Jon Törklánsson
Im Herbst 2003 führte der Literaturwissenschaftler Martin Sexl mit dem
isländischen Künstler Jon Törklánsson in dessen Atelier in München folgendes
Interview, das in überarbeiteter Fassung vom Künstler autorisiert wurde.
Martin Sexl: Ist Ihr Name ein Pseudonym?
Jon Törklánsson: Ja, natürlich. Aber nur in einer - sagen wir mal -
'herkömmlichen' Ordnung. Im Sinne des französischen Philosophen Jacques
Derridas ist es ein "Eigenname", der ebenso willkürlich ist wie jeder andere
Begriff. Denken Sie an ein beliebiges Beispiel: Das Wort "Baum" hat in
seiner Gestalt mit einem realen Baum keinerlei Ähnlichkeit. Und
"Törklánsson" hat mit mir auch keine Ähnlichkeit
(lacht). Aber klarerweise
haben sich Begriffe und Worte im Laufe ihrer Entwicklung und ihrer
Verwendung Bedeutungsfelder zugelegt. Bei "Baum" assozieren wir im
Normalfall einige Dinge wie etwa "Natur" oder "Ökologie" oder "Leben". Und
ein isländischer Name, wie der meine, ruft andere Assoziationen wach wie in
italienischer. Bei Island denken Menschen vielleicht an wilde und kalte
Landschaften, an eine urwüchsige Kraft, die wie ein Geysir aus dem Boden
schießt. Ich hätte mich ja auch "Simone Francesco" oder so ähnlich nennen
können, dann dächten die Leute vielleicht an Chianti und die Uffizien in
Florenz.
M.S.: Aber Sie sind ja auch in Wirklichkeit ein Isländer!
J.T.:
(lacht) Ja, das stimmt. Das ist ein Glück, eine seltsame Koinzidenz
irgendwie. Vielleicht ist ja "Jon Törklánsson" auch mein Taufname
(lacht).
Aber im Ernst: Was heißt schon "in Wirklichkeit". Welche Wirklichkeit soll
ein Name denn schon haben? Er ist eine Möglichkeit der Identifikation an
Flughäfen, aber es wäre meines Erachtens sehr vermessen oder geradezu
zynisch, da von Wirklichkeit oder einer Identität zu sprechen, von etwas
genuin Isländischem zum Beispiel. Und zudem: Ich bin in Island geboren und
dort aufgewachsen, aber mehr als die Hälfte meines Lebens habe ich nicht in
Island verbracht. Bin ich jetzt noch Isländer? Bin ich immer noch, immer
schon Isländer?
M.S.: Aber immerhin haben Sie doch einen Taufnamen und sind eine ganz reale
Person.
J.T.:
(lacht) Sind Sie sich da 'wirklich' sicher? Und wenn Sie sich sicher
sind, wer außer uns beiden weiß im Moment, daß es mich und Sie gibt? Aber
machen wir es uns nicht zu schwer: Gut, ich bin eine reale Person, aber in
diesem Interview geht es ja nicht um eine reale Person - ich glaube nicht,
daß Sie mich ausziehen und wie ein Arzt abhören wollen, ob ich nicht etwa
eine Lungenentzündung habe
(lacht) -, sondern es geht um meine Bilder und um
mich als Künstler, um dieses hochbelastete und hochproblematische Wort in
den Mund zu nehmen.
M.S.: Sind die nicht ein und dieselbe Person?
