übernahm sie die Leitung eines Hospitals für „ehrbare Frauen“ in London. Dort konnte sie zum ersten Mal ihr großes Organisationstalent unter Beweis stellen.

Mit dem Krimkrieg begann jener Lebensabschnitt, der Florence Nightingales Ruhm bis heute begründet. Im Auftrag des Kriegsministeriums übernahm sie als „Superintendent of the Female Nursing Establishment of the English General Hospitals in Turkey“ die Leitung einer Gruppe von 38 Krankenschwestern, die verwundete und erkrankte englische Soldaten in Skutari, dem heutigen Üsküdar, einem Vorort von Istanbul, pflegen sollten. Mochte sie sich während dieser Zeit auch mit unermüdlichem Einsatz um Kranke gekümmert haben, so sah sie ihre eigentliche Aufgabe von Beginn an als Verwaltungsauftrag, später dann als Experiment, welches die Sinnhaftigkeit des Einsatzes von Krankenpflegerinnen in Frontlazaretten zeigen sollte. Keineswegs sah sie sich als Engel der Barmherzigkeit und tat sich deshalb schwer mit „wohltätigen Damen“, „ausgezeichneten, aufopfernden Frauen“. Sie schrieb, diese würden besser in den Himmel als ins Spital passen, sie schwebten wie Engel ohne Hände zwischen den Patienten umher, besänftigten deren Seelen, während sie ihre Körper schmutzig und vernachlässigt ließen. Das „damenhafte“ Verfahren habe nur einen geistigen Flirt zwischen den Pflegerinnen und den Soldaten zur Folge. Einzelne würden verhätschelt, während für die Allgemeinheit nichts geschehe. Es führe nur zu Streitigkeiten unter den „Damen“, während die Ärzte ein bisschen weibliche Gesellschaft genießen würden, was zwar natürlich, aber nicht gerade das Ziel sei.

Im Sinne einer straffen militärmedizinischen Organisation hatte sich jede der ausgewählten Pflegerinnen vertraglich dem Kommando von Florence Nightingale zu unterwerfen. Auf schlechtes Betragen stand die sofortige Entlassung. Wer wegen schlechter Führung heimgeschickt wurde, hatte sich mit der dritten Klasse abzufinden. Nur Ordensfrauen durften ihren Habit behalten. Alle anderen mussten dieselbe Uniform tragen, ein weites, graues Kleid mit grauer Strickjacke, eine einfache weiße Haube und einen kurzen wollenen Mantel mit einem Kragen aus ungebleichter Leinwand, auf den in roten Buchstaben die Worte „Skutari Hospital“ gestickt waren. Wie bei Uniformen von Soldaten wurde diese Kleidung einfach in verschiedenen Größen angefertigt. Während jede Pflegerin Unterwäsche, vier baumwollene Nachthauben, einen baumwollenen Schirm und eine Reisetasche selbst mitzubringen hatte, wurden die Uniformen gestellt. Bunte Bänder oder Blumen waren verboten. Der Ausgang war strikt reglementiert. Die erlaubten Mengen Alkohol waren festgelegt. Die Pflegerinnen bildeten eine höchst inhomogene Gruppe, die wenigsten von ihnen hatten in Spitälern Erfahrung gesammelt. Manche wollten sich mit ihrer Kleidung nicht abfinden, Ordensschwestern oder Mitglieder anderer religiöser Vereinigungen widersetzten sich der Befehlsgewalt von Florence Nightingale.

Die Zustände in Skutari waren erschreckend. Es fehlte an Verbandstoff, an Schienen, an Arzneien, Chloroform und Morphium. In Sälen lagen die Verwundeten und Kranken zusammengepfercht auf dem Boden. Soldaten waren in von Blut und Dreck steife Mäntel gewickelt. Es mangelte selbst an Decken. Amputationen wurden in den Krankenzimmern vor aller Augen vollzogen und zumeist ohne Narkose durchgeführt. Als Operationstische dienten ausgehängte Türen. Dazu kamen zahllose Cholerafälle.

Als Florence Nightingale in Skutari eintraf, begegneten ihr die Ärzte mit großer Ablehnung. Da sie erkannte, dass sie gegen den Widerstand der offiziellen Stellen nichts erreichen könnte, entschloss sie sich, so lange zu warten, bis die Ärzte um ihre Hilfe bitten würden. Mochten noch so viele Soldaten leiden, ohne offizielle Anweisung wollte sie nichts tun. Sie nutzte diese Zeit für organisatorische Tätigkeiten. Ihre Pflegerinnen wies sie gegen deren Widerstand an, altes Leinen zu sortieren, Wäsche zu zählen oder zu flicken. Sie verbot den Pflegerinnen, Krankenzimmer ohne Geheiß eines Arztes zu betreten, mochte der Zustand der Verwundeten noch so beklagenswert sein. Erst nach einer Woche konnten die Pflegerinnen mit ihrer Arbeit beginnen.

