Selbstmord im Raubtiergehege







In Bechsteins Märchen "Das Nusszweiglein" versucht ein reicher Kaufmann einen wilden Bären, der ihn zu fressen droht, mit Fleisch, Schinken und Würsten zu beschwichtigen. Der Bär fordert jedoch dasjenige, was ihm bei seiner Rückkehr aus seinem Hause als erstes entgegenlaufe. Der Kaufmann geht gern darauf ein, denkt er doch, es werde der Pudel (!) sein. Diesen will er, um sein Leben zu retten, gerne "opfern". Hätte der reiche Kaufmann das Alte Testament genauer gelesen, die Geschichte des Jiphtach und seiner Tochter, er hätte sich auf den Handel wohl nicht eingelassen. Jiphtach gelobt Gott, ihm das erste als Brandopfer darzubringen, was ihm bei seiner Rückkehr aus seinem Haus entgegenkomme, sollte er die Ammoniter besiegen. Als Jiphtach nach seinem Sieg heimkehrt, zieht ihm seine Tochter tanzend entgegen.

Zu Hause angekommen, wird der reiche Kaufmann nicht vom Pudel, sondern von seiner jüngsten Tochter begrüßt. Sie läuft ihrem Vater entgegen. Er versucht zwar, dem Bären die Tochter seines Hirten unterzuschieben, doch dieser lässt sich nicht täuschen. Schließlich fügt sich die Tochter willig in das Opfer. Sie erfüllt das väterliche Versprechen, nicht anders als die Tochter des Jiphtach, die in ihr Schicksal einwilligt, sich einzig zwei Monate erbittet, um mit ihren Gefährtinnen über die Berge zu ziehen und ihre Jungfernschaft zu beweinen. Nach ihrer Rückkehr vollzieht Jiphtach an ihr sein Gelübde. Er opfert seine Tochter. Die Tochter des reichen Kaufmanns krault den Bären, mag er auch drohen, sie mit Haut und Knochen zu fressen, so sanft, dass sein furchtbarer Bärenblick durch so viel Behaglichkeit freundlich wird. Die Tochter rettet den Vater, mit ihrer Hilfe wird der Tierbräutigam wieder zum Menschen.

Auch Apuleius' Geschichte von Amor und Psyche, die klassische Bearbeitung des Motivs vom Tierbräutigam, lässt an ein Opfer denken. Hier ist es nicht der Vater, der seine Tochter einem Tier verspricht. Die "unheilbringende Hochzeit" wird durch ein Orakel eingeklagt. Psyche ist die jüngste von drei Töchtern, die schönste und als einzige unvermählt. Auch ihr ist ein Untier zum Gatten bestimmt, "verrucht, grausam wie Otterngezücht". Trotz der schrecklichen Vorstellung fügt sich Psyche in ihr Schicksal. Wie zu einem Brandopfer wird sie in einer traurigfeierlichen Prozession auf den obersten Gipfel eines Berges geführt und dort allein gelassen, ausgesetzt. Dass gerade Zephyr, der Gott des Westwindes, Psyche mit sich fortträgt, erinnert an das verzehrende Feuer des Brandopfers.

Das Motiv bietet sich für eine tiefenpsychologische Deutung geradezu an, phantasiert doch ein geschlechtsreif gewordenes Mädchen das begehrte Liebesobjekt als bedrohliches Tier. Erich Ackermann: "Der primär sexuelle Aspekt des Tierbräutigammärchens liegt offen zutage. Nur die Liebe und die Hingabe der Heldin kann dem Tier seine menschliche Gestalt wiedergeben. Deshalb muss das Mädchen in der Lage sein, seine frühere infantile Liebe zum Vater auf den Partner zu übertragen; es muss die ödipale Liebe in einem Akt der Selbstverleugnung ablegen und durch die Hingabe an den Partner eine eigenständige Persönlichkeit werden. Eigentümlich ist es, dass hier nur die männlichen Aspekte der Sexualität tierisch erscheinen."

Allein die zahllosen Bearbeitungen des Märchens von Amor und Psyche machen deutlich, wie sehr die darin enthaltenen Motive verschüttet wurden und jeweils neue, der Zeit entsprechende Deutungen erfahren haben. Im siebzehnten Jahrhundert etwa wurde Psyche als menschliche Seele betrachtet, die nach zahlreichen Prüfungen die vollkommene Seligkeit erlangt. Ihre beiden boshaften Schwestern konnten das heidnische und jüdische Zeitalter verkörpern. Heute sind wir endgültig bei der Liebesgeschichte und ihrer psychologischen Deutung angelangt. Dabei wurzelt das Märchen vom Tierbräutigam in Kulturen, denen Vorstellungen wie Autonomie, Individuation etc. vollkommen fremd waren.

