Der verhäuslichte Wahn
Mit Schreber Kickl, Strache und Vilimsky lesen





Der oben gewählte Ausdruck ”eingepfropft”, auf den ich erst im Fortgang meiner Arbeit gekommen bin, scheint mir das Verhältnis noch besser auszudrücken als die früher gebrauchten Ausdrücke ”auswendig gelernt” und ”eingebleut”. Bei den letzteren Ausdrücken könnte man noch immer an ein Insbewußtseinaufnehmen des Sinnes der Worte denken; davon ist aber bei den gewunderten Vögeln eben nicht die Rede. Ihre Sprache steht rücksichtlich der eingepfropften Redensarten nicht einmal auf der Höhe der Sprache eines sprechenden Papageis. Denn dieser wiederholt die einmal gelernten Worte kraft eigenen Antriebs, also einer Art freier Willensbestimmung. Die gewunderten Vögel aber müssen die eingepfropften Redensarten ableiern, ohne jede Rücksicht auf Zeit und Gelegenheit und gleichviel, ob sie wollen oder nicht.
Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken

Zum Schreiben und Zeichnen verwende ich schwarze Stifte der Marke PILOT, Stärke 0.4. In all den Jahren habe ich hunderte solcher Stifte verbraucht. Immer wieder beginnen die Stifte nach kürzester Zeit zu schmieren, wodurch sie unbrauchbar werden. Anfangs dachte ich, das japanische Unternehmen habe die Produktion nach China ausgelagert, weshalb ich es mit einem schlechteren Fabrikat zu tun hätte. Dem ist aber nicht so. Ich dachte an die unmöglichsten Geschichten, selbst an Mondphasen und ähnliches. Am plausibelsten schien mir ein Zusammenhang mit der Raumtemperatur. Das ließ sich aber bald ausschließen, machte es doch keinen nennenswerten Unterschied, ob ich die Stifte im Kühlschrank aufbewahrte, also darauf achtete, sie in gekühltem Zustand zu verwenden, oder nicht. Auch musste ich feststellen, dass das leidige Schmieren während des Sommers in einem Raum, in dem die Temperatur oftmals dreißig Grad Celsius beträgt, in dem es also viel wärmer sein kann als in meiner Wohnung, nicht auftrat, auch nie in Lokalen, in denen ich abends sitze und schreibe. Zweifellos gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Schmieren und meinem Arbeitsplatz in meiner Wohnung. Die Lösung ist denkbar einfach, auch wenn ich das Phänomen nicht wirklich erklären kann. Das Schmieren ist stets nur dann zu beobachten, wenn der unter meinem Arbeitstisch stehende Computer eingeschaltet ist. Fahre ich mit dem Computer nicht hoch, dann habe ich auch in meiner Wohnung kein Problem, selbst dann nicht wirklich, wenn der Computer eingeschaltet ist, die Stifte aber in einem anderen Raum liegen, sofern ich sie nach etwa einer Viertelstunde auswechsle, wozu ich ständig hin- und herlaufen muss. Womöglich liegt es an einer bestimmten Frequenz, die ähnlich einer Zentrifuge die Pigmente von der Trägerflüssigkeit trennt.

Ausgehend von diesem Phänomen ließe sich eine Verschwörungstheorie konstruieren, die, ins Netz gestellt, gute Chancen hätte, sich viral zu verbreiten. Wie bei Chemtrails stünde eine Geheimorganisation dahinter, deren Ziel es sei, die Zeugungsfähigkeit der Bevölkerung zu senken oder die Menschen allgemein krank zu machen. All das ließe sich mit pseudowissenschaftlichen Argumenten garnieren, etwa mit der abnehmenden Spermienzahl oder ähnlichem. Wenn schon Stifte in der Nähe eines Computers zu schmieren beginnen, welche Auswirkungen würde dann erst ein Computer auf unseren Körper haben! Im Gegensatz zu Flugzeugen, die angeblich irgendwelche Chemikalien versprühen, haben wir mit Computern unmittelbar zu tun. Übertragen auf eine Verschwörungstheorie hieße das, dem ominösen Feind sei es gelungen, sich buchstäblich bei uns einzunisten, was ja, wenn auch auf ganz andere Weise, nicht ganz abzustreiten ist, denkt man an Konzerne wie Google etc., wobei festzuhalten wäre, dass wir die Auswirkungen und Folgen neuer Technologien erst im zeitlichen Abstand wirklich beurteilen werden können.

