Zur Frage der Objektbeschaffung
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Es ist ein großer Unterschied, ob man für eine Ausstellung Psychopharmaka,
Neuroleptika, Antidepressiva von Herstellern zur Verfügung gestellt bekommt
(möglicherweise als Placebos) oder ob man eine Aussendung unter Bekannten
macht mit der Bitte, je eine Tagesdosis in ein Kuvert zu stecken und an
einen zurückzuschicken, vielleicht mit einem kleinen Kommentar zu den
Gründen der Einnahme wie zur Wirkung der Tabletten. Statistiken belegen,
dass heute ein relativ hoher Anteil der Bevölkerung mit Hilfe von
Psychopharmaka das Leben bewältigt. Diese Daten gelten natürlich auch für
den eigenen Bekanntenkreis. Auf eine entsprechende Aussendung hin erhielt
ich 42 Antworten. Manche steckten ihre Tagesdosis kommentarlos, mehrfach
ohne Absender, in einen Briefumschlag, andere legten einen kurzen Brief bei,
in dem manchmal auch der Wunsch nach einem Treffen geäußert wurde. Eine
Frau, ich kann mich nur vage an sie erinnern, schickte mir in einem
wattierten Briefumschlag einzig eine unbeschriebene Postkarte mit einem
ausgeschriebenen, also zum Schreiben untauglichen Kugelschreiber. Tabletten
fand ich keine.
Wie kommen Objekte in eine Ausstellung? In der Regel verdanken sie sich
Museumsbeständen oder privaten Sammlungen. Die Organisation verläuft zumeist
unkompliziert. Es geht um Inventarnummern, Informationen zur
Entstehungszeit, um Maßangaben, Verleihmodalitäten und ähnliches. Man kann
nach Objekten aber auch völlig anders suchen. Ob Psychopharmaka,
Geldscheine, Klassenfotos oder anderes, immer wieder versuche ich abseits
von Museen oder privaten Sammlungsbeständen Objekte zu finden.
Die Aussendung, Psychopharmaka betreffend, verdankt sich einem musealen
Kleinstprojekt zur Geschichte der Psychiatrie. Ich suchte nach einer
Zwangsjacke. Zwangsjacken wie sie früher in Nervenkrankenhäusern und
Irrenanstalten Verwendung fanden, sind außer Gebrauch gekommen. Will man
eine finden, dann ist man auf die Unterstützung von Sanitätsdirektoren,
Oberpflegern, ärztlichen Direktoren von psychiatrischen Krankenhäusern oder
ähnliche Personen angewiesen, in der Hoffnung, dass sich in einer
vergessenen Kammer, in einem Kellerraum oder auf einem Dachboden noch so
eine Zwangsjacke findet. Diesbezüglich machte ich durchwegs dieselben
Erfahrungen, ganz gleich ob ich nun nach einer Zwangsjacke, einem
ausgemusterten Exemplar eines Elektroschockapparates (euphemistisch
"Elektrokrampftherapieapparat" genannt), nach einem "Eispickel" oder anderen
Gegenständen fragte. Als "Eispickel" wurde jenes gehirnchirurgische
Instrument bezeichnet, mit dem in Lobotomien die Nervenbahnen zwischen
Thalamus und Stirnhirn sowie Teile der grauen Substanz durchtrennt wurden.
Dies hatte für die Betroffenen zumeist schwerwiegende Veränderungen der
Persönlichkeit wie andere Störungen zur Folge. Ob sich die Bezeichnung des
chirurgischen Instruments einer ironischen Anspielung auf jenen Eispickel
verdankte, mit dem kurz nach der Erfindung der Lobotomie Leo Trotzki
ermordet wurde, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit bestätigen.
Gewiss ist nur, dass Bernard Wolfe, er war 1937 Trotzkis Sekretär, später
den Roman Limbo schrieb, in dem Lobotomien massenhaft zur Anwendung kommen.
Übrigens einer der bedeutendsten Romane der Science Fiction.
Ansprechpartner in der Psychiatrie. Da kann ich nur sagen: Non compliant.