In der Folge sorgte sie vor allem für eine verbesserte Hygiene, bessere Ernährung, für ausreichende Verfügbarkeit und Zuteilung sauberer Wäsche. Die Kranken und Verwundeten, die von der Krim nach Skutari kamen, besaßen zumeist weder Essbestecke noch Hemden. Ihr Gepäck hatten sie oft genug auf Befehl ihrer Offiziere zurückgelassen. Da jedoch laut einer Dienstvorschrift der britischen Armee jeder Soldat sein Gepäck ins Lazarett mitzunehmen hatte, wurden dort weder Essbestecke noch Kleidungsstücke ausgegeben.

Eine erste Bilanz ihres Erfolges beschrieb Florence Nightingale so: „Was wir als erreicht ansehen können: 1. Die Küche für Sonderkost ist nun voll in Betrieb. 2. Wir haben noch mehr Krankenzimmer gereinigt und die Scheuertücher, Scheuerbürsten, Besen und Schrubber dafür selbst gestellt. 3. Dreitausend Hemden aus Baumwolle und Flanell ausgegeben und ihr Waschen organisiert. 4. Ein Wöchnerinnenheim aufgezogen. 5. Den Witwen und Frauen der Soldaten geholfen und sie versorgt. 6. Unsere geschicktesten Pflegerinnen haben täglich viele Verbände angelegt und komplizierte Brüche behandelt. 7. Wir haben den ganzen Betrieb hier in die Hand bekommen und ins Rollen gebracht, im allgemeinen in Zusammenarbeit mit den Chefärzten. 8. Wir haben Krankensäle für neunhundert Verwundete in Ordnung bringen lassen, die sonst unbewohnbar geblieben wären. [Und dies scheint mir das Wichtigste.]“

Einige Monate später berichtete sie von der ersten ihrer Ansicht nach zufriedenstellend abgewickelten Aufnahme eines Krankentransportes. Zweihundert Soldaten wurden gebadet, ihre Haare wurden geschnitten und gewaschen. Eingekleidet in saubere Lazarettanzüge wurden sie in frische Betten gelegt und mit einem gut zubereiteten, kräftigenden Essen verköstigt. Der Erfolg des Unternehmens verdankte sich weniger der Einzelbetreuung als durchgreifenden hygienischen Maßnahmen, vor allem aber Florence Nightingales Organisationstalent. Sich um Kleider, Essen, Besteck und ähnliches zu kümmern, sei freilich nicht so vergnüglich wie „herumzutändeln und ab und zu eine Fleischbrühe für die armen Helden persönlich zu kochen.“ Aber gerade solch unvergnüglichen Maßnahmen sollten viele Soldaten ihr Leben verdanken.

Wie sich herausstellen sollte, waren die enormen Verluste des britischen Heeres während des Krimkrieges nicht auf Kampfhandlungen, sondern auf schlechte Versorgung und sanitäre Missstände und dadurch bedingte Infektionserkrankungen zurückzuführen. Von 97.800 britischen Soldaten wurden 2.700 im Gefecht getötet, 1.800 erlagen später ihren Verwundungen. Dagegen starben 17.600 an Erkrankungen. Dank entsprechender Maßnahmen ließ sich die enorm hohe Sterblichkeitsquote in Skutari innerhalb weniger Wochen um fast zwei Drittel senken. Obwohl Florence Nightingale mehrfach selbst erkrankte – einmal wurde sie von den Ärzten schon aufgegeben – und sich neben der Betreuung der Kranken mit endlosem bürokratischem Kleinkram zu befassen hatte, dachte sie, selbst „bis zum Hals im Blut“ steckend, in größeren Zusammenhängen. Selbst in Skutari sammelte sie systematisch Material, das sie für ihre hygienepolitischen Argumentationen benötigte.