Wann immer ich mich jemandem unterhalte, der der festen Überzeugung ist, die Ereignisse des 11. September 2001 seien vom Pentagon organisiert worden oder beim Holocaust handle es sich um eine Erfindung der Amerikaner, stets muss ich feststellen, dass solchen Leuten mit keinem Einwand beizukommen ist. Um es mit Hermann Broch zu sagen, ”mit Vernunftgründen oder gar mit Gründen der Menschlichkeit” ist gegen solchen Teufelsglauben so gut wie nichts auszurichten. Wir haben es mit Wahnvorstellungen zu tun. Von einem Wahn kann man dann sprechen, wenn abstruseste Erklärungen sich als völlig resistent gegen jeden sachlichen Einwand erweisen.

Vieles von dem, was wir heute erleben, lässt an den von Broch beschriebenen Massenwahn denken. Da allerdings Broch, gerade was die Genese wahnhafter Vorstellungen betrifft, vieles unbeachtet lässt, habe ich mir als Gegenlektüre zu heutigen Wahnvorstellungen Daniel Paul Schrebers ”Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken” vorgenommen, zumal Schreber seine Krankheits- und Leidensgeschichte ausführlich beschrieben hat und vieles nachvollziehbar macht, wobei er selbst sah, dass es sich bei seinen ”Denkwürdigkeiten” um ein ”phantastisch gestaltetes, verwickeltes und von den gewöhnlichen Gedankengängen überaus abweichendes Ideengebilde” handelte.

Schrebers Krankengeschichte sei hier nur kurz skizziert. 1893, kaum zum Senatspräsidenten am Oberlandesgericht Dresden ernannt, fiel er in eine tiefe Krise. Überanstrengung wie die Angst, den in ihn gesetzten Erwartungen nicht gerecht zu werden, dürften eine wichtige Rolle gespielt haben. Schreber litt an Schlafstörungen, Angstzuständen, körperlichen Beschwerden wie Herzbeklemmung, hochgradiger Nervosität. Auf eigenen Wunsch ließ er sich in der Universitätsklinik Leipzig aufnehmen, wo er vom Arzt Paul Flechsig, bei dem Schreber bereits Jahre zuvor in Behandlung gewesen war, betreut wurde. Nach der Aufnahme entwickelte Schreber schwerste psychotische Wahnvorstellungen, die nach erfolgloser Behandlung schließlich seine Unterbringung in der Irrenanstalt Sonnenstein zur Folge hatten.

Flechsig dürfte versucht haben, Schreber mit den damals verfügbaren Medikamenten (Chloralhydrat, Opium, Brom) mehr oder weniger brachial in einen Schlaf zu versetzen, bewirkte damit allerdings das Gegenteil. All das verschlimmerte nur seinen Zustand. Schreber erlebte einen entsetzlichen Abstieg, sah sich jeder Privatsphäre beraubt, fand sich unter zusammengewürfelten Patienten und hatte wohl auch unter dem Verhalten mancher Pfleger und Ärzte zu leiden. Schrebers ”Denkwürdigkeiten” belegen nur zu gut die während dieser Zeit erlebten Demütigungen und Gewalterfahrungen. Flechsig dachte an eine organische Störung, sah die Nöte des Kranken nicht, schon gar nicht, dass in Schrebers Wahnvorstellungen konkrete Anstaltserfahrungen ihren unmittelbaren Niederschlag fanden.