Ironischerweise legt gerade Apuleius, der sich mit viel Witz über die antike Götterwelt hermacht, die Geschichte von Amor und Psyche als fabula anilis, als Altweibermärchen abtut, Fährten, die andere Deutungen zulassen. In dem Augenblick, in dem Psyche Amor in seiner wahren Gestalt erkennt, "nun ist sie kein Mädchen mehr", erwacht dieser und verlässt sie. In der Folge hat Psyche vier schwere Prüfungen zu bestehen. Als Erstes muss sie bis zum Abend unterschiedlichste Sämereien, die Venus durcheinander gemischt hat, auflesen und in Haufen ordnen. Als es ihr gelingt, eine Flocke vom goldenen Fließ bösartigster Schafe zu bringen, hat sie Wasser des Styx zu holen, also von jenem Fluss, der die Welt der Lebenden von der Totenwelt des Hades trennt. Schließlich muss sie selbst in die Unterwelt, um von Proserpina eine Büchse zu erbitten, die mit göttlicher Schönheit gefüllt ist. Trotz aller Warnungen öffnet Psyche das Gefäß und fällt in einen todähnlichen Schlaf.

Der ursprüngliche Kern der Geschichte hatte mit Psychologie und Sexualität nichts, sehr viel dagegen mit Fortpflanzung, Vegetationszyklen, also mit Landwirtschaft zu tun. Während sich die beiden Schwestern in der Regel Tand wünschen, Perlenketten oder schöne Kleider, wünscht sich die jüngste Tochter ein Nusszweiglein, eine Rose, etwas Wachsendes. Allein Proserpina (Persephone, Kore) macht dies deutlich. Proserpina, die Tochter der Demeter (Ceres), Göttin der Fruchtbarkeit, des Ackerbaus, des Getreides und der Jahreszeiten, wird von Hades, der sie zur Frau nehmen will, in die Unterwelt entführt. Die um ihre Tochter trauernde Demeter verbietet daraufhin den Pflanzen zu wachsen, den Bäumen, Früchte zu tragen, den Tieren, sich zu vermehren. Um die aus den Fugen geratene Ordnung wieder herzustellen, darf Persephone zwei Drittel eines jeden Jahres mit ihrer Mutter auf der Erde verbringen, die übrige Zeit dagegen muss sie in der Unterwelt bleiben.

Während Proserpina, Kore, die Mädchenblüte, von Hades noch in die Unterwelt entführt wurde, fügen sich die jüngste Tochter wie Psyche willig, um den Lauf der Dinge, das Absterben und das Wiederaufbrechen der Vegetation, in Gang zu halten. Man erinnere sich an antike Opferpraktiken, in denen das Opfer nur dann als angenommen galt, hatte das Opfer selbst eingewilligt. Die alten Griechen, opferten sie einen Ochsen, warteten auf ein Zeichen des Tieres, das sich als Zustimmung deuten ließ. Der Ochse sollte mit dem Kopf nicken. Man goss Wasser über die Hände der Teilnehmer und bespritzte das Tier in der Hoffnung, es möge seinen Kopf senken und so zu einem willigen Opfer werden. Man durfte auch nachhelfen, indem man dem Ochsen Wasser zu trinken gab. Erst dann wurde das Tier getötet. Die Ochsen wurden mit Schleifen verziert zum Altar geführt. Übrigens schritt ein Mädchen voran. In einem Korb trug es das Opfermesser, unsichtbar freilich, war es doch bedeckt mit Gerstenkörnern und Gebäck. Hatte der Ochse seine Einwilligung bekundet, hielt das Mädchen nach einem Gebet den Korb den Anwesenden entgegen, worauf diese Gerstenkörner auf den Altar und den Ochsen warfen. Der Opferpriester nahm dann das Messer und - nein, weit gefehlt, er tötete den Ochsen nicht damit. Er schnitt nur einige Haare ab und warf sie ins Feuer. Der Ochse wurde mit einem Beil erschlagen, worauf der Opferpriester unter dem gellenden Schreien der Frauen den Hals des Tieres öffnete.

Mussten die Opfertiere makellos sein, so Psyche wie alle Mädchen, die mit einem Tierbräutigam vermählt werden, jungfräulich. In der psychologischen Deutung wird das Mädchen zur erwachsenen Frau. Dies geht mit dem Verlust der Jungfernschaft und dem Betrachten des Tierbräutigams einher, der dann in seiner wahren Gestalt erscheint. Psyche und all die anderen Mädchen des Motivs treffen keine freie Entscheidung. Fällt Psyche in der Unterwelt in einen todähnlichen Schlaf, dann muss es so sein. Alles läuft mechanisch ab. So wie der Lauf der Gestirne, der Jahreszeiten. Sie kennen weder eine Entwicklung, noch reifen sie. In zyklisch organisierten Gesellschaften kennt die Vegetation, und das bricht sich auch in den auf sie bezogenen Mythen, nur Wiederholungen. Alles in binären Konstrukten: MÄNNLICH und WEIBLICH, MENSCH und TIER, HELL und DUNKEL, TAG und NACHT, FÜLLE und MANGEL, OBEN und UNTEN.