Nach ihrer Rückkehr aus Skutari erlitt sie einen Zusammenbruch. Sie war schwach und ausgezehrt, krank. Sie litt an Gliederzittern, beim bloßen Anblick von Speisen wurde ihr übel. Wochenlang nahm sie keine feste Nahrung zu sich und lebte praktisch nur von Tee. Sie war dem Tode nahe. Man versuchte es mit Kaltwasserumschlägen. Fortan führte Florence Nightingale das zurückgezogene Leben einer Kranken. Und doch begann sie schon bald damit, sich intensiv mit Reformen im Sanitätswesen zu beschäftigen. Die Erinnerung an die Soldaten, die aufgrund von Inkompetenz, Verantwortungslosigkeit und organisatorischen Fehlern zugrunde gegangen waren, trieb sie zu weiterem Einsatz an: „Wir können nichts mehr tun für jene, die für ihr Land gelitten haben und gestorben sind. Sie brauchen unsere Hilfe nicht mehr. Ihre Seelen sind bei Gott, der sie erschuf. Es ist an uns, danach zu trachten, dass sie nicht vergeblich gelitten haben - danach zu trachten, aus der Erfahrung zu lernen, solche Leiden in der Zukunft zu verringern durch Vorsorge und gute Einrichtungen.“

In der Folge beschäftigte sie sich mit der Reform der Lazarette, mit der Reform des Heeres-Sanitätswesens, mit Gemeindekrankenpflege, Krankenabteilungen in Armenhäusern, der Verbesserung der sanitären Bedingungen in den Lazaretten der indischen Kronkolonie, mit der Ausbildung von Krankenpflegerinnen und Hebammen, der Errichtung von Krankenhäusern und Kasernen, der Einrichtung von Militärlazaretten, mit Plänen zum Bau von Spitälern für Soldatenfrauen, Vorschlägen zur Verbesserung der Heeresrationen, mit Vollmachten und Anweisungen für Stabsärzte, Verordnungen zur Behandlung von Gelbfieber, mit dem Fouragierungs- und Verpflegungswesen in den Kolonien, mit Verpflegungsplänen für Truppentransporte oder Anweisungen zur Behandlung der Cholera. Florence Nightingale war geradezu besessen von Details. So berechnete sie etwa ausgehend von der Durchschnittsgeschwindigkeit von Schlittenhunden, wie viel Zeit nötig wäre, um in Kanada Kranke über weite Strecken transportieren zu können.

All diese Arbeiten basierten auf genauen Recherchen, zumeist statistischen Erhebungen, wobei sie nicht nur bestens darüber Bescheid wusste, was sich aus Statistiken herauslesen lässt und was nicht, sondern auch empirisch gewonnene Daten in politische Diskurse und Entscheidungsprozesse einzubringen verstand. Florence Nightingale zählt zu den ersten, die Statistiken graphisch gestalteten. Das ihr zugeschriebene Polar-Area-Diagramm weist sie nicht nur als Statistikerin aus, sondern als eine Frau, die wusste, mit welcher Darstellungsweise die größte Wirkung zu erzielen war: „Man führt keine Statistiken darüber, in welchem Alter die meisten Kranken sterben, keine Statistik über Behandlungsmethoden, über das Aussehen der Leichen usw. usw. Unsere Registratur ist so kläglich und mangelhaft, dass die einzige Eintragung häufig lautet: der Mann starb am Soundsovielten.“

Auffallenderweise wandte sich Florence Nightingale nicht gegen den Krieg; sie glaubte, dass sich bestenfalls seine Schrecken mildern ließen. Tatsächlich hielt sie sich gern in der Gesellschaft einfacher Soldaten auf. Während eines kurzen Aufenthaltes auf der Krim ließ sie es sich nicht nehmen, die Mörserbatterien vor Sewastopol zu besichtigen und auf einem Mörser Platz zu nehmen. Sie entwickelte eine auffallende Zuneigung gegenüber einfachen Soldaten. Ganz im Gegensatz zu den militärischen Eliten betrachtete sie die einfachen Soldaten als anstellige und brauchbare Menschen, freilich vorausgesetzt, deren Wesen würde durch disziplinäre Maßnahmen oder Bildungsangebote zur Geltung gebracht. Auf ihr Betreiben hin wurden in Skutari die Schnapsbuden geschlossen, wurden Betrunkene wegen „Entehrung des Regiments“ dem Kriegsgericht vorgeführt. Andererseits ließ sie Lesezimmer für Kranke einrichten, Erholungsräume mit Spielen, Zeitungen und Schreibmaterial. Sie dachte auch an Unterricht, an ein Theater.