Wäre Schreber nicht in einer psychiatrischen Anstalt gelandet, womöglich hätte er seine Wahnideen nie entwickelt. Auch andere fielen am Höhepunkt ihrer Karriere in eine tiefe seelische Krise. Man denke etwa an Max Webers ”Höllenfahrt”, die er in den Jahren durchlebte, während derer Schreber seine ”Denkwürdigkeiten” verfasste. Auch Weber litt an Schlaflosigkeit, an einer quälenden Rastlosigkeit und Angstzuständen. Im Frühjahr 1898 kehrte er von einer Wanderung erschöpft, aufgelöst und weinend zurück. Ein Jahr später war er zu keiner geistigen Arbeit mehr fähig. Er saß am Fenster und starrte in die Baumkronen. Weber bezeichnete diesen Zustand als ”Stumpfen”. Zwar war er mehrfach in Sanatorien zur Erholung, jedoch nie in einer psychiatrischen Anstalt. Er wurde von Angehörigen, vor allem von seiner Frau Marianne betreut. Er erhielt einen Steinbaukasten zum Spielen, Wachs und Ton zum Modellieren. Das Sprechen beängstigte ihn. Er durfte nicht gestört werden, saß er stumm und untätig an seinem Schreibtisch. Nun, wir wissen es, Weber sollte sich nach drei Jahren erholen und in eine wahrlich produktive Phase eintreten. Bedauerlicherweise ist die ”ausführliche Selbstdarstellung” seiner Krankheit nicht erhalten geblieben, die Weber vor dem Ersten Weltkrieg verfasst hat. Sie steckte in einem versiegelten Umschlag mit der Aufschrift: ”Nicht vor dem Jahr 2000 zu öffnen.” Aus Angst, die Aufzeichnungen könnten das Bild Webers beschädigen, wurden sie von Marianne Weber vernichtet.

Während der akuten Phase seines Wahns waren in Schrebers Wahrnehmung Innen- und Außenwelt nicht mehr voneinander geschieden. Er verlor jedes Raum- und Zeitgefühl, war nicht mehr in der Lage, mit anderen auf verständliche Weise zu kommunizieren. Er entwickelte die seltsamsten Vorstellungen, glaubte etwa, dass sich das Verzehrte auf seine Beine ergieße, dass ihm Organe abhanden gekommen oder falsche Mägen ”angewundert” worden seien. Um 1900, also zu jener Zeit, als er seine ”Denkwürdigkeiten” verfasste, haben wir einen Schreber vor uns, der erstaunlich klar seine Interessen vertreten konnte. Das belegen seine klug durchdachten Schreiben an das Dresdner Oberlandesgericht, in denen er gegen seine Entmündigung Einspruch erhob. Nun konnte er sich sehr gut in andere Menschen hineinversetzen, in Richter und Staatsanwälte, die mit seiner Entmündigung befasst waren, in seinen behandelnden Arzt Guido Weber, der vor Gericht als Sachverständiger auftrat und für die Entmündigung plädierte, obwohl Schreber sein Essen mit ihm am Familientisch einnahm, und nicht zuletzt in seine Frau, von der er seit Jahren zwangshalber getrennt lebte, die um ihre Existenz fürchtete und verständlicherweise kein großes Interesse hatte, wieder mit ihrem Mann mit all seinen Absonderlichkeiten zusammenzuleben. Dabei prägten Wahnideen immer noch sein Denken.