Die Frauen des antiken Athen kannten zwei jährlich wiederkehrende Feiern, die Thesmophorien und die Adonia. Bei den Thesmophorien handelte es sich um Fruchtbarkeitsriten, die in den Spätherbst fielen, in jene Zeit also, in der die Saat ausgebracht werden sollte. Dieses Aussaatfest dauerte drei Tage. Am ersten Tag stiegen die Frauen in Höhlen hinab, welche die verfaulenden Überreste jener Ferkel enthielten, die sie während des Frühlingsfestes zur Fruchtbarmachung der Erde in diese Höhlen geworfen hatten. Unten angekommen, mischten sie Saatkörner unter das faulende Fleisch. Den folgenden Tag verbrachten sie mit Fasten, um so an Persephones Tod zu erinnern. Dieser Tag ging mit ritualisierten gegenseitigen Beschimpfungen der Frauen zu Ende. Am dritten Tag, er hieß Kalligeneia (Schöngeborene oder Schönes Hervorbringende), holten sie die mit Kornsaat angereicherten Schweinereste und mischten die stinkende Masse mit Erde. Demeter und Persephone personifizierten Tod und Wiedergeburt, das Absterben der Natur wie deren erneutes Wachstum, die Frauen vollzogen und empfanden den Mythos jährlich nach. Die Knochen der geopferten Ferkel wurden wie Reliquien aufbewahrt. Nach den Feierlichkeiten kehrten die Frauen zu ihren Männern zurück, mit sich das verfaulte Fleisch und Kornsaat tragend. Während die Thesmophorien sexuelle Enthaltsamkeit voraussetzten, dienten die Adoniafeiern, die ebenso nur Frauen vorbehalten waren und gleichermaßen den Vegetationsriten zuzuordnen sind, einer Steigerung sinnlicher Empfindungen. Lag über den Thesmophorien der Gestank faulen Fleisches, der scharfe Weidengeruch der Hütten, so über den Adonia der Duft aromatischer Gewürze, also Gerüche, die die Lust zu wecken schienen. Während der Thesmophorien waren Höhlen von Bedeutung, hier dagegen spielte sich alles nachts auf den flachen Dächern der Häuser ab. Während sich die Thesmophorien um Demeter und Persephone rankten, stand hier Adonis im Mittelpunkt, jener Gott also, der in jugendlichem Alter von einem Eber getötet und von der trauernden Aphrodite in Salatblätter gebettet wurde. Eine Woche vor dem Fest, welches im Juli zu seinen Ehren abgehalten wurde, säten die Frauen auf den Dächern ihrer Häuser Weizen, Gerste, Salat, Fenchel und verschiedene Arten von Blumen in kleine Töpfe. Sie gossen und düngten die Töpfe sorgfältig, bis sich frische grüne Schößlinge zeigten. Von diesem Augenblick an jedoch gaben sie den Pflanzen kein Wasser mehr. Begannen die Sprossen abzusterben, war es an der Zeit, mit dem Fest zu beginnen. Die verdorrten Pflanzen spiegelten den Tod des Adonis. Statt zu trauern, blieben die Frauen die ganze Nacht wach, sie tanzten, tranken und sangen zusammen. Sie warfen Myrrhe und andere Gewürze in Weihrauchbehälter. Das Fest war berüchtigt für seine derben Witze und die Lüsternheit. Der Adonismythos überlagert sich dort mit jenem der Persephone, wo Aphrodite den Knaben Adonis in einer Lade der Persephone zur Verwahrung gab. Als Persephone die Lade öffnete und den schönen Knaben sah, weigerte sie sich, Adonis der Aphrodite zurückzugeben.

Mit Hilfe einer strukturalistischen Analyse ließe sich der ursprüngliche Kern der Erzählung genauer herausarbeiten bzw. rekonstruieren, wobei ich zugeben muss, dass ich für manche Motivelemente keine plausible Erklärung habe. Streut Venus Sämereien aus, dann lässt das an das Opfer denken. Wie oben erwähnt, wurden Opfertiere mit Sämereien bestreut. Es lässt auch an praktisches Säen denken. Aber warum muss Psyche die ausgestreuten Samen wieder sortieren, das Opfer oder die Aussaat rückgängig machen? Dieses Motiv findet sich in zahllosen Märchen, in denen das Wiedereinsammeln und Sortieren zumeist auch mit Hilfe von Ameisen geschieht. Göttinnen bringen weder Opfer dar, noch betreiben sie Feldwirtschaft. Trotzdem bleibt es mir wie anderes vorerst rätselhaft.