Ihre Begeisterung für die britische Armee verdankte sich nicht zuletzt dem Umstand, dass sie Mühe mit ihrer Geschlechtsidentität hatte. Florence Nightingale wäre wohl lieber als Sohn zur Welt gekommen. In einem fiktiven Dialog mit ihrer Mutter notierte sie, dass sie nicht ihr Leben lang in ihrem Salon herumflattern wolle. Ihre Mutter solle sie doch als einen etwas unsteten Sohn betrachten. Während des Krimkrieges schrieb sie, sie habe alles durchgemacht, Krimfieber, Dysenterie und Rheumatismus, und sei deshalb bereit, den Krieg auszuhalten wie ein Soldat. Nicht zufällig lehnte Florence Nightingale die Frauenbewegung ab und sprach etwa abfällig von „Frauen-Aposteln“. Ob ihrem Geschlecht Recht oder Unrecht geschehe, das sei ihr „bis zum Stumpfsinn gleichgültig.“ Frauen hätten „nie lernen gelernt“, sie wüssten nicht einmal die Namen der Kabinettsmitglieder. Ihre Einstellung der Frauenbewegung gegenüber wurde entscheidend durch ihre Erfahrungen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester geprägt, mit denen sie sich erst spät versöhnen konnte, zu einem Zeitpunkt, als ihre Mutter bereits gebrechlich und ihre Schwester krank war: „Ich habe nie eine Frau gefunden, die ihr Leben um meinetwillen oder um meiner Ansichten willen auch nur um ein Jota geändert hätte. Schau Dir dagegen meine Erfahrungen mit Männern an! [...] Ich habe mit englischen Gräfinnen und preußischen Bäuerinnen gelebt, mit ihnen im gleichen Bett geschlafen und so engen Umgang mit ihnen gepflogen wie niemand sonst. Ich habe dreißig Jahre mit einer Schwester zusammengelebt, vier oder fünf mit einer Tante, mit einer Base zwei oder drei. Nicht eine von ihnen hat nur für eine Stunde ihre Existenz um meinetwillen geändert.“ Dass einige Frauen ihretwillen all ihre Interessen hintangestellt hatten, schien ihr nicht der Rede wert.

Obwohl Florence Nightingale als Nationalheldin aus dem Krimkrieg zurückgekehrt war, fiel es ihr schwer, als Frau ihre Anliegen öffentlich zu vertreten. Deshalb scharte sie eine Reihe von Experten und einflussreichen Persönlichkeiten um sich, die ihr gleichermaßen als Zuträger wie als „Sprachrohr“ dienten. Sie verstand es, deren Triebenergie umzuleiten, Bewunderung in fruchtbringende Arbeitsleistung zu verwandeln. Diese Männer begegneten ihr geradezu jungenhaft. Florence Nightingale, von ihrer Mission überzeugt, erwartete von ihnen denselben Einsatz. Andere hatten ihre Bedürfnisse oder ihr Privat- und Familienleben ihrer Berufung unterzuordnen. Als ihr über lange Zeit engster Mitarbeiter Sidney Herbert, der verschiedene hohe Ämter bekleidete, ernsthaft erkrankte und die Ärzte ihm absolute Ruhe verordneten, pochte sie darauf, dass er Kriegsminister bleiben müsse. Mit seiner Hilfe wollte sie ihren Einfluss behalten. Da Florence Nightingale während dieser Zeit davon überzeugt war, selbst dem Tod nahe zu sein, immer wieder gegen Erschöpfung und Zusammenbrüche ankämpfte, konnte sie Herberts Klagen nur als „Einbildungen“ abtun. Sie selbst sah sich in einem erbärmlichen Zustand und verglich sich mit jener Eule, die sie von einer Europareise aus Athen mitgebracht hatte und die später in ihrem Käfig verendete: „Ich bin sehr bekümmert gewesen, neulich meine arme Eule leblos, ohne Kopf und ohne Klauen, in dem Käfig Ihres Kanarienvogels liegen zu sehen ... und der kleine Schurke pickte an ihr herum. Das bin ich; ich liege da ohne Kopf und ohne Krallen, und ihr alle hackt auf mir herum.“ Florence Nightingale trieb Sidney Herbert selbst kurz vor seinem Tod noch an. Als er zusammenbrach und deshalb von seinen Ämtern zurücktrat, reagierte sie mit Verachtung und brach jeden Kontakt zu ihm ab. Er besuchte sie zu einer letzten Aussprache. Doch sie war unfähig zu sehen, dass sie einen Todkranken vor sich hatte. Erst lange später wurde sie sich dessen bewusst. Auch andere ihrer engsten Mitarbeiter starben. Später sollte sie schreiben, sie komme sich wie ein Vampir vor, der nicht nur Sidney Herbert das Blut ausgesaugt habe.