Immer wieder hörte ich, die Psychiatrie sei doch ganz anders, ich würde
diese in ein schlechtes Licht stellen, und überhaupt, Zwangsjacken hätte es
wie Elektroschocks in ihrem Haus nie gegeben. Und wenn ich dann sagte, ich
hätte vor langen Jahren selbst einmal in solchen Einrichtungen gearbeitet
und könne mich gut daran erinnern, mitgeholfen zu haben, dem einen oder
anderen Kranken eine Zwangsjacke anzulegen, dann hörte ich, nein, so etwas
gäbe es nicht. Und warf ich dann ein, ein so großer Gebäudekomplex kenne
doch viele unbenützte Keller- und Dachbodenräume (es würde ja kein Essen
mehr im Keller gelagert), dann antworten sie, all diese Räume seien in den
letzten Jahren vollständig ausgeräumt worden. Und so ging es in einem
weiter, worauf ich manchmal eingeladen wurde, einmal auf zwei Stunden vorbei
zu schauen, damit wir ein angenehmes Gespräch führen könnten oder anlässlich
eines Treffens des Museumsvereines einen Vortrag zu halten. Wie sich später
herausstellte, gibt es im Keller des erwähnten Krankenhauses eine historisch
erhaltene Irrenzelle mit Zwangsjacken und allem drum und dran.
Ähnlich mühsam war die Suche nach einem Beichtstuhl. Man möchte meinen, dass
es in einem katholischen Land ein einfaches sein müsste, einen Beichtstuhl
aufzutreiben, und dies noch an einem Ort, an dem es an Kirchen nicht
mangelt, in manchen Kirchen überhaupt keine Messen mehr gelesen werden,
viele Beichtstühle unbenutzt herumstehen (manche Beichtstühle sind
inzwischen zu Drucksortenständern oder Opferstöcken umfunktioniert worden).
Man telefoniert sich zu Tode. Leichter ist es, ein gefülltes Tiefkühlregal
aus einem Supermarkt zu organisieren, und zwar ohne etwas dafür zu bezahlen.
Lebensmittelketten sind flexibler als die katholische Kirche. Beichtstühle
sind im Internet bereits ab 200 EUR zu haben, Luxusmodelle aus dem Barock
mit feinsten Nussholzeinlegearbeiten ab 8000 EUR. Die Beichtstühle haben
mich des Öfteren an meine Erfahrungen mit den Herren der Psychiatrie denken
lassen. Auch hier musste ich immer wieder an vergessene Dachböden und
Abstellkammern denken, darum bitten, einmal einen Gang durch solche Räume
machen zu dürfen. Freilich vergeblich. Ob Psychiatrien oder Klöster, da wie
dort haben wir es mit Institutionen zu tun, die mit ihrer Vergangenheit
nicht wirklich zu tun haben wollen. Zweifellos fänden sich da wie dort die
beredtesten Alltagsobjekte ihrer Geschichte, und sei es, dass man unter
Fenstern zu graben beginnt oder Zwischenböden und Ritzen untersucht. Was
käme nicht alles zu Tage, würde man nur in drei Räumen die vielen
Übermalungen Schicht für Schicht abtragen!
Insitutionen sind ohne Geschichte nicht denkbar, wird doch stets auf lange
früher gemachte Erfahrungen Bezug genommen, Wissen weitergegeben. Diese
Geschichte kennt zwangsläufig zahllose Perspektiven. Die Geschichte der
Psychiatrie etwa lässt sich aus dem Blickwinkel von Ärzten,
Pflegedirektoren, Patienten und ihren Angehörigen, ja selbst aus dem von
zufälligen Passanten oder neugierigen Kindern erzählen. Ich erinnere mich
noch gut an meine früheste Psychiatriegeschichte: Ich war damals vielleicht
sechs Jahre alt. Ein Rettungsauto kam, um eine Nachbarin abzuholen. Die
dicke Frau wälzte sich am Boden, im Schmutz vor ihrem Haus, und versuchte
sich den beiden Rettungsfahrern zu entwinden. Immer wieder schrie sie:
"Meinrad, Hilfe!" Sicher hat mich dieser Anblick damals ähnlich erschreckt
wie die anderen gaffenden Kinder, aber zweifelsohne habe ich wie andere
Kinder gekichert. Ein Mann kam und hat uns Kinder mit einigen ernsten Worten
vertrieben. In meinem Kindergehirn fügten sich zur Gummizelle
"Rettungsautos", mit denen nur wenige Jahre zuvor andere abgeholt wurden, um
für immer zu verschwinden. Heute wäre diese Szene so nicht mehr denkbar.
Psychisch Kranke werden nicht mehr wie Tiere eingefangen. Würden sich
Rettungsleute so verhalten, sofort schritte jemand ein.
Nun, die Zwangsjacke ließ ich mir nach meinen Körpermaßen von einer
Schneiderin anfertigen, die vor Jahrzehnten als psychiatrische Patientin in
eine Zwangsjacke gesteckt wurde (man ließ ihr die Wahl Spritze oder
Fixierung). Wie andere habe auch ich diese Zwangsjacke anprobiert, mich
einschnüren lassen. Wir erlebten diese Fixierung alle als bedrohlich. An die
Stelle eines frühen Elektroschockgerätes trat eine elektrische
Betäubungszange wie sie in Schweineschlachthöfen verwendet wurde. Der
italienische Psychiater Ugo Cerletti, der als Erfinder der
Elektrokrampftherapie gilt, interessierte sich für die elektrischen
Betäubung von Schweinen. Er experimentierte selbst in einem Schlachthof.
1938 führte er seinen ersten Versuch an einem Mann durch, der von der
Polizei auf einem Bahnhof aufgegriffen wurde. Nachdem der Versuchsperson ein
erster Stromstoß verabreicht worden war, bat diese verzweifelt: "Nicht noch
einmal! Es ist tödlich!" Ein ironisches Detail am Rande: Diese
Betäubungszange wechselt unvermittelt aus einer Ausstellung zur
Technikgeschichte des Essens in die Psychiatriegeschichte. Deshalb sei auch
das unverwüstliche Essgeschirr erwähnt, mit dem vor wenigen Jahrzehnten Irre
in Pflegeanstalten abgefüttert wurden. Natürlich wurde mir auch hier gesagt,
all das gäbe es nicht mehr ("Zum Glück sind diese schrecklichen Zeiten
längst vorbei. Unser Haus arbeitet nach neuesten Qualitätsstandards"). Hier
war mir ein Freund behilflich, der einen Aluminiumnapf (viele
Gebrauchsspuren), einen Aluminiumteller (viele Gebrauchsspuren), einen
Blechteller (rostig) und einen Löffel (sehr rostig) in einer ehemaligen
Anstaltswerkstatt fand. Mit dem Löffel scheint Gips angerührt worden zu
sein, der Napf und die beiden Teller dienten der Aufbewahrung von Nägeln wie
anderen Kleinmaterialien. Zweifellos fände sich da und dort noch so ein
Napf, und sei es als Hunde- oder Katzenschüssel auf einem der umliegenden
Bauernhöfe. Man muss nur ein Auge dafür haben. Ich sollte auch noch den
Eispickel entdecken, obwohl mir der Leiter der Sammlung versichert hatte,
dass es ein solches Instrument nicht gäbe. Ich hatte keine Lust mehr, nach
dem Instrument zu fragen.
Die Geschichte der Psychiatrie kennt zahllose brachiale Praktiken, mit denen
versucht wurde, dem Wahn oder Anderssein von Kranken zu begegnen. Sie kennt
aber auch von Beginn an Reformbemühungen. So stieß ich während der Arbeit an
diesem Projekt auf einen Arzt, der sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts
wie andere vehement gegen die Fixierung von Kranken aussprach, die oft genug
einer Bestrafung gleichkam. Er sah im Verhalten der Kranken auch eine
Reaktion auf ihre Unterbringung und Behandlung. Zwar kam auch er nicht
völlig ohne Zwangsmaßnahmen aus, entscheidender aber ist, dass er penibel
Buch über all die von ihm veranlassten Fixierungen führte. Dieser Arzt
führte ein regelmäßiges Faschingstheater ein. Dieses sollte nicht allein der
Unterhaltung der Kranken dienen, Außenstehende wurden eingeladen, um
Vorurteilen gegenüber den Irren wie der Anstalt entgegenzuwirken. Der Arzt,
er hieß Josef Stolz, begriff, dass es sich bei Krankheit und Gesundheit auch
um eine zwischenmenschliche Angelegenheit handelt. Ich bin auf ihn freilich
nicht durch die oben erwähnten Herren gestoßen wie es mich auch nicht
wunderte, dass dem Pflegedirektor dieser Arzt unbekannt ist. Dabei ließe
sich von Josef Stolz einiges lernen, etwa dass es im Umgang mit psychisch
Kranken einer Haltung bedarf, dass die heute allseits behaupteten Standards
doch stets nur das optimale Minimum bedeuten.
Objekte sich solcherart zu beschaffen kann sehr umständlich sein. Manchmal
hat man dabei überhaupt keinen Erfolg. Nicht selten kommt es dabei zu
Missverständnissen. So suchte ich etwa nach einem historischen
Fingerabdruckset. Ich telefonierte mit zahlreichen Polizisten, die sich in
einem Polzeimuseum engagieren. Nein, so etwas hätten sie nicht. Das habe man
alles längst weggeworfen. Irgendwann wurde mir klar, dass ich die falsche
Bezeichnung verwendet hatte. Hätte ich nach einem Spurensicherungskoffer
gefragt, ich hätte sofort zwischen drei oder vier unterschiedlichen Modellen
auswählen können. Einer der Kriminalisten outete sich als privater Sammler.