J.T.: Nein. Die reale Person ist zwar auch eine Konstruktion im Sinne Michel
Foucaults - schon wieder ein französischer Philosoph
(lacht) -, aber doch
etwas anderes als jene Illusion des Urhebers, des Schöpfers, die Roland
Barthes vor gut 50 Jahren bereits als einen Mythos entlarvte, als eine
Erfindung, die irgend jemand für bestimmte Zwecke benötigt. Eigennamen und
sogenannte "Künstlerpersönlichkeiten" sind Etikettierungen, mit denen nicht
(nur) bestimmte Dinge (etwa Turnschuhe oder ein Gemälde) verkauft werden,
sondern Bedeutungsüberschüsse, images. Wenn Sie sich einen Turnschuh von
Adidas - sind die noch in überhaupt
(lacht) - kaufen, dann suchen Sie nicht
nur einen praktischen Schuh, sondern mehr. Und dafür zahlen Sie ja auch
mehr. Und ein Manager, der sein Büro mit moderner Kunst schmückt, sucht ja
etwas anderes als Kunstwerke im Sinne der Romantik oder des gesamten 19.
Jahrhunderts. Eigennamen sind Marken, und "Törklánsson" hat Konnotationen,
die sich besser vermarkten lassen als jene, die bei … bei - sagen wir mal -
"Manfred Lechner" auftauchen.
M.S.: Ist Ihre Biographie dann auch eine Erfindung, etwas, das Sie sich erst
später angeeignet haben zu Werbezwecken?
J.T.: Diese Frage ist schon weit komplexer, denn natürlich gibt es da einen
Körper, jener, der gerade vor Ihnen sitzt, der an einem bestimmten Ort in
einer bestimmten Kultur zur Welt gekommen ist, der bestimmten Prägungen
durch Erziehung und Klima ausgesetzt war, der Muttermilch oder Fertignahrung
oder beides bekam etc. Das alles ist keine Frage der Wahl, weil es schon
passiert ist; und ich bezweifle sogar, daß wir eine Wahl bezüglich unserer
Zukunft haben. Diese Seite des Physischen, des Realen, wenn Sie so wollen,
ist eine Seite. Ein anderes Problem ist die Frage der biographischen
Erzählung. Und um die geht es ja, sobald wir gesellschaftliche Wesen werden
und zu kommunizieren beginnen. Der andere nimmt ja nicht die physische Seite
wahr, sondern in erster Linie das, was ihm gezeigt wird: Gesten, Kleidung,
Worte, Verhalten, Wohnungen, Bücher etc. Erzählungen sind mit Wertungen
verknüpft, und vor allem in der Kunst spielt die Bewertung der
biographischen Erzählung - der hat ein spannendes Leben, der hat ein
langweiliges Leben - eine enorme Rolle, weil nirgendwo sonst der Impetus so
groß ist, das Werk auf einen Urheber zurückzuführen. In der Wissenschaft ist
das lange nicht so eng miteinander verknüpft. Für den Stellenwert eines
philosophischen Buches ist es nicht so entscheidend - wobei auch das nicht
sicher ist -, ob der Autor am Morgen Toastbrot mit einer Tasse Milchkaffee
zu sich nimmt oder einen doppelten Whiskey. Wobei das Entscheidende ja nicht
einmal das ist, ob der Autor Kaffee oder Whiskey zum Frühstück trinkt.
Vielmehr geht es um das, was er den anderen erzählt, was er ihnen
präsentiert, was er selbst also repräsentiert.
Es mag sein, daß es hinter der Erzählung, hinter dem Diskurs eine
Wahrheit gibt, aber da die uns nicht zugänglich ist, spielt sie keinerlei
Rolle in der Kommunikation. Es geht ja nur um das, welche Rolle Sie sehen.
M.S.: Was meinen Sie mit "Diskurs"?
J.T.: Ich meine das ganz im Sinne Michel Foucaults. Diskurs ist eine Art
Instrument, die in erster Linie Bedeutungen, in zweiter Linie über diese
Bedeutungen Realitäten schafft. Sprache - und natürlich auch die Sprache der
Bilder - ist niemals Abbild dessen, was vor ihr existieren würde, nein.