Auffallenderweise hatten diese Wahnideen bemerkenswerte Modifikationen oder, wie Schreber selbst meinte, ”manchen Wandel” erfahren. Aus zwei Göttern, die sich nur menschlichen Leichen zu nähern wagten, war ein Gott geworden, der als Geliebter phantasiert wurde, während Schreber selbst eine Transformation zu einem weiblichen Wesen durchzumachen meinte, dies mit der fixen Vorstellung, von eben diesem Gott begattet zu werden, um ein neues Menschengeschlecht hervorzubringen. An sich schien er Anzeichen einer Geschlechtsumwandlung zu bemerken, wie er auch fest davon überzeugt war, dass sein Körper von weiblichen Wolllustnerven durchzogen sei. Er schmückte sich mit Bändern und allerlei Tand, um Gott zu gefallen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wobei man sich das phantasierte Verhältnis als durchaus zänkisch vorstellen mag. Während seines akuten Irreseins wurde er noch von Kastrationsängsten geplagt. Gewalterfahrungen verkehrten sich in göttliche Wunder, ganz gleich, ob er sich den Kopf an einer Mauer anstieß, die Klaviersaiten wie so oft rissen, sein Teller während des Essens zu Boden fiel und entzweibrach oder seine Augenlider vor Müdigkeit zufielen. Seine zahllosen Körperängste mündeten in der Vorstellung, dank göttlicher Strahlen gegen alle Krankheiten gefeit zu sein. Selbst schwerste Verletzungen könnten ihm nichts mehr anhaben.

Dass es sich bei den ”flüchtig hingemachten Männern” um Trugbilder handelte - Schreber glaubte lange, es gäbe keine Menschen mehr, und diejenigen, mit denen er zu tun hatte, seien abgeschiedene Seelen -, konnte er nun sehen. Er wurde sich dessen bewusst, als er Post erhielt. Dem Stempel konnte er Orts- und Zeitangabe entnehmen. Wenn die Post funktioniere, dann müsse es noch Menschen geben. Die deshalb verworfenen ”flüchtig hingemachten Männer” wandelten sich in der Folge zu ”gewunderten [sprechenden] Vögeln”, in denen unschwer die ihn umgebenden Kranken wie das Anstaltspersonal zu erkennen sind, wusste Schreber doch ganz klar zwischen solchen und den eigentlichen Vögeln zu unterscheiden. Schreber litt zwar immer noch unter den von ihm nicht kontrollierbaren ”Brüllzuständen”, meinte nach wie vor, es werde an ihm ”herumgewundert”, wie er auch immer noch von Stimmen bedrängt wurde. Dennoch wusste er sich nun in der äußeren Wirklichkeit, mochte ihn dies auch noch so viel Anstrengung kosten, zurechtzufinden. Zeitlich und räumlich war er wieder klar orientiert.

Da Schreber die Frühphasen seines Wahns erst im Nachhinein beschrieben hat, lässt sich die Genese seiner Wahnvorstellungen nur grob beschreiben. Auf sein akutes Irresein folgte eine Reihe von Jahren, in denen er sich in der ihm aufgezwungenen Welt einrichtete, Strategien entwickelte, um sich gegen all die Stimmen, letztlich gegen die durch die unmittelbare Umwelt verursachten Bedrohungen und Störungen zu behaupten. Die Anstalt Sonnenstein, in der er untergebracht war, nannte sich ”Heilanstalt”. Tatsächlich handelte es sich um eine Irrenanstalt, wurde doch die Masse der Kranken interniert, wie es auch keine wirklichen Behandlungen gab. Um wieder Boden unter den Füßen zu finden, musste sich Schreber selbst behandeln. Seine ”Denkwürdigkeiten” zeugen eindringlich von seinen diesbezüglichen Bemühungen. So betrachtet sind seine Wahnideen als produktive Leistung anzusehen. In ihnen verdichten sich alle Verletzungen, mag auch nicht klar auseinander zu halten sein, was sich seinem früheren Leben und was sich seinen Erfahrungen in den Anstalten verdankt. Er entwickelte, und das ist in unserem Zusammenhang von Bedeutung, einen häuslichen Wahn, oder anders formuliert, sein Wahn war chronisch geworden. Um es mit dem behandelnden Arzt Guido Weber zu sagen: ”... aus den stürmisch bewegten Wogen des halluzinatorischen Wahnsinnes [hat sich] sozusagen ein Sediment von wahnhaften Vorstellungen abgesetzt und fixiert.”