Freilich sammle er keine erkennungsdienstlichen Objekte, Uniformmützen und
dergleichen, er habe daheim eine "Gruselsammlung", Mordwaffen,
Foltergegenstände und dergleichen. Diese Sammlung hätte mich interessiert.
Auf die Psychiatrie bezogen gibt es keine solchen Missverständnisse. Da weiß
jeder was mit einer Zwangsjacke oder einem Elektroschockapparat gemeint ist.
Auf abseitiger Objektsuche begegnet man einmal freundlichen Zuträgern, dann
freundlichen Menschen, die einem nichts zutragen, im Gegenteil, die sich
alle Mühe geben, damit man nicht in den "Besitz" des entsprechenden
Gegenstandes gelangt. Es müsste doch einfach sein, so meint man, eine
Fußfessel aufzutreiben, wie sie im Strafvollzug (zumindest in
Modellversuchen) zur Anwendung kommt, zumal man ja nur den als "Fußfessel"
erwähnten Teil zeigen will, nicht aber das eigentliche System mit seinem
komplexen elektronischen Seelenleben, welches nicht am Bein eines
Verurteilten, sondern an ganz anderen Orten funktioniert. Die Fußfessel, die
man in einer Ausstellung zeigen will, kann defekt, ausgemustert, des ganzen
elektronischen Innenlebens entleert sein. Der Rest: Plastik (der Verurteilte
soll auch duschen können), einige Metallteile. Dennoch meinte ein Vertreter
eines Fußfesselherstellers, man könne eine Fußfessel nicht in einer
Ausstellung zeigen, ja nicht einmal sicher hinter Glas verwahrt. Er fragte
mich, ob ich sehr enttäuscht sei, dass er meinem Wunsch nicht entgegen
kommen könne. Ich meinte, bedauerlich sei nur, dass ich mich nun noch länger
mit Fußfesseln beschäftigen müsse, die Arbeit an Ausstellungsprojekten
begriffe ich aber als eine Art Feldforschung, weshalb ich eine Ablehnung
letztlich gleichwertig mit einem erhaltenen Objekt betrachte. Es ginge mir
dabei nicht viel anders als Malinowski auf den Trobriand-Inseln. Hätte ich
eine Fußfessel, einen Elektroschockapparat oder einen Beichtstuhl einfach
erhalten, viele Fragen hätten sich gar nicht gestellt. Vermutlich sind diese
Fragen entscheidender als das gezeigte Objekt. Vermutlich müsste man viel
öfters mit Leerstellen arbeiten. Eine Fußfessel als Objekt ist ziemlich
bedeutungslos. Auch ist sie beliebig durch verwandte Systeme ersetzbar. Mit
Passivsendern ausgestattete Uhren schlagen längst Alarm, verlässt ein
Demenzkranker ein Pflegeheim. Mit entsprechenden Technologien lassen sich
Schafherden im Hochgebirge mühelos lokalisieren. In modernen Rinderbetrieben
sind solche Systeme nahezu perfekt organisiert. Sie entscheiden nicht nur
über Kraftfutterausschüttung oder über den Zugang zum Melkroboter, letztlich
entscheiden sie auch, wann ein Tier schlachtreif ist. Durch ein
Selektionstor wird das Rind automatisch ausgesondert. Ich hatte mich bereits
für ein Halsband mit integrierten Passivsender aus der Rinderhaltung
entschieden, da rief mich Herr W. an, Vertreter eines anderen
Fußfesselherstellers, entschuldigte sich, dass er mich so lange habe warten
lassen und sagte mir, ich würde die Fußfessel auf jeden Fall bekommen, wie
ausgemacht eine Attrappe, also ohne jedes elektronische Innenleben. Mag es
mich auch sehr viel Zeit gekostet haben, eine Fußfessel aufzutreiben, so
muss ich doch sagen, dass meine Telefonate hier nie unangehm waren, ganz
anders als mit den Herren von der Psychiatrie und Theologie.
Kürzlich führte mich eine Frau durch ein Haus, welches sie vor wenigen
Monaten von einer Tante geerbt hatte. Es war ein großes Haus, von oben bis
unten mit allerlei Kram vollgestopft. Es gab Schachteln, die voll waren mit
sorgfältig gefaltetem Schokoladenpapier, Schokoladenpapier der letzten fünf
Jahrzehnte. In anderen Schachteln fanden sich Stöße von Glückwunschkarten.