Sprache und Diskurse ganz allgemein (Diskurs umfaßt mehr als nur sprachliche
Systeme) stellen das her, was sie vorgeben abzubilden. Wenn ein Autor einen
literarischen Text verfaßt, dann geht es nicht um die empirische Person, die
am Schreibtisch sitzt und mühsam Buchstaben zu Papier bringt, sondern um die
Person des Autors, die sich auch kommunizieren läßt. Zu dieser Erfindung
zählt beispielsweise die Tatsache, daß wir die Vorstellung attraktiv finden,
dieser Mensch würde einsam in seiner Dachkammer sitzen und über Monate und
Monate einen Roman verfassen. Das nannte Roland Barthes den Mythos des
Autors. Noch einmal: Natürlich gibt es empirische Personen, die schreiben,
aber entscheidend sind die Autoren, die wir präsentiert bekommen, von wem
auch immer: der öffentlichen Meinung, von Reich-Ranicki, von Martin Walser,
von Verlagen, von der Bild-Zeitung etc. Barthes war noch von aufklärerischem
Geist getragen und forderte die Demaskierung dieser Mythen. Heute sind wir
im Normalfall etwas zynischer geworden und finden das meist auch noch in
Ordnung. Das heißt, heute akzeptieren Menschen genußvoll den Mythos, wenn
sie Adidas-Tunrschuhe tragen und sich gar einen Baselitz leisten können fürs
Büro, was ja rein ökonomisch gesehen sinnlos ist.
M.S.: Gehen wir zu Ihren Bildern. Die wirken auf den ersten Blick -
verzeihen Sie die laienhafte Ausdrucksweise - merkwürdig 'zugekleistert'.
Als ob Sie etwas verdecken wollen.
J.T.: Genau. Ich möchte damit den Beobachter auf das lenken, das sich wie
eine unendlich dünne Schicht zwischen der weißen Leinwand und der Farbe
befindet. Das verbirgt sich nicht dort, sondern das muß erst verborgen
werden
(lacht) - das könnte von Heidegger sein
(lacht). Im Ernst: Wenn man
Foucault ernst nimmt, dann ist Kunst ja nicht Mimesis, sondern Konstruktion.
Sie malen also nicht etwas, das verborgen ist, sondern verbergen etwas durch
den Akt des Malens. Dieses Etwas möchte ich mit Jacques Lacan das "Reale"
nennen. Sie können es auch "Erfahrung" nennen oder "Ereignis" oder - wenn
Sie unbedingt wollen - das "Erhabene". Das bedeutet: Ich habe es erlebt,
kann es aber nicht in ein Zeichen verwandeln. Darum habe ich es mit Materie
(mit Ölfarbe) zugedeckt, damit es zum Zeichen wird. Kunst ist ja immer ein
Zeichen. Ich hätte auch Butter nehmen können, wie Beuys, aber ich mag das
Zeug nicht besonders
(lacht). Lesen Sie also meine Bilder!
M.S.: Ist das nicht Willkür? Sie hintergehen mit Ihrem Bezug auf eine
persönliche Erfahrung, auf ein nicht mitteilbares Erlebnis jede
Interpretationsmöglichkeit.
J.T.: Da haben Sie mich falsch verstanden. Ich spreche von den persönlichen
Erfahrungen der Betrachter, nicht von meinen. Wenn ich vom Erleben des
Künstlers sprechen würde, dann wäre das in einer gewissen Art und Weise
Betrug, denn damit kann ich alles erklären und alles entschuldigen. Ich
spreche aber von den Erfahrungen jener, die meine Bilder ansehen und sie
betrachten, studieren. Von diesen Erfahrungen kann ich nichts wissen. Und
selbst wenn ich von Ihnen wüßte, könnte ich Sie nicht malen, weil sie -
sonst wäre es nicht real, wäre es nicht Erfahrung, Ereignis und Erhabenes -,
weil sie nicht Zeichen werden können. Ich verberge sie also hinter Farbe.
M.S.: Das heißt, der Titel Ihrer Arbeit - "The Sublime Is There (Hidden)" -
spielt also auf dieses verborgene Erhabene an.
J.T.: Genau! Das ist natürlich auch eine Anspielung auf Barnett Newman, der
mit seinem "The Sublime Is Now" auf die Tatsache anspielte, daß man die
unmittelbare Gegenwart des Rezeptionserlebnisses niemals festhalten kann:
Sobald man Aussagen darüber macht, ist der Akt der Wahrnehmung schon vorbei,
schon Vergangenheit. Newman ließ seine übergroßen Bilder in engen Gängen
aufhängen, sodaß der Betrachter niemals in die Lage kommen konnte, das Bild
als Ganzes wahrzunehmen. Er mußte daran vorbeigehen, wodurch Newman die
Dimension der Zeit in die Wahrnehmung einführte. Bei meinen Bildern hingegen
führe ich den Begriff des Erhabenen wieder in seine räumliche Dimension
zurück, wobei ich so wie Newman davon ausgehe, daß dieser Moment nicht
faßbar ist. Und so wie Newman gehe ich ebenfalls davon aus, daß das Erhabene
keine Dimension des Objektes ist, sondern eine der Wahrnehmung. Es geht also
um die Erfahrungen der Betrachter, nicht um das Bild oder um die Person des
Künstlers.
M.S.: Ihre Erfahrung spielt also keine Rolle?
J.T.: Natürlich spielt sie eine Rolle, aber sie spielt auch keine Rolle.
Wenn Sie für Ihr Interview aber unbedingt jemanden benötigen, der
Erfahrungen macht, dann kann ich Ihnen das gerne liefern.
M.S.: Was meinen Sie damit?
J.T.: Möchten Sie nicht eine handfeste Biographie des Künstlers? Des
Menschen, der vor Ihnen sitzt und Erfahrungen gemacht und hat und macht?
M.S.: Gut, erzählen Sie!
J.T.:
(lacht) Und was soll ich Ihnen erzählen?
M.S.: Nun, von Ihren Erfahrungen, Ihrer Biographie, Ihrem Leben, Ihrem Weg
zur Kunst usw.
J.T.:
(lacht) Vom echten oder vom fingierten Leben
(lacht). Nun gut: Wie Sie
ja jetzt schon wissen, wurde ich in Island geboren, und zwar 1962 in der
Nähe von Reykjavik. Meine Eltern betrieben einen kleinen Verlag, mit dem Sie
in den 60er und 70er Jahren zeitgenössische Kunst - kein Witz, das stimmt
wirklich
(lacht) - einem isländischen Publikum zugänglich machen wollten,
Fotobände von Warhol oder Beuys. Das war natürlich ein Reinfall, finanziell
gesehen. Zum Glück hatte meine Mutter große Flächen von Agrarland geerbt,
und der Pachtzins ermöglichte uns ein bescheidenes Leben. Ach! Das ist ja
alles schrecklich, was ich hier erzähle.
M.S.. Nein, nein.
J.T.. Ich kürze das ab. Gut, Schule in Reykjavik, 1981 ging ich nach
Dänemark, dann nach Hamburg und so weiter und so fort. Zur See bin ich
gefahren, in Fischfabriken gearbeitet, als Straßenmaler. Wie Sie sehen, eine
hundsnormale Künstlerbiographie
(lacht).
M.S.: Können die Leser dieses Interviews dem trauen?
J.T.:
(lacht) Spielt das eine Rolle? Wollen Sie einen Beweis für diese
Biographie? Oder gar einen Beweis, daß ich existiere? Man könnte als Leser
ein Online-Formular ausfüllen und bekommt dann ein Haar des Künstlers für
eine DNA-Probe
(lacht). Glauben Sie mir: Ob Leser an die Existenz eines
Schöpfers, eines Urhebers, eines Autors glauben, ist völlig unabhängig
davon, ob und in welcher Form Existenzbeweise vorliegen. Vielleicht glauben
Sie selbst ja in dem Moment nicht daran, daß ich es war, der diese Bilder
gemalt hat. Der Autor ist ein Mythos. Die meisten werden diesen Mythos nicht
als solchen erkennen, die verbleibenden werden ihn genußvoll zelebrieren.
Die meisten werden also an die Erfahrung, an das Erlebnis und all das
glauben, werden meinen, das Erhabene existiere an sich. Und die, die den
Mythos durchschauen, wären doch pervers, wenn sie eine reale Person suchten.
Der Mythos besteht ja gerade in der Erfindung von Personen: "Was wollte der
Künstler zum Ausdruck bringen? Was wollte uns der Künstler sagen?" etc. "Wie
sieht es aus im Kopf des Künstlers? Hat er gut geschlafen? Ist er ein
Psychopath?" und so weiter und so fort.
M.S.: Aber Sie selbst haben gerade eben von Erfahrung und vom Erhabenen
gesprochen, das Sie zwischen Farbe und Leinwand verbergen wollen.
J.T.: Ich habe ja nicht behauptet, daß diese Dinge nicht existieren. Ich
behaupte aber, daß sie nicht vor dem Diskurs des Malens existieren, sondern
daß sie durch ihn hergestellt werden. So wie der Preis eines Van Gogh etwas
völlig Absurdes, Artifizielles und Erfundenes hat, gleichwohl aber eine
Menge Realität hervorruft. "Money makes the world go around …"
M.S.: Gut. Dann halten wir uns an das, was wir sehen, wenn Sie selbst eine
Erfindung sind. An Ihre Bilder. Zweifellos haben wir es hier mit handfesten
Gegenständen zu tun (greift ein Bild an), die man begreifen und bereden kann.
J.T.:
(lacht) Gut, wenn Sie darin einen Ausweg sehen wollen!
M.S.: Sie haben vorhin vom Lacanschen Realen, von der Erfahrung, vom
Ereignis gesprochen, und daß es sich verbirgt. Das, was Sie gesagt haben:
Gilt das nicht für vieles andere auch, was wir in Museen und Ausstellungen
finden?
J.T.: Das mag sein. Aber da fast die gesamte Kunst des 20. Jahrhunderts ohne
Text nicht verständlich ist, muß man Texte dazu produzieren. Ich erzähle
Ihnen also eine Geschichte zu meinen Bildern.
M.S.: Ja schon! Aber ist das nicht willkürlich, wenn Sie dieselbe Geschichte
auch über ganz andere Bilder erzählen könnten?
J.T.: Wenn Sie davon ausgehen, daß Texte die noch verborgene Bedeutung eines
Bildes erläutern, dann vielleicht. Wenn Sie aber davon ausgehen, wie ich es
tue, daß Texte nichts erklären, sondern Bedeutungen herstellen, dann schaut
das Ganze anders aus.
M.S.: Und wenn die Rezipienten Ihnen Ihre Geschichte nicht glauben?
J.T.: Das ist ihr gutes Recht. Aber warum sehen Sie das Ganze nicht ein
wenig positiver und weniger skeptisch? Rezipienten können meine Geschichten
ja als Interpretationsrahmen nutzen, als ein Angebot, das ihnen das
Rätselraten erspart. So gesehen sind Geschichten nicht mehr etwas
Willkürliches, dem man mißtrauen sollte, sondern ein Angebot, das man
dankbar annehmen könnte.
Auf jeden Fall ist die Geschichte, die ich Ihnen erzähle, einfach da. Ich
habe eine Wahl getroffen, welche die Betrachter und Leser akzeptieren können
oder nicht, aber sie können sie nicht rückgängig machen. Ich habe schon
erzählt.
M.S.: Aber diese "Geschichte", wie Sie sagen, die haben Sie noch gar nicht
erzählt!
J.T.: Doch!
M.S.. Sie haben bislang aber nur gesagt, daß Sie den Blick auf die unendlich
dünne Schicht zwischen Farbe und Leinwand lenken wollen, wo Sie etwas zu
finden glauben, über das Sie nicht sprechen können.
J.T.: Eben! Das war die Geschichte.
M.S.: Das ist aber nicht sehr viel.
J.T.: Mein Gott! Ich bin auch Maler, nicht Philosoph. Vielleicht sollten
jene, die meine Bilder betrachten, auch Texte von Foucault und Derrida lesen!
M.S.: Sie haben vorhin den absurden Preis erwähnt, den man für ein Gemälde
von Van Gogh bezahlen müßte. Was bedeuten die Preise für Ihre Kunstwerke?
40.000 Euro erscheint nun doch etwas übertrieben.
J.T.: Preise bedeuten nichts, sie sind ein Spielzeug, eine Konvention. Im
Grunde ist es völlig egal - ich muß ja von meiner Kunst nicht leben -, ob
ein Bild 400 Euro kostet oder 40.000. Gerade weil es keine Rolle spielt,
kostet eines eben 40.000. Darum habe ich kein einziges bislang verkauft
(lacht).
M.S. Von was leben Sie dann?
J.T.:
(lacht) Das gehört in den Bereich des Lacanschen "Realen", wo es gut
verborgen bleibt.
M.S.: Das, was Sie bislang gesagt haben, legt die Auffassung nahe, daß man
keine gültigen Aussagen über Kunst machen kann.
J.T.: Das ist ja ein Gemeinplatz geworden. Aber auch hier sollte man nicht
fragen, ob das 'in Wirklichkeit' stimmt oder nicht, sondern die Tatsache
anerkennen, daß es alle glauben aus irgendeinem Grund. Aber natürlich kann
man ebensogut allgemein gültige Aussagen über Kunst machen. Nur ist dies
beim augenblicklichen Stand der Spielregeln des Kunstdiskurses kein
erlaubter Spielzug, zumindest kein gern gesehener. Es ist vielleicht nicht
verboten, aber doch irritierend, als ob jemand beim Tennis dauernd den Ball
hoch in die Luft schießen würde.
Was wir hier gerade tun ist die Produktion gültiger Aussagen. Aber
natürlich bilden wir damit keine Wirklichkeit ab - wir sprechen also nicht
über meine Bilder -, sondern stellen sie vielmehr her, wir konstruieren
gerade die Bilder. Ich spreche natürlich nicht von der Materie, orange
Ölfarbe auf einer Leinwand. Aber wer für einen Van Gogh mehrere Millionen
Euro bezahlt, denkt auch nicht an Ölfarbe. Wir haben es also nicht mit Kunst
zu tun, die wir nachträglich beschreiben, sondern wir entwickeln gerade
einen kleinen Diskurs über bestimmte Gegenstände, Bilder, haben es also mit
Aussagen zu tun, welche jene Bedeutung herstellen, die die Bilder danach
haben werden. So arbeitet jede Galerie, jedes Museum, jede Kunstkritik und
sogar jede wissenschaftliche Beschäftigung mit Kunst auch. Aber das weiß ja
schon jedes Kind: Die Skulptur von Herrn X steht nicht deshalb im Museum,
weil sie so gelungen ist, sondern gilt deshalb als gelungen, weil sie im
Museum steht. (Und warum sie im Museum steht, hat mit einer 'ästhetischen
Qualität' - was immer das auch ist - sehr wenig zu tun.) Das mag für Kunst
früherer Epochen anders gewesen sein, aber für den allergrößten Teil dessen,
was im 20. Jahrhundert gemalt und hergestellt wurde, ist es der Akt der
Präsentation und Beschreibung, der den Wert produziert. Genau das nennt
Roland Barthes "Mythos". Und das tun wir gerade hier, Sie und ich. Das ist
weniger willkürlich als es aussehen mag, denn jeder Diskurs ist in einem
bestimmten System verortet, das Individuen nicht beliebig variieren können.
Aber es ist artifiziell in jeder Hinsicht.
In diesem Sinne sind wir auch mehr Leser und Beobachter, wir beide
in diesem Moment. Denn nur der Wahrnehmende kann Kunst produzieren, weil er
einen Diskurs über bestimmte materielle Dinge legt. Der Maler macht gar
nichts - außer er redet selbst über seine Bilder, wie ich es gerade tue
(lacht). Der Maler spielt wenig Rolle, er trägt Farbe auf, und zwar recht
willkürlich.
M.S.: Das, was der Künstler tut, ist also völlig willkürlich?
J.T.: Genau! Seit den Ready Mades von Duchamp ist es das. Bis zur Kunst des
20. Jahrhunderts ist das vielleicht anders, aber darüber sprechen wir ja
nicht.
M.S.: Aber es gibt doch eindeutige Dinge an diesen Bildern hier vor uns, die
sich von anderen Bildern unterscheiden lassen, die evident sind, also
Eigenschaften des Phänomens sind und nicht der Wahrnehmung.
J.T.: Ja, natürlich. Auch das Pissoir von Duchamp hatte bestimmte definierte
Eigenschaften, die man beschreiben kann. Und doch ist es durch die Tatsache,
in einer Kunst-Ausstellung aufzutauchen, zu einem ganz anderen Ding
geworden, auch wenn es dieselben Eigenschaften aufweist als jenes in der
Bahnhofstoilette. Wenn wir von Eigenschaften sprechen, müssen wir uns also
vorher darüber einig werden, von welchen Eigenschaften wir sprechen. Sehen
Sie sich meine Bilder an. Was sehen Sie?
M.S.: Äh … Farbflecke?
J.T.: Ja und nein. Auf einer ersten Ebene sehen Sie Farbflecke, Materie. Und
die müssen Sie interpretieren. (Etwas Ähnliches tun Sie im übrigen auch bei
Objekten der Natur, die Sie ja für etwas benötigen oder auch schön finden.)
Das heißt nicht, daß die Eigenschaften der Materie immer uninteressant sind.
Für den Hersteller von Ölfarben sind das ganz wichtige Eigenschaften. Aber
Künstler und Vernissagenbesucher bewegen sich in einem anderen Diskurs. In
diesem Diskurs, der mit Interpretationen arbeitet, gibt es nun plausible und
weniger plausbile Erklärungen und Beschreibungen von Bildern. Über die
Plausibilität von Interpretationen entscheidet aber nun nicht das Bild,
sondern der herrschende Diskurs. Im herrschenden Diskurs über Kunst wird den
Aussagen und der Biographie des Autors, seinem Eigennamen, würde Jacques
Derrida sagen, eine gewisse Interpretationsmacht zugestanden (im Mittelalter
war das anders). Und die nutze ich, indem ich einen Diskurs über das
Lacansche Reale oder den Begriff der Erfahrung anzettle.
M.S.: Heißt das dann, daß dieser Diskurs sich im Feld des Unwahren bewegt,
daß man auch völlig andere Sachen über diese Bilder sagen könnte?
J.T.: Die zweite Aussage ist richtig: Man könnte auch andere Aussagen über
die Bilder entwickeln. Die erste Aussage ist falsch: Erstens kann ich Ihnen
nicht völlig beliebige Sachen erzählen, zweitens stellen die Aussagen ja
Realitäten erst her. Das ist, wie wenn Sie einen Schriftsteller fragen
würden, ob er denn nicht einen ganz anderen Roman hätte schreiben können.
Natürlich hätte er dies tun können (innerhalb gewisser Grenzen), aber das
macht die Tatsache klarerweise nicht hinfällig, daß er diesen einen gerade
geschrieben hat. Der geschriebene Roman ist also keineswegs "unwahr", um
Ihren Begriff zu verwenden. Der existiert, zweifellos. Und natürlich ist er
auch 'richtig'.