Weber betrachtete den häuslich gewordenen Wahn äußerst skeptisch, obgleich er sah, dass sich Schreber in der Öffentlichkeit frei bewegen konnte, nicht länger der Begleitung eines Pflegers bedurfte, dass er trotz aller Absonderlichkeiten in der Lage war, wie andere seine Interessen zu verfolgen: ”Daß mit dieser Veränderung des Krankheitscharakters der Gesamtzustand eine wirkliche Besserung erfahren habe, kann nicht ohne Einschränkung gesagt werden, so sehr auch der äußere Anschein dafür sprechen mag, man könnte sogar das Gegenteil annehmen: - so lange die akuten Krankheitserscheinungen andauerten, durfte man an der Hoffnung auf einen günstigen Ausgang des Krankheitsprozesses festhalten, jetzt, wo man es mit dem fixierten Ergebnis dieses Prozesses zu tun hat, wird jene Hoffnung hinfällig.”

Der Halluzinierende apperzipiere nicht die Welt, sondern sich selbst: ”Die ungleich größere Macht aber, die die Sinnestäuschungen über den gesamten Bewußtseinsinhalt des Kranken zu gewinnen pflegen als die wirklichen Wahrnehmungen, ist nicht allein auf deren sinnliche Deutlichkeit zurückzuführen, sondern auch darauf, daß sie der jeweils dominierenden Vorstellungsrichtung adäquat sind und auf demselben Boden erwachsen wie jene zunächst vielleicht noch dunklen und unklaren Gedankengänge, die durch sie wiederum mächtig gefördert und befestigt werden.” Während alle Äußerungen Schrebers während seines akuten Irreseins nach Form und Inhalt von gewaltiger Art, von lebhaftem Affekt begleitet und daher von unmittelbarer mächtiger Wirkung gewesen seien, so hätten sich diese allmählich abgeschwächt und seien nur noch ein lispelndes, leises Geräusch, ein Gezisch, das sich mit dem Geräusch des in einer Sanduhr herabträufelnden Sandes vergleichen lasse: ”Es ist eben, wie ich schon früher auseinandergesetzt habe, das akutere Medium der Psychose mit seiner lebhaften gemütlichen Alteration schon längst in ein chronisches übergegangen, aus der stürmisch bewegten, trüben Flut der akuten Krankheitsvorgänge hat sich das bekannte, komplizierte Wahnsystem kristallisiert und fixiert, und mit diesem hat sich der Kranke in der oben angedeuteten Art abgefunden, daß es in gewissem Maße eine Sonderexistenz in seinem Vorstellungsleben führt, zwar einen sehr bedeutsamen Teil desselben darstellt, aber doch bei dem Mangel lebhafter Affektbetonung mit den übrigen Vorstellungskreisen, namentlich den das alltägliche Leben in sich fassenden, nur in relativ geringer Wechselwirkung steht und sie nicht überall durch Erregung entsprechender Willensimpulse merklich beeinflußt.”

Um wieder auf die eingangs angedeuteten Überlegungen zurückzukommen: Was heutige Massenwahnerscheinungen betrifft, sind ausgehend vom Einzelfall Schreber vor allem folgende Aspekte hervorzuheben: - Wahngebilde fallen nicht vom Himmel. Ohne Verletzungen oder tiefgreifende Kränkungen sind sie nicht denkbar. - Wahngebilde sind als produktive Leistungen im Dienste der Konfliktabwehr zu betrachten. - Der häusliche gewordene Wahn, nach wie vor im Dienste der Konfliktabwehr stehend, verweist nur vermittelt auf die eigentlichen Konfliktinhalte. - Verhäuslichte Wahnvorstellungen werden im Alltag nur selten als solche wahrgenommen. Wir haben es mit einer partiellen Verrücktheit zu tun. - Die Wahnbehandlung hat eine Anerkennung des Leidens wie eine Rückübersetzung zur Voraussetzung.

Gemeinhin wird die FPÖ als populistische Partei betrachtet. Zum Erstarken rechter und nationalistischer Parteien gibt es zahllose Studien. Es ist schon richtig: All die mit der Globalisierung verbundenen Verwerfungen, die zunehmend auseinanderklaffende Einkommensschere wie vieles andere drängen Menschen zurück zum Stammesfeuer. Davon leben populistische Parteien. Zumindest was Österreich und die FPÖ betrifft, greift diese Erklärung allerdings zu kurz. Man denke etwa an Kickl, Vilimsky, Waldhäusl und andere. Da haben wir es mit einer Schubkraft zu tun, die sich durch Populismus allein nicht wirklich erklären lässt. Ein Stundenlohn von 1,50 Euro für Asylanten: Dass sie nichts wert sind, das soll ihnen eingeschrieben, eingeimpft werden, wobei es noch Spielraum nach oben gibt. Man denke an Zeichen der Kenntlichmachung, entsprechende Kleidung, das Gehen erschwerendes Schuhwerk und vieles andere. Um bei den 1,50 Euro zu bleiben: Eine solche Verordnung ist höchst erklärungsbedürftig, fällt es für die Länder oder Gemeinden finanziell doch kaum ins Gewicht, ob Asylanten 1,50 oder 5,00 Euro Stundenlohn erhalten. Mit der damit verbundenen Schubkraft müsste man sich beschäftigen. Und machte man es, hätte man es mit dem Bodensatz zu tun.

Dass die FPÖ, ich denke vor allem an ihre Funktionäre und ihre Kernwählerschicht, tief in der nazistischen Vergangenheit verhaftet ist, braucht hier nicht näher ausgeführt zu werden, zumal wöchentlich, ja fast täglich irgendeine braune Blase in ihrem Umfeld aufplatzt. Nahezu alle Erklärungsversuche lassen einen entscheidenden Aspekt außer acht. Es trifft zu, dass Vertreter der FPÖ stets schnell mit einer Opfer-Täter-Umkehr bei der Hand sind. Auch das Mahnmal für die Trümmerfrauen, in seiner ganzen Verlogenheit an Kitsch nicht zu überbieten, fällt in diese Kategorie. Unausgesprochen bleibt, dass sie sich tatsächlich als Opfer fühlen. Das müsste wahrgenommen und ausgesprochen, mehr noch, anerkannt werden.

Um nur einige Beispiele zu nennen, die mir aus persönlichen Gesprächen in Erinnerung geblieben sind: Der Großvater war bei der SS. Seine Kinder wuchsen in einer arisierten Wiener Villa mit großen, lichtdurchfluteten Zimmern auf. Es gab auch einen schönen Garten. Eine schöne Kindheit. Nach 1945 ging die Villa im Zuge der Entnazifizierung wieder verloren. / Einige der schönsten Häuser am Hauptplatz von Aussig hätten der Familie gehört. All das habe man ihnen weggenommen. Leider habe ich nicht nachgefragt, wie die Häuser in Familienbesitz kamen. / Sie sei in Südafrika aufgewachsen. Wie sich herausstellte, hatte sich der Vater, um einer Strafverfolgung zu entgehen, vor den Frankfurter Auschwitz-Prozessen mit seiner Familie nach Südafrika abgesetzt, wo er sein Erfahrungswissen in das Apartheidsregime einbrachte. / Sein Vater, damals ein junger Arzt, habe sich das Leben genommen. Wie ein schwarzer Schatten hänge die Vertreibung der Sudetendeutschen immer noch über seiner Familie. / Eine junge Krankenschwester erzählt, dass ihre Großeltern von den französischen Besatzungstruppen ausquartiert worden seien, ihr Haus nicht mehr betreten hätten dürfen. Es sei ihnen nur noch erlaubt gewesen, die Kühe im Stall zu füttern. Dass der Großvater Nazifunktionär war, blendete sie aus.

In solchen Fällen neigte ich bislang meist dazu, letztlich die Betonung doch auf Täterschaft zu legen. Inzwischen bin ich überzeugt, dass man jenen, die so viel klagen, einen Opferstatus zubilligen müsste und sie zum Erzählen auffordern sollte. Aus dem Erzählten, so es überhaupt zustande käme, ergäben sich zahllose Fragen, die schließlich in Konflikt mit der Geschichtsklitterung der Sprechenden geraten müssten. Ich bin mir durchaus bewusst, was ich hier schreibe, auch dass man in der Begrifflichkeit dessen, was unter einem Opfer zu verstehen ist, genau sein muss. Aber nur wenn es gelänge, die erlebte oder tradierte Unbill, die affektiv zutiefst verankert ist, anzuerkennen, wäre es möglich, eine Sprache dafür zu finden, was Täterschaft, Mitläuferschaft, NS-Begeisterung etc. betrifft.

Auffallend ist, dass solche innerhalb von Familien tradierte Kränkungen, so verschieden sie gelagert sein mögen, dann doch in kollektiven Wahnvorstellungen ihren Niederschlag finden. Es gibt viel zu klagen, wie ich die FPÖ denn auch vor allem als Klagegemeinschaft betrachte. Wir haben es mit einem verhäuslichten Wahn zu tun, der in vielem an Schreber denken lässt, sich von dessen Wahnvorstellungen vor allem dadurch unterscheidet, dass es sich um ein kollektives Phänomen handelt. Gemeinhin werden all die unsäglichen Sager als bewusste mediale Grenzverschiebungen betrachtet. Das trifft nur zum Teil zu. Wir haben es mit lispelnden Geräuschen zu tun, mit Gezisch, das aus dem Sediment an die Oberfläche drängt und dessen Inhalts sich die Sprechenden nur bedingt bewusst sind. Sie haben solchen Sprachgebrauch bereits in frühester Kindheit eingesogen, und zwar mehr affektiv als kognitiv. Er ist ihnen eingepfropft. Es drängt aus ihnen heraus. Strache kann etwa in einem KRONE-Interview behaupten, die FPÖ habe eine klare Linie gegenüber Verhetzung und Antisemitismus gezogen, um dann wenige Augenblicke später von einem drohenden ”Bevölkerungsaustausch” zu faseln, was an Blutaustausch denken lässt. Weder ihn noch sonst jemanden in der FPÖ könnte man auf einer inhaltlichen Ebene überzeugen. Was nicht sein darf, das kann nicht sein. Bemerkenswert sind die Verdrängungsleistungen. Die FPÖ, die ”soziale Heimatpartei”, hat sich die ”Heimat” auf ihre Plakate und Fahnen geschrieben. Ganz vergessen scheint, dass die NSDAP, in der der harte Kern der FPÖ nach wie vor verwurzelt ist, Abermillionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht und ihrer Heimat beraubt hat. Auch das lässt an Schreber denken. Dass die Saiten seines Pianinos, das ihm seine Frau in die Anstalt schicken ließ, so häufig rissen, darin sah er ein göttliches Wunder. Und Schreber erklärt auf sehr verständige Weise, dass Klaviersaiten durch das Anschlagen von Tasten unmöglich zum Zerreißen gebracht werden könnten. Wie aber dem Krankenakt zu entnehmen ist, muss er sein Pianino regelmäßig buchstäblich misshandelt haben. Ein ähnlich fragmentiertes Denken ist auch in der FPÖ wie bei allen rechtsradikalen Bewegungen zu beobachten.

Ganz so einfach lässt sich Schreber allerdings nicht auf heutige Massenwahnvorstellungen übertragen. Er kannte ein Ich. Er brachte seine Verletzungen zum Ausdruck. Dazu ist die Gefolgschaft von Strache unfähig. Ich kann mich an kein einziges Beispiel erinnern, in dem auch nur einer von ihnen von einer tiefsitzenden Verletzung oder tiefen Kränkung erzählt hätte. Und doch schreit aus jedem Satz dieses abhanden gekommene Ich heraus. Erst heute verstehe ich das von der FPÖ betriebene Heldengedenken. Statt Erinnerung und Auseinandersetzung Verlagerung ins Mythische, Überzeitliche. So lässt sich die Vergangenheit verhäuslichen. Ich verstehe die maßlose Wut, die die Sprache wirklicher Opfer auslöst. Undenkbar, dass solche Leute einmal eine Geschichte aus der Gegenperspektive lesen. Warum nicht eines der Tagebücher, die Hungernde während der Leningrader Blockade geschrieben haben? Mehr als eine Million Zivilisten kamen damals ums Leben. Nur eines von zahllosen Beispielen nationalsozialistischer Vernichtungspolitik. Aber vermutlich diente ihnen der stalinistische Terror, um all das wegzuwischen.

Schreber verhedderte sich immer wieder in dem von ihm gebastelten Erklärungsgefüge. Aber man muss doch sehen, dass er in seinen metatheoretischen Überlegungen - man denke an das, was er zur Fragmentierung der Sprache, zu unvollkommenen Sätzen, deren Sinn es zu erschließen gilt, geschrieben hat - oft genug nahe daran ist, seine eigenen Erklärungen in Frage zu stellen. Solches ist von Strache, Gudenus, Kickl etc. nicht zu erwarten, was aktuell wieder die Verschwörungstheorie eines bewusst gesteuerten ”Bevölkerungsaustausches” deutlich macht. Sie glauben es, mögen auch historische, demographische oder sozialwissenschaftliche Fakten dagegen sprechen. Eine Aufnahme aus dem Türkenschanzpark, auf der türkische Familien zu sehen sind. Solche Bilder werden reflexartig auf ganz Wien übertragen, obwohl sich tagtäglich abertausende von Fotos machen ließen, die andere Wirklichkeiten zeigen. Der Türkenschanzpark ist nicht zufällig ins Bild geraten, lässt er sich doch mit der Türkenbelagerung assoziieren. Es ließen sich auch hier andere Bilder aus der Vergangenheit bemühen. Ich denke zum Beispiel an das Tagebuch einer jungen Frau, das sie während der letzten Kriegstage und in den Wochen nach der Befreiung geschrieben hat. Im Türkenschanzpark wurden damals Notgräber ausgehoben, um Tote zu bestatten. All das war auch Ausdruck einer völkischen Wahnidee. Solches sollte man den Heimattümelnden der FPÖ hinter die Ohren schreiben.

Aber Moralisieren - wie so oft nach einer noch unsäglicheren Bemerkung - hilft nicht weiter. Das prallt an Wahnsystemen allemal ab, mehr noch, liefert man damit doch ständig neue Nahrung, um solche Wahnsysteme zu festigen. Man müsste die tiefsitzenden Kränkungen zur Sprache bringen, was aus vielen Gründen ein schwieriges Unterfangen wäre. Man müsste es genau machen, fragen, fragen und wieder fragen. Aber es ist hoffnungslos, zumal der ganze Sprachgebrauch zunehmend ohnehin eine breiige indifferente Konsistenz annimmt, sich, um mit Schreber zu sprechen, als ”eine Art wässriger Masse bemerkbar macht, die meinen Augapfel bedeckt”. Da wir es mit einem fixierten Ergebnis eines langen Prozesses zu tun haben, ist jede Hoffnung hinfällig.

© Bernhard Kathan, 2019
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