Mühelos hätte sich mit all dem, was sich in dem Haus fand, eine großartige
Ausstellung organisieren lassen. Die Frau, die mich durch die Räume führte,
verstand das nicht. Sie wollte ein leeres Haus, ein geschichtsloses Haus.
Verständlich, kennt das Haus doch eine traurige Geschichte. In diesem Haus
wohnte eine Frau, die trotz ihres Vermögens nie einen Mann fand, die
kinderlos blieb, der man nach einer Blutvergiftung erst das eine, dann das
andere Bein abnahm, die lange bettlägrig war, deren Leben sich nur noch um
Katzen, gesammeltes Schokoladenpapier und ähnliches drehte. Um manches zu
retten, empfahl ich der Erbin, all die Dinge nach drei Gruppen zu sortieren:
A) das Verkäufliche (etwa Lampenschirme aus den fünfziger Jahren); B) Mull
(nahezu alle Glasflaschen); C) Gegenstände, die keinen oder nur einen
geringen Wert besitzen, aber für Museen von Interesse sein könnten. Ich
suchte ihr das anhand möglichst vieler Beispiele zu erklären, unter anderem,
als ich mit ihr vor einem geöffneten Wäscheschrank aus den fünfziger Jahren
stand. Solche Nachthemden und Unterwäsche tragen heutige Frauen nicht mehr.
Die meisten Nachthemden waren mit der Hand genäht, Nachthemden für eine Frau
im besten Alter. Diese Nachthemden schienen mir erhaltenswert, zum einen,
weil sie sehr sorgfältig genäht waren, dann weil sie exakt in jener Zeit
entstanden sind, in der solche Kleidungsstücke von Massenprodukten abgelöst
wurden. Vor dem Kasten stehend nannte ich der Frau ein Museum, welches
solche Wäsche sammelt. Wochen später rief ich sie wegen einer anderen
Geschichte an, in der Hoffnung, dass sich das eine oder andere Objekt noch
finden könnte. Ich fragte sie auch nach dem Kasten mit der Wäsche. Ja, das
hätten sie längst weggeworfen.
Sucht man solcherart Objekte, dann betreibt man Feldforschung, verstrickt
sich in zahllose Umständlichkeiten, sieht aber all die Objekte anders - und
oft genug ersetzt man Objekte, an welche man anfänglich dachte, durch
andere. Natürlich kann man dies in einer größeren Ausstellung nur bis zu
einem gewissen Grad machen, aber es ist allemal eine gute Erfahrung,
insbesondere wenn es um Alltagsobjekte geht. Überhaupt bin ich zutiefst
davon überzeugt, dass Ausstellungen wesentlich interaktiver entwickelt
werden sollten. Vitrinen lassen sich schnell füllen, man kann ankaufen,
beauftragen. Aber was ist gewonnen, stellt man sich nicht inhaltlichen
Auseinandersetzungen. Wie sollten Besucher Fragen stellen können, denken
Ausstellungsmacher einzig an Wirkung, Inszenierung, Präsentation und so
fort? Wie sollte ein Besucher die Welt anders sehen, hat sich der
Ausstellungsmacher keinen Schritt von der Stelle bewegt? Ob man einen Text
schreibt oder eine Ausstellung macht, die Arbeit ist nur gelungen, hat man
die Annahmen, von denen man ausging, weitgehend über Bord geworfen.
Nun könnte man den falschen Schluss ziehen, so organisierte Objekte
verfügten über so etwas wie eine auratische Aufladung. Das ist nicht der
Fall. Eine Fußfessel ist eine Fußfessel, eine Zwangsjacke eine Zwangsjacke,
nicht mehr und nicht weniger, ganz gleich wie man sie organisiert hat.
Keiner der Besucher wird das sehen, keiner soll es sehen. Entscheidend ist,
dass man sich auf Geschichten, letztlich auf Menschen einlässt. Macht man
dies, dann muss man sich von allem enzyklopädischen Erklären verabschieden.
Arbeitet man so, dann beginnt man zwangsläufig an mögliche Besucher zu
denken, an Schüler etwa, Nonnen oder Bauern.
Nachtrag: Ursprünglich dachte ich daran, die eingegangenen Tagesdosen mit
dem "Begleitmaterial" unter Weglassung der Namen zu dokumentieren, zu
zeigen, also auszustellen. Am Ende habe ich mich dagegen entschieden. Ich
füllte die Tabletten einfach in eine Petrischale.
Bernhard Kathan
07/12/2008