Eine der Verästelungen des Motivs vom Tierbräutigam findet sich in Legenden christlicher Märtyrerinnen, die Löwen oder anderen Raubtieren vorgeworfen, letztlich geopfert werden. Auch in der christlichen Umdeutung des Opfers fügt sich die Jungfrau geduldig, wenn nicht freudig in ihr Schicksal. Was aber, kommt es zu keiner Vermählung, verhält sich das Raubtier gegen alle Erwartungen, streift es seine Tierhaut nicht ab?

Salzsäure trinken, sich vor eine Straßenbahn werfen, sich Erhängen, ins Wasser gehen, das waren um 1900 die üblichen Formen, mit denen sich Frauen das Leben nahmen. Will man der damaligen Sensationspresse glauben, dann sollen manche den Tod in Raubtiergehegen gesucht haben. Das französische Boulevardblatt "Le Petit Journal", welches von Kriminalgeschichten, Unfällen, Tragödien, Sensationen und Skandalen aller Art lebte, gab ab 1890 eine wöchentliche Beilage mit farbigen Titelblättern heraus. Schaut man sich die 1234 farbigen Titelabbildungen zwischen 1890 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges an, dann fallen einem die vielen Tiertragödien auf. Um Mitgefühl mit Tieren ging es dabei allerdings nicht. Zumeist sind Tiere Ursache eines Unglücks. Menschen werden von Ochsen- oder Pferdefuhrwerken überrollt. Auf einer der Abbildungen ist die Kollision eines Zuges mit einem indischen Elefanten zu sehen, was die Entgleisung des Zuges zur Folge hat. Immer wieder tauchen gefährliche Tiere auf: Eine Boa erdrosselt einen Wärter. Ein Adler trägt in alpiner Landschaft, es sind einfache bäuerliche Gebäude zu sehen, zum Schrecken der Mutter, ein Kind mit sich fort. Ein Tiger tötet einen Leutnant der Infanterie. Ein auf einem Jahrmarkt entkommener Bär schlägt ein Pferd und fällt einen Passanten an. Polizisten versuchen das Tier durch einen Schuss zu töten. Ein Rudel Wölfe zerfleischt die Beine eines Mannes, der sich an einem Baum erhängt hat. Nur in Ausnahmefällen sind Tiere wohlwollend dargestellt. Das gilt etwa, rettet ein Hund ein Kind vor dem sicheren Ertrinken. Auf zwei Abbildungen begeben sich Lebensmüde in Raubtierkäfige. Eine Frau wird von einem Eisbären, ein Mann von einem Löwen zerfleischt.

Wir haben es also mit kulturhistorischen Motiven in praktischer Anwendung zu tun. Aber wie stellte sich die junge Frau die Begegnung mit dem Eisbären vor? Warum ausgerechnet das Eisbärengehege? Warum entschied sie sich nicht für die Löwen? Oder das Terrarium mit der Boa constriktor? Kannte sie das Märchen vom Eisbären, der die jüngste Tochter eines Bauern zur Frau begehrt? Als ich die Abbildungen im "Le Petit Journal" sah, dachte ich an Märchen, in denen die Vermählung mit einem Tierbräutigam großes Glück zur Folge hat, auch an Märtyrerinnen wie die Heilige Blanca, die in der Zeit des Marc Aurel Löwen vorgeworfen, von diesen aber verschmäht wird. Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert waren solche Bilder allgegenwärtig. Gut denkbar, dass damit verbundene Phantasien zu dieser Art des Selbstmordes beigetragen haben. Bedauerlicherweise wissen wir nicht, was im Kopf der jungen Frau vor sich ging.

Zu meinem großen Erstaunen finden sich Beispiele eines solchen Selbstmordes bis in die jüngste Vergangenheit: "Im Kopenhagener Zoo klettert ein 20-Jähriger in das Tigergehege. Die Tiere töten den Eindringling. Die Polizei vermutet, dass es sich um einen Suizid handelt. Wenn es Selbstmord war, wie die Polizei vermutet, dann war es ein dramatischer Abschied vom Leben. Wenn es Übermut war, dann war es ein Unfug mit katastrophalen Folgen. Die Tiger im Zoo von Kopenhagen töteten in der Nacht zum Mittwoch einen jungen Mann, der in ihr Gehege eingedrungen war. Die Tierwächter entdeckten den 20-Jährigen um halb acht Uhr morgens, ein paar Stunden bevor der Zoo für Besucher geöffnet wird. Nachdem sie die Raubtiere weggesperrt hatten, konnten sie zu dem Mann vordringen, doch da kam bereits jede Hilfe zu spät."

Bernhard Kathan 2014


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