In vielerlei Hinsicht lesen sich die Texte der Florence Nightingale heute antiquiert. Sie dachte noch an Miasmen, krankmachende Ausdünstungen, ein Grund, warum bei ihr die Krankenzimmer so häufig gelüftet werden mussten. Bakterien und Viren waren ihr noch fremd. Louis Pasteur hatte seine ersten Gärungsversuche durchgeführt, doch der Nachweis der Übertragung des Milzbrands durch Robert Koch im Jahr 1875 stand noch aus. An „Ansteckung“ im heutigen Sinn dachte sie nicht, nur bei wenigen Erkrankungen, bei den Pocken etwa, vermutete sie ein „spezifisches Gift“, das sich von einem Körper auf andere übertrage. Andererseits sind zahllose Neuerungen mit ihrem Namen verbunden. Da damalige Krankenhäuser keine einheitlichen Klassifikationen von Krankheiten kannten, entwickelte sie „Musterblätter für Spitäler“, um die Sterberaten in den unterschiedlichen Krankenhäusern miteinander vergleichen zu können, dabei den Krankheitsverlauf in den einzelnen Altersstufen, die Häufigkeit von Erkrankungen und Verletzungen in unterschiedlichen sozialen Schichten und anderes mit bedenkend.

Die Schriften der Florence Nightingale bestechen nicht zuletzt durch viele praktische Überlegungen. Sie dachte an Warmwasserleitungen, an Hebewinden, um das Essen in die einzelnen Stockwerke zu befördern. Die Krankenglocke geht auf sie zurück. Mit dem Klingelzeichen sollte auf dem Gang eine Klappe herunterfallen, damit die Pflegerin sehen konnte, wer geschellt hatte. Sie hielt nichts von planloser Hingabe und Selbstaufopferung. Sie war davon überzeugt, dass mit der Einrichtung einer Klingelanlage mehr gewonnen sei als mit einer aufopferungsvollen Pflegerin, die endlos die Treppen auf und ab rennt, nur weil es eine solche Vorrichtung nicht gibt. Fehlten Warmwasserleitungen oder Hebewinden, so würde die Pflegerin zu einem „Paar Beine“ gemacht, also unsinnig eingesetzt. Sinnvoller erschien es ihr, für saubere Bettwäsche und gute Nahrung zu sorgen, als die Nacht am Bett eines Sterbenden zu verbringen, der stirbt, weil er schlecht gebettet und falsch ernährt wurde. Obwohl sie sich ihr ganzes Leben nie um ihren Lebensunterhalt sorgen musste, achtete sie stets – so als würde sie einen Haushalt führen – auf den effizientesten Einsatz der verfügbaren Mittel, ganz gleich, ob es sich um die anfallende Arbeit oder um Geld handelte. Sie beschäftigte sich auch mit Fragen des Einkaufs und kam zum Schluss, dass Einzeleinkäufe durch Lieferverträge mit den bestbietenden Firmen ersetzt werden müssten. Als sie für kurze Zeit das Hospital für „ehrbare Frauen“ leitete, machte sie es zur Vorschrift, dass niemand länger als zwei Monate in der Anstalt bleiben dürfe, es sei denn, er wäre sterbenskrank. Sonst, so dachte sie, fehle jeder Anreiz, um gesund zu werden.

Pflegerinnen seien nach ihrer Eignung und nicht nach ihrem Bekenntnis auszuwählen. Gegen heftigste Widerstände insistierte sie auf einer konfessionsunabhängigen Pflege: „Mein Komitee verlangte von mir, keine katholischen Patientinnen aufzunehmen, worauf ich ihnen guten Morgen wünschte, wenn ich nicht berechtigt wäre, Jüdinnen aufzunehmen mitsamt ihren Rabbinern, um sie geistlich zu betreuen. Nun ist es festgelegt - und zwar gedruckt -, dass wir Patientinnen jeder beliebigen Konfession aufnehmen und auch erlauben, dass sie von ihren jeweiligen Priestern und Muftis besucht werden. Vorausgesetzt, dass ich in jedem Fall, der nicht ,Hochkirche’ ist, das anstößige Tier an der Tür empfange, den Armen selbst nach oben geleite, dabei bleibe, wenn er sich mit seinem Patienten unterhält, mich dafür verantwortlich erkläre, dass er niemand anders anspricht oder ansieht, ihn mit gebundenen Händen wieder die Treppe hinunterbringe bis vor die Türe. Und dem habe ich zugestimmt. Und zwar Schwarz auf Weiß! Amen.“

Florence Nightingale war eine begnadete Wissenschaftlerin. In vielen Bereichen betrat sie Neuland. Da sie aber all ihre Studien als Teil ihrer Reformbemühungen sah, wurde sie durch jede Fragestellung auf tiefer liegende Probleme verwiesen. Als sie nach Möglichkeiten suchte, die widrigen Zustände in den Krankenabteilungen der Armenhäuser zu verbessern, wurde ihr nur zu schnell klar, dass es dafür zunächst einer Reform der Armenhausverwaltung bedurfte: „Solange ein Kranker, sei es nun Mann, Frau oder Kind, verwaltungsmäßig als Almosenempfänger angesehen wird, der in Schranken gehalten, und nicht als ein Mitmensch, der gesundgepflegt werden soll, so lange wird man immer diese beschämenden Erfahrungen machen.“ Sie forderte nicht nur eine zentrale Verwaltungsstelle als Voraussetzung dafür, vorhandene Einrichtungen möglichst wirtschaftlich nutzen zu können, sondern auch eine Ausgleichskasse. So lange nämlich die Gemeinden für die Unterbringung in Armenhäusern zahlen müssten, komme es für einen Armen einer schrecklichen Strafe gleich, in einer unbemittelten Gemeinde krank zu werden.

Als nachhaltigste Wirkung ist wohl die Gründung der Krankenpflegeschule im St.-Thomas-Spital in London zu sehen. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nahm man allgemein an, dass es genüge, eine Frau zu sein, um Kranke versorgen zu können. Florence Nightingales praktische Erfahrungen im Umgang mit Kranken machten ihr deutlich, dass es nicht genügt, nur zartfühlend, mitleidig, gütig und geduldig zu sein, dass Krankenpflege einer gewissen Schulung bedarf: „Kein Mann jedoch, nicht einmal ein Arzt, gibt je eine andere Definition von dem, was eine Krankenschwester sein sollte, als die folgende – ‚hingebungsvoll und gehorsam’. Diese Definition würde genauso für einen Pförtner zutreffen. Sie könnte sogar für ein Pferd gelten. Sie würde nicht für einen Polizisten zutreffen.“ Die von ihr initiierte Schule sollte Pflegerinnen hervorbringen, die befähigt sind, andere auszubilden. Da die Gründung der Schule nicht zuletzt auf heftigen Widerstand von Ärzten stieß und ein Fehlverhalten einer einzigen Pflegerin das gesamte Schulprojekt diskreditiert hätte, mussten sich die Bewerberinnen, die in diese Schule eintreten wollten, einer strengen Prüfung unterziehen. Anfangs dauerte die Ausbildung ein Jahr. Die Zöglinge lebten in einem Pflegerinnenheim. Jede Schülerin verfügte über einen eigenen Schlafraum und teilte mit den anderen einen Wohnraum. Dass Florence Nightingale an mehr als an die Vermittlung instrumentellen Wissens dachte, macht allein der Umstand deutlich, dass sie das Heim mit Büchern, Landkarten und Stichen ausstatten ließ und die Schülerinnen ermunterte, Bücher zu lesen oder Musik zu hören. Unterbringung und Verpflegung waren kostenlos; selbst Wäsche und Kleidung wurden gestellt. Jede Schülerin erhielt einen gewissen Betrag für persönliche Ausgaben während der Ausbildungszeit. Im Gegensatz zu ihren Kritikern sah Florence Nightingale in den Krankenpflegerinnen keine Dienstmädchen: „Ich will keinen religiösen Orden gründen, sondern möchte eine hochbezahlte Karriere eröffnen. Mein Prinzip ist immer gewesen, dass wir jeder Frau, von welcher Klasse oder Sekte sie auch sei, bezahlt oder unbezahlt, die bestmögliche Ausbildung geben müssen, wenn sie sittlich, geistig, körperlich die notwendigen Voraussetzungen für den Beruf einer Pflegerin hat. Fraglos werden die Gebildeten eher auf den Posten einer Oberin gelangen, aber nicht, weil sie ,Damen’ sind, sondern weil sie gebildet sind.“

Die Ausbildung bestand zum einen in praktischer Arbeit am Krankenbett, zum anderen im täglichen Besuch von Vorlesungen. Jederzeit mussten die Schülerinnen bereit sein, ihre Hefte zur Durchsicht vorzulegen und sich einer schriftlichen und mündlichen Prüfung zu unterziehen. Monatlich verfasste die Leiterin der Schule einen Bericht über jede einzelne Schülerin, ein „moralisches Protokoll“ wie ein „Fertigkeits-Protokoll“. Dieser Bericht war bis in die kleinsten Einzelheiten festgelegt. Später hatten die Schülerinnen noch ein Tagebuch zu führen, welches Florence Nightingale am Ende eines jeden Monats las. Eine allfällige Liebschaft hatte die sofortige Entlassung zur Folge. Andererseits wurden die Schülerinnen ermuntert, sich kritisch zu äußern. Da Florence Nightingale die Krankenpflege nicht als Beruf, sondern als religiös motivierte Tätigkeit betrachtete, die eine Berufung voraussetzt, wandte sie sich entschieden gegen eine unabhängige Prüfungskommission. Die Eignung einer Pflegerin lasse sich nicht wie etwa bei Ingenieuren durch ein öffentliches Examen feststellen. Was würde Florence Nightingale heute zu Plastikwörtern wie „Ausbildungsstandards“ oder „Qualitätsmanagement“, was zu einer Ausbildung sagen, die nur noch der Vermittlung instrumenteller Kenntnisse gilt, Bildung im eigentlichen Sinn aber negiert?

Die enorme Produktivität Florence Nightingales nach dem Krimkrieg erstreckt sich über einen Zeitraum von etwa sechzehn Jahren. Vom Bett aus dirigierte sie zahllose Projekte. Statt Kranke zu pflegen, war sie selbst krank, zweifellos eine schwierige Patientin. Die Masseuse, von der sie dreimal wöchentlich behandelt wurde, musste geräuschlos das Zimmer betreten und sich ebenso zurückziehen. Unter keinen Umständen durfte sie mit der Kranken sprechen. Während dieser Zeit diente ihr die Krankheit oft genug als Vorwand, Kontakte mit ihrer Familie zurückzuweisen. Kündigte sich jemand auch nur an, so reagierte sie mit einem „Anfall“.

Überzeugt, bald sterben zu müssen, legte sie alle Einzelheiten für ihre Bestattung fest und schrieb zahllose Briefe, die nach ihrem Tod verschickt werden sollten. In einem Testament aus dieser Zeit bestimmte sie, dass das Vermögen, das sie eines Tages von ihren Eltern erben würde, für den Bau einer Musterkaserne mit Tagesräumen, Schlafsälen, Waschräumen, Turnhallen und Lesezimmern verwendet werden solle. Für verheiratete Soldaten sah sie Musterwohnungen vor. Sie selbst wollte, sollte sie nicht mehr arbeiten können, den Rest ihres Lebens in einem allgemeinen Krankensaal des St.-Thomas-Spitals verbringen: „Ich werde ein ganz zahmes Biest, von einer Dame zu lenken und zu reiten, wie die Rosshändler von ihren boshaftesten Tieren sagen.“ Die damals nicht einmal fünfzigjährige Florence Nightingale sollte noch mehrere Jahrzehnte leben. Nach der Aussöhnung mit ihrer Familie verlor sie ihre Bitterkeit, die sie über so viele Jahre geprägt hatte. Ihr Gesundheitszustand besserte sich. Sie wurde umgänglicher. Ihre äußere Erscheinung änderte sich auffallend. Die ausgezehrte, magere und früh gealterte Frau wandelte sich zu einer gut genährten stattlichen alten Dame mit einem breiten, gut gelaunten Gesicht.

Mochte sie ihren früheren Eifer auch verloren haben, so galt sie nach wie vor als Expertin und wurde von vielen um Rat gefragt. Sie unterhielt sich mit ihren Besuchern, die stets nur nach Verabredung zu ihr vorgelassen wurden, von ihrem Ruhebett aus. Auffallenderweise änderte sich ihre Einstellung zum Essen. Während über lange Jahre allein der Anblick von Speisen Übelkeit zur Folge hatte, widmete sie dem Essen nun entschieden größere Aufmerksamkeit. Im März 1889 bestellte sie bei einem Metzger „ein Vorderviertel Ihres besten kleinen Hammels. Am liebsten habe ich vier Jahre alten Hammel.“ Eine Woche später bestellte sie „Hammel-Halsstück und Keule, gut abgehangen, dreizehn bis vierzehn Pfund guter Rindslende zum Versuchen.“ Da sie eine sehr wählerische Esserin war, musste ihr täglich der Speisezettel vorgelegt werden, worauf sie Vorschläge machte und die Gerichte des Vortages kritisierte: „Ein paar Austernpasteten oder ein bisschen Brühe und eine gebackene Seezunge, Soßen und Fleischsäfte dürfen nicht mit Mehl eingedickt werden. Die Fleischknochen müssen mit Gemüsen gelinde gekocht werden, um den Extrakt abzugeben, der dann eingedickt wird. Zum Würzen viel Kräuter verwenden! Feine Rüben werden angerichtet, indem man alles Wasser ausquetscht, sie durch ein Haarsieb streicht und ungefähr ein achtel Liter Sahne dazugibt. Kalbsbrust sollte mit Kräutern, Zwiebeln, Möhren und Sellerie in einer leichten Brühe auf der heißen Herdplatte elf Stunden lang gekocht werden. Nur nicht zu schnell kochen! Gebratenen Fasan darf man nicht zu nah an ein starkes Feuer hängen und muss ihn eine Stunde lang alle ein bis zwei Minuten mit guter Butter begießen. Gebratenes Hähnchen muss rundum gut eingefettet werden.“

Als besonderes Vergnügen empfand sie den Umgang mit jungen Krankenpflegerinnen. Erkrankte eine von ihnen, so ließ sie dieser von ihrer Köchin eigene Gerichte zubereiten. Verreiste eine, so schickte sie ihren Diener mit einem Frühstückskorb zum Zug. Erschöpfte Pflegerinnen ließ sie auf eigene Kosten wieder aufpäppeln. Überanstrengte Pflegerinnen lud sie zuweilen zu sich auf ein „Wochenende im Bett“ ein. Besonders mit zwei jungen Frauen verband sie ein enges freundschaftliches Verhältnis. Die eine nannte sie „die Perle“, die andere wurde von ihr „Baby-Göttin“ getauft. Sie konnte ihre jungen Freundinnen ansprechen mit: „Liebste kleine Schwester“, „Außerordentliche kleine Schurkin“, „Liebste, Allerliebste“. Nahm Florence Nightingale ihr Essen mit den beiden ein, so gab sie sich größte Mühe, ihnen das Beste vorzusetzen: „Fleischpastete oder Seezungenfilet à la Maître d’hôtel oder Huhnaspik mit Mayonnaise oder Kotelett à la Béchamelle; bestes Stück von Lammschulter, sehr zart; oder gehacktes Kalbfleisch. Oder junges Hähnchen.“ Und nahm eine das Essen nicht ein, so schickte sie es in einem Wagen mit einem Briefchen und zärtlichen Vorwürfen hinterher.

Vergleicht man das von Florence Nightingale vor ihrem Tod verfasste Testament mit jenem, welches sie Jahrzehnte zuvor geschrieben hatte, dann wird ihre Veränderung offensichtlich. Nun dachte sie nicht mehr an die Errichtung einer Musterkaserne, sondern an Menschen, die ihr nahe standen. Florence Nightingales Leben kennt zwei markante Brüche. 31jährig brach sie mit ihrer Familie: „Ich darf von ihnen kein Verständnis und keine Hilfe erwarten. Manches muss ich mir einfach nehmen, so wenig wie möglich, nur damit ich leben kann. Ich muss es mir nehmen, denn es wird mir nicht gegeben.“ Der zweite Bruch ist dort zu sehen, wo sie ihre obsessive Arbeit aufgab und ein geradezu alltägliches Leben zu führen begann. Sie fing wieder an auszugehen, besuchte Truppenparaden oder andere Veranstaltungen. Nach wie vor interessierte sie sich für vieles, aber die Welt musste sie nicht mehr retten. Sie dachte daran, ein Buch über mittelalterliche Mystiker zu schreiben. Aber schon bald brach sie diese Arbeit ab, um sie nie wieder aufzunehmen.

Im Gegensatz zu Simone Weil wollte Florence Nightingale, mochte sie auch Luxus verabscheuen, nie das Leben einer Armen führen. Stets war es ihr selbstverständlich, von Dienstboten umgeben zu sein. Im Gegensatz zu Simone Weil hatte Florence Nightingale ihr ganzes Leben nie das geringste Problem damit, dass sie von ihrer Familie ausgehalten wurde. Ihr Haushalt wie ihre zahlreichen Projekte verschlangen ein beträchtliches Vermögen. Viele ihrer Denkschriften ließ sie auf eigene Kosten drucken. Sie kleidete sich nie ärmlich, sondern achtete auf eine standesgemäße Kleidung. Empfing sie in einem schwarzen Seidenkleid auf ihrem Ruhebett liegend Besucher, so trug sie um den Kopf einen feinen weißen Schleier oder ein Stück echter Spitze. „Eine Dame darf nur echte Spitze tragen.“ Simone Weil ist es dagegen nie gelungen, aus der Berufung, aus der selbstbehaupteten Mission, „ihrem“ Programm, auszusteigen. Von Florence Nightingale hätte sie nicht nur dies lernen können. Womöglich ist der wesentlichste Unterschied darin zu sehen, dass Florence Nightingale selbst während ihrer schlimmsten Zeiten immer noch über Witz und Ironie verfügte, einen lebhaften Sinn für das Komische hatte.