Strategien im ländlichen Raum
ICH MALE IHR PROBLEM. Auf Einladung des „Museums in Bewegung“ setzte sich
der Künstler Martin Breindl eine Woche lang während der Amtsstunden in eine
Prättigauer Gemeindekanzlei, hörte sich Probleme des Dorfes an und brachte
Sorgen und Wünsche der Bevölkerung zu Papier. Eine Bürgersprechstunde der
anderen Art. Die entstandenen 35 Zeichnungen wurden anschließend in der
Gemeindekanzlei ausgestellt.
Mag Kunst im ländlichen Raum immer noch der Geruch der Verschönerung
anhaften, so sind inzwischen doch abseits von Behübschungen auf Dorfplätzen
oder Kreisverkehrsinseln zahlreiche Kunstprojekte zu nennen, die von ganz
anderen Vorstellungen ausgehen. So unterschiedlich ihre Ansätze auch sein
mögen – sie reichen von der Medienkunst bis hin ganz konkreten
Interventionen -, gemeinsam ist ihnen, dass es sich um Eingriffe in
bestehende Sozial- und Raumgefüge handelt. Betonung des öffentlichen Raumes.
Prozessorientierung versus abstellbarer Kunst. Experimente mit fraglichem
Ausgang. Einladung zu aktivem Tun statt zu passivem Konsum. ICH MALE IHR
PROBLEM ist diesbezüglich ein gutes Beispiel. Dem Zeichnen kommt ebenso eine
mediale Funktion zu wie der Ausstellung, in der eben diese Zeichnungen zu
sehen sind. Es geht weniger um die Zeichnungen als darum, die geschilderten
Probleme oder Wünsche in einen öffentlichen Diskurs zurückzubinden. Jeder
erfolgreiche Künstler würde sich hüten, seine Arbeiten in einer Bankfiliale
oder in einer Gemeindekanzlei zu zeigen. Hier kehrt sich das ins Gegenteil,
werden doch die Räume und das, was darin geschieht oder geschehen könnte,
zum Thema.
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Martin Breindl, ICH MALE IHR PROBLEM, Schiers 2011 |
Ein Kulturverein am Land bietet ganz im Stil von Volkshochschulen
regelmäßige Aktzeichenkurse an. Sieht man vom Erwerb zeichnerischer
Fertigkeiten wie ihrer sozialen Funktion ab, so ist mit solchen
Veranstaltungen wenig gewonnen. In einem Praxisverständnis, welches sich der
Medienkunst verdankt, können selbst Aktzeichenkurse Sinn machen. Was
geschähe etwa, würde man ältere Dorfbewohner einladen, sich nackt zeichnen
zu lassen? Wäre eine spannende Sache, drängte sich doch so nicht nur
Lebensgeschichtliches auf. Übliches Aktzeichnen setzt eine klare Trennung
zwischen Subjekt und Objekt voraus. Ganz gleichgültig, ob die Zeichnung
gelingt, das Entscheidende liegt im Ergebnis, nicht im Prozess. Um das
deutlich zu machen, sei auf die slowenische Künstlerin Saba Skabernè
verwiesen, die in einem großartigen Projekt Bauchnäbel ihres persönlichen
Umfeldes dokumentierte. Naturalistische Bleistiftzeichnungen auf Papier. Im
Gegensatz zu üblichem Aktzeichnen handelt es sich um einen Eingriff in ein
soziales Feld. Die „Porträtierten“ wurden nicht bezahlt, sie mussten
gewonnen werden. Unter ihnen finden sich auch ältere, ganz alte Menschen,
auch gerade Verstorbene. Wie in Martin Breindls Projekt ICH MALE IHR PROBLEM
geht es weniger um die Abbildung, sondern um einen sozialen Prozess.
Unlängst sah ich in einem Regionalmuseum eine Fotoausstellung mit dem Titel
„Wege“. Zur Eröffnung waren viele Besucher gekommen. Aber kaum jemand sah
sich die Fotos genauer an. Was das Handwerkliche betrifft, war an diesen
Fotos nicht das Geringste auszusetzen. Gleichzeitig machten sie deutlich,
dass sich der Fotograf weder mit der Landschaft und ihrer Geschichte, noch
mit dem Thema Gehen oder Fortbewegung beschäftigt hat. Statt dessen hatte er
nach möglichen Motiven gesucht, die Ausstellungsbesucher ansprechen könnten.
So sagt seine Arbeit mehr über Geschmack aus als über Wege. Die Aufnahmen
wären in Hotelzimmern der Gegend besser aufgehoben, benötigt doch ein
heterogenes Publikum indifferente, stimmungsvolle Bilder. Was die
Auseinandersetzung mit regionalem Raum betrifft, sind solche Aufnahmen ohne
jede Bedeutung. Bezeichnenderweise finden sich ähnliche Fotos zuhauf in der
Tourismuswerbung.
Soll eine Ausstellung zum Thema „Wege“ gelingen, dann ist nicht nur
inhaltliche Auseinandersetzung gefordert. Vor allem müsste man sehr viel
gehen, sich mit unterschiedlichen Topographien beschäftigen, seien es
solcher der Nutzung, der Fortbewegung, der Ökonomie, möglicher Abkürzungen,
der Erinnerung, der Liebe, der Gewalt (im Umfeld des erwähnten Museums waren
wie an vielen anderen Orten Zwangsarbeiter beschäftigt) oder des Todes. Man
müsste sich mit Landkarten, Grundbuchauszügen beschäftigen, sich Geschichten
erzählen lassen. Eine genaue inhaltliche Beschäftigung ist allein deshalb
vonnöten, weil man zwangsläufig nur das vermitteln kann, was man selbst in
der Lage ist zu sehen. Macht man das nicht, ist wenig gewonnen.
Topolò/Topolove. Ein kleines Dorf, unmittelbar an der
italienisch-slowenischen Grenze, etwa 20 km östlich von Cividale gelegen.
Topolò war bis zur Auflösung Jugoslawiens militärisches Sperrgebiet, ein
vollkommen abgeschottetes Stück Land. Es war verboten zu fotografieren und
zu filmen. Niemand durfte unkontrolliert diese Zone betreten oder verlassen.
Die Kommunikation mit der Außenwelt war streng reglementiert. Gäste durften
nicht empfangen werden, Besuche waren verboten. Zwar auf der italienischen
Seite der Grenze gelegen, vornehmlich aber von slowenischsprachigen
Bewohnern bewohnt. Ein Ort, der über Jahrzehnte durch den kalten Krieg
geprägt war. Kontakte über die Grenze hinweg waren so gut wie
ausgeschlossen. Abwanderung, Überalterung und Verfall der Häuser waren die
Folge. 1994 wurde hier von Donatella Ruttar und Moreno Miorelli erstmals ein
Festival organisiert, in dem Künstler aus verschiedenen Ländern eingeladen
waren, Installationen mit Bezug zum Ort zu verwirklichen.
Der Kunstinitiative Stazione di Topolò/Postaja Topolove ist es in
jahrelanger engagierter Kulturarbeit gelungen, den Ort mit Hilfe von
künstlerischen Aktivitäten nachhaltig zu revitalisieren. Jedes Jahr
realisieren in den Sommermonaten zahlreiche internati ortsbezogene Projekte
und präsentieren diese in Form von temporären und permanenten
Installationen, sozialen Interventionen, künstlerischen Aktionen, Konzerten
und Lesungen einem breiten Publikum aus dem Großraum von Udine. Die
Kulturinitiative war von Beginn an bemüht, der speziellen geographischen
Lage wie auch den ethnischen und politischen Problemen durch eine
grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Bevölkerung gerecht zu werden. Ziel
war die Schaffung eines Ortes der Gastfreundschaft und Offenheit.
Nur um einige Beispiele zu nennen: Am Hauptplatz von Topolò entstand ein
imaginärer Flugplatz (eine am Abend beleuchtete Lichtinstallation), eine
Bibliothek. Eigene Briefmarken wurden gedruckt, „Botschaften“ verschiedener
Länder eingerichtet. Eine Künstlerin aus Chile ließ die BewohnerInnen von
Topolò Nachrichten für die Nachkommen in 150 Jahren schreiben - diese
Nachrichten wurden in Milchkannen gesteckt, mit Beton gefüllt, am Friedhof
eingegraben und dürfen erst im Jahre 2150 geöffnet werden. Ein Institut für
Topologie wurde gegründet. Führungen durch Topolò wurden organisiert und
dabei die Häuser ehemaliger Handwerker besucht. Ein anderes Projekt, welches
zur Überwindung der Vorurteile aus dem kalten Krieg beitragen sollte: ein
gemeinsames Essen der Bewohner aus Topolò (Italien) und Livek (Slowenien).
Es wurde nach gemeinsamen Rezepten gekocht, während des Essens wurden Fotos
aus der Zeit des kalten Krieges ausgetauscht. Gerade jungen Menschen wurde
mit solchen Kunstprojekten geholfen, Barrieren zu überbrücken. Dank dieser
Kunstprojekte flossen in sechs Jahren rund 3 Millionen EUR aus EU-Mitteln in
die Renovierung der alten Steinhäusern. Topolò ist ein Ort, wo Kunst Geld
lukriert hat und wo Kunst das Leben beeinflusst.
Ein großartiges Kulturprojekt, in dem sich Konfliktorientierung und
ernsthafte Ironie bestens die Waage halten. Topolò liegt zwar in der Pampa,
das Projekt dagegen ist alles andere als provinziell. Seit langen Jahren
treffen sich hier KünstlerInnen aus allen Sparten und den verschiedensten
Ländern. Die Kunstinitiative bildet längst so etwas wie ein wichtiges Forum,
was die Auseinandersetzung mit Kunst im öffentlichen oder ländlichen Raum
betrifft. Zahllose KünstlerInnen haben sich, und das trotz bescheidener
Honorare, inzwischen eingebracht und vernetzt.
Innovative Kunst- und Kulturprojekte im ländlichen Raum leben entscheidend
von der Vernetzung. Austausch und Zusammenarbeit können dabei so weit gehen,
dass manchmal die Autorenschaft höchst unscharf wird. Als Beispiel sei alien
productions (Martin Breindl, Norbert Math, Andrea Sodomka) genannt, die ihre
Projekte in oft wechselnden Besetzungen, oft in Kooperation mit anderen
KünstlerInnen, TechnikerInnen, TheoretikerInnen und WissenschafterInnen
realisieren. Interaktionen sind wichtig, sei es nun mit und von anderen
Menschen, Geräten, Computern oder auch Tieren. Von ihren vielen Projekten
seien hier nur zwei erwähnt. 2009 luden sie acht Klangkünstlerinnen und
Klangkünstler ein, in einem Weingarten in Falkenstein eine elektroakustische
Vogelabwehranlage zu bespielen. Es sollten Kompositionen entstehen, die
„sowohl höchsten ästhetischen Genuss als auch die reichste Ernte bescheren.“
Ein Projekt, welches nicht nur konzeptuell von großem Reiz ist. Mag es auf
den ersten Blick nur um die Abwehr von Vögeln gehen, so haben wir es auch
mit einem Eingriff in ein soziales Feld zu tun, in Wahrnehmungsgewohnheiten,
in das Verständnis von Landschaft wie deren Nutzung. Technologische
Neuerungen werden aufgegriffen, weitergedacht, und das nicht ohne Witz.
PERPETUUM MOBILE | AIRWAVES: ein Projekt, welches sich mit den vielen
Windkraftanlagen im Wiener Raum beschäftigt. alien productions setzte in der
niederösterreichischen Gemeinde Prellenkirchen einer Gruppe monströs aus
Maisfeldern ragenden Windrädern auf hohen Stangen montierte Haarföhne
gegenüber: „Malerisch aufgestellt am Ende der Kellergasse, genau in der
Achse der Hauptwindrichtung, entsteht der Eindruck, die Föhne würden die
Räder antreiben und diese wiederum die Föhne mit Energie versorgen. Eine
Computersteuerung betreibt ihre kleinen Motoren mit einer eigens für die
Installation komponierten Sequenz. Sie spielen ein rhythmisierendes Pattern,
das dem Wind antwortet, der über die Ebene streicht. Die mächtigen Windräder
und die winzigen Föhne ergeben das Bild einer absurden
closedcircuit-Installation: David, der Goliath antreibt.“
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alien productions (Breindl / Daniel Lercher / Math / Sodomka):
Perpetuum Mobile | Airwaves, Installation im öffentlichen Raum, 2011. Foto: © 2011 Sabine Maier |
Mit der Vernetzung ist auch Interdisziplinarität angesprochen, die manche
Projekte geradezu evozieren. Das gilt etwa für die von Gertrude Moser-Wagner
in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Sabine Maier wie dem Salzburger
Künstlerduo Horst Maria für die Regionale XII realisierte Arbeit NISTEN
ZIEHEN IRREN. Ausgangspunkt bildet die vom St. Lambrechter Benediktinerpater
Blasius Hanf im 19. Jahrhundert angelegte Vogelsammlung. Hanfs
Klassifikation nach „Brutvogel“, „Durchzügler“ oder „Irrgast“ wurde
aufgegriffen, allerdings in den Verben NISTEN ZIEHEN IRREN. Als
Leuchtschrift an Gebäudewänden in den öffentlichen Raum gesetzt, verwies das
biologische Konstrukt auf gesellschaftliche Phänomene. Die Region Murau
leidet an großen Strukturproblemen, was nicht zuletzt eine Abwanderung
zumeist junger Menschen zur Folge hat. Sabine Maier sprach mit
unterschiedlichen Personen aus St. Lambrecht über die Gründe für das
Weggehen oder die Ursachen, sich heimisch oder fremd zu fühlen. Die
Erzählungen ließen sich auf Bänken, die vor Häusern in St. Lambrecht
standen, anhören.
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Getrude Moser-Wagner, NISTEN ZIEHEN IRREN, Regionale XII.
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An dieser Stelle ist auch auf das vom Schweizer Künstler Peter Trachsel
initiierte „Museum in Bewegung“ zu verweisen: „14 Räume für die Kunst oder
Wenn es dunkel wird im Tal.“ Bespielt werden die vierzehn Orte des in
Graubünden gelegenen Prättigau. Statt der Präsentation abgeschlossener Werke
work in progress, Kunst in ihrem Entstehen, und dies stets in konkreter
Auseinandersetzung mit den Ortsbewohnern. Statt musealer Räume stets
konkrete Lebens- und Arbeitsräume, im eingangs erwähnten Beispiel etwa eine
Gemeindestube. Der Ausgang der hier realisierten Projekte ist zumeist offen.
Projekte müssen scheitern können, etwas, was Kulturabteilungen bis heute
noch nicht begriffen haben. Inzwischen wird das eine oder andere Projekt von
Dorfbewohnern selbst getragen. Das Museum in Bewegung findet heute, wenn
auch mit großer Verzögerung, jene Anerkennung, die es verdient. Peter
Trachsel organisierte letzthin ein Projekt mit dem Titel „Chur durchwühlen“.
18 KünstlerInnen waren eingeladen, den Stadtraum, den öffentlichen Raum zu
bespielen, zu erkunden. Dies geschah durchwegs interaktiv mit dem Publikum.
Peter Trachsel hat zwar sehr viele Organisations- und Koordinationsaufgaben
zu erledigen, als Veranstalter versteht er sich aber nicht. Es wird nicht
einfach eingekauft. Die eingeladenen Künstler und Künstlerinnen werden als
„Teilgeber“ verstanden. Das „Museum in Bewegung“ lebt von gegenseitigem
Geben und Nehmen, was manchmal auch schiefgehen kann.
alien productions realisieren ihre Projekte an sehr unterschiedlichen Orten.
Martin Breindls eingangs erwähntes Projekt „Ich male Ihr Problem“ ist nicht
an einen bestimmten Ort gebunden, schon gar nicht an den ländlichen Raum.
Dagegen sind manche Projekte untrennbar mit einem bestimmten Ort verknüpft.
Richard Frankenberger ist Initiator zahlreicher Kunstprojekte in der Gegend
des oststeirischen Ortes Pischelsdorf. Unter den vielen Eingriffen seien
hier nur der DOM und die als NOMADIN bezeichnete Stiege erwähnt. Bei beiden
Objekten haben wir es mit recycelter Architektur zu tun. Als in der
Landschaft abgestellte Fremdkörper rufen sie Widerrede hervor und stellen
Wahrnehmungsgewohnheiten in Frage. Beide Objekte sind am Ortseingang bestens
positioniert. In einem Maisacker. Der DOM wurde ursprünglich als Abdeckhaube
einer Radaranlage des österreichischen Bundesheeres genutzt, die davor
gesetzte Stiege, die ins Nichts führt, bestenfalls wie eine
Aussichtsplattform begangen werden kann, diente bis zum Abriss des
sogenannten „Lechnerhauses“ in Graz, an dessen Stelle das Kunsthaus
errichtet wurde, als Aufgang in das erste Stockwerk. Beide Objekte sind frei
zugänglich. Dem DOM mit seiner bemerkenswerten Akustik kommt die Funktion
eines Klangraumes zu. Aber um einen Veranstaltungsort handelt es sich nicht.
Wer immer will, kann ihn betreten. Der Verzicht auf ein
Veranstaltungsprogramm versteht sich als Einladung an die Bevölkerung, das
Bauwerk zu nutzen. Dass dieses Projekt funktioniert, macht nicht zuletzt
deutlich, dass es bislang, obwohl die Kuppel nicht absperrbar ist, keine
wirklichen Vandalismusschäden gab. Frankenbergers Arbeit in Pischelsdorf
kennt eine Vielzahl von Eingriffen. Diese reichen vom Durchspielen absurder
Behördenverfahren über die irritierende Bespielung von Schaufenstern
leerstehender Geschäfte bis hin zu Beilagen in Zeitschriften, die zwar im
Design dem jeweiligen Medium entsprechen, inhaltlich aber in einem großen
Widerspruch zu eben diesem Medium stehen können.
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NOMADIN und DOM (Rastplatz K.U.L.M., B54). Foto: Richard Frankenberger |
Die Gruppe AO&, Philipp Furtenbach, Philipp Riccabona, Thomas A. Wisser und
Rainer Fehlinger, führte im Rahmen des Walserherbstes 2012 drei Projekte
durch, die zeigten, dass es möglich ist, mit minimalsten Mitteln soziale
Prozesse in Gang zu setzen. Dies gilt gleichermaßen für die temporäre
Bespielung eines ehemaligen Dorfgasthauses, die Herstellung großer Mengen
von Butterschmalz oder den gemeinsam mit Martin Mackowitz entwickelten
Lutzschwefelbrunnen in Buchboden.
Das Butterschmalzprojekt war Teil ihrer „Principal Concerns Tour“, in deren
Rahmen unterschiedliche österreichische Orte aufgesucht werden, um von Hand
in mehrwöchiger Arbeit, manchmal gar im Schichtbetrieb, Grundstoffe in
großen Mengen herzustellen, die beim Kochen benötigt werden (Holzkohle,
Salz, Zucker, Brand, etc.). Wird auf milchverarbeitenden Almen des
Walsertales beste Sommerbutter aufgekauft (nur auf zwei der Almen war keine
Butter zu haben), um diese zu Butterschmalz zu verarbeiten, dann haben wir
es nicht nur mit Fett oder einem Verarbeitungsvorgang zu tun. Vielmehr
tauchen eine Vielzahl von Fragen auf, die beim unterschiedlichen Geschmack
beginnen und dort enden, wo manche einwerfen, es sei doch Unsinn aus
hochwertiger Butter ein minderwertiges Produkt herzustellen. All das
tangiert Kochtraditionen (Bergkäse gibt es erst, seit es Bauern möglich ist,
billigere Öle und Fette zu kaufen), die heutige Gastronomie, die sich nur zu
gern der Fritteuse bedient wie Sennereien, deren Sortiment im Gegensatz zu
allen Behauptungen nur sehr bedingt in der Tradition verhaftet ist. Und das
Erstaunliche an diesem wie anderen Projekten von AO&, die Fragen stellen
sich von selbst, nicht zuletzt jenen, die im Tal leben, freilich nur dann,
wenn mit ihnen interagiert wird.
Etwas ähnliches gilt auch für den Lutzschwefelbrunnen, bei dem es sich
genaugenommen um ein kleines Freiluftbad am Bachbett der Lutz unterhalb von
Buchboden handelt, einem Ort, den man gemeinhin nicht als schön betrachtet.
Keine Aussicht, keine liebliche oder beeindruckende Landschaft. Früher
nannte man einen solchen Ort ein „Loch“. Wohl nicht zufällig dachten manche
im Tal reflexartig an Humusaufschüttung und gartenähnliche Bepflanzung. Mit
dem Bad an der Lutz wurden Sehgewohnheiten radikal in Frage, öffentlicher
Raum zur Diskussion gestellt. Das Projekt werden andere weitertragen müssen,
Menschen, die sich dafür interessieren und vor Ort leben.
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„Lutzschwefelbrunnen“, 2012. Foto: Martin Mackowitz |
AO& bewegen sich in ihren Projekten oft genug entlang von Bruchlinien und
machen dabei manche Gratwanderung. Ihre Projekte erfüllen jene Kriterien,
die gute Kulturprojekte im ländlichen Raum ausmachen: sie sind konkret,
prozessorientiert, Konflikte werden nicht von vornherein als negativ
betrachtet. Sie greifen auf, ohne sich einem mehrheitsfähigem Geschmack
anzudienen. Nicht zuletzt sind diese Projekte von einer hohen sinnlichen
Qualität. Die Gruppe betreibt ihre Projekte nicht ohne Witz und Humor, aber
dennoch mit einer großartigen Ernsthaftigkeit. Sie sind konzeptionell
stimmig, bestens durchdacht, oft verbunden mit aufwendigen architektonischen
Eingriffen, mühevoller Arbeit, keinesfalls beliebig. Man kann sich ihre
Arbeit als Forschungstätigkeit denken, die sich von üblicher Forschung nur
dadurch unterscheidet, dass es nicht um die Verifizierung von formulierten
Hypothesen geht, sondern um Interventionen in komplexen Feldern, die eben
keine Fragestellungen zulassen, die sich mit + oder – beantworten ließen.
Was ihre Projekte betrifft, fallen mir zahllose Bezüge ein, etwa Arbeiten
von Lucius Burckhardt, des Begründers der Spaziergangswissenschaft; oder
auch die Krisenexperimente des Ethnomethodologen Harold Garfinkel. Auf
solche Vordenker beziehen sich AO& freilich nicht. Sie erfinden die Welt
neu, und zwar auf sehr erfrischende Weise.
Nicht zufällig drehen sich viele ihrer Projekte um das Essen. Während des
Walserherbstes 2010 zog die Gruppe im Rahmen des Projekts „Studien zur
Gastfreundschaft“ fünf Wochen mit Handwägen durch das Tal und verwandelte
Privathäuser in Gasthäuser. Aus dokumentarischen Gründen sei hier ein
Ausschnitt eines Gespräches, welches ich mit Philipp Furtenbach geführt
habe, wörtlich zitiert: „Was die Wägen anlangt, das war interessant, weil
wir tatsächlich in private, total intime Räume gekommen sind. Sicherlich
über die Hälfte dieser Stationen wurden die Leute von uns angesprochen. Wir
haben geläutet und sie dann fast nötigend dazu gebracht, das zuzulassen. Auf
eine freundliche Art, aber schon Druck ausgeübt. Das haben wir auch als
unsere Performance gesehen, dass wir es schaffen, in solche Räume
hineinzukommen. [...] Und dann ist es schon toll, wenn man bereits zwanzig
Minuten später in einer völlig privaten Küche steht und einen Schrank
aufmacht, den Topf können wir brauchen und das, und meistens waren es Frauen
… Und dass uns dann Frauen nach einer halben Stunde gefragt haben, darf ich
einmal kurz in die Küche hineinkommen, das hat die Situation völlig
umgedreht. Und schön war, dass wir eben
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AO&, „Studien zur Gastfreundschaft“, Walserherbst 2010. Foto: AO& |
auch herumgegangen sind zu den Nachbarn und die eingeladen und ihnen klar
gemacht haben, dass das jetzt eine Chance ist, zusammenzukommen. Was ja nie
passiert. Wir haben auch immer gefragt, wer wohnt da und so, und immer so
fiese Fragen wie: Wie verstehen die sich? Wir haben uns für das
Beziehungsgefüge interessiert. Das hat gut funktioniert. Da sind Menschen
zusammengekommen. Wir haben auch oft gefragt, wo es komische Käuze oder
einsame Menschen gibt. Die haben uns besonders interessiert. Wir haben es
geschafft, auch solche zu integrieren. Das waren so Abende, wo wir drei vier
Stunden zusammengesessen sind, zum Teil wirklich rührende Situationen, weil
du einfach merkst, viele kennen sich nur vom Grüßen. Und das hat sich super
angefühlt, dass wir in jedes Dorf … Wir haben viele Leute gekannt, aber wir
haben uns interessiert wie das Dorf aufgebaut ist, wer welche Rollen
übernimmt. Da haben wir voll reingefuhrwerkt, weil das großen Spaß macht.
Dabei hatten wir ein sehr minimales Setup, einfach vier Handwägen, da haben
wir bewusst, nicht einfach Handwägen und irgendwelches Zeug drauf, sondern
all das sehr ästhetisch arrangiert, auch aus dem Grund, mit dem schwarzen
Gepäck beispielsweise, dass unser Auftreten etwas Vagabundenhaftes hat, aber
von der Erscheinung her überhaupt nicht. Dass alles gehörig ist, ordentlich
ist, dass alles sauber, proper ausschaut. Das war in diesem Kontext enorm
wichtig, war doch der erste Eindruck eher provozierend, was die
Assoziationen betrifft, aber dieses Saubere hat gleichzeitig ein gewisses
Vertrauen geschaffen. Es wäre vollkommen anders, hätte man das Zeug im
Kofferraum eines Autos, würde man nur die Serpentinen hinauffahren, den
Kofferraum aufmachen und sagen: Wir kochen heute bei ihnen. Da hätte man
keine Chance. Kommt man dagegen schwitzend, so ist man gleich einmal auf
derselben Augenhöhe, du leidest ja wie sie. Gemeinsames Leid verbindet. Die
Annäherung ist ganz entscheidend. Das sind psychologische Gesetze. Nach fünf
Tagen war klar, dass das funktioniert. Wir wollten einfach Gutes tun, ganz
blöd gesagt.“
Bei den hier genannten Projekten handelt es sich um Initiativen von unten.
Inzwischen finden sich auch Beispiele, in denen anspruchsvolle Kunstprojekte
im ländlichen Raum von oben initiiert werden, dies im Wissen, dass sich gute
Kunstprojekte lohnen. Dies gilt insbesondere für strukturschwache Regionen.
Als Beispiel sein das von der „Deutschen Stiftung Kulturlandschaft“
finanzierte Projekt „Kunst fürs Dorf – Dörfer für die Kunst“ genannt, deren
Ziel es ist, eine ökonomisch tragfähige nachhaltige Nutzung und Entwicklung
der Kulturlandschaft, um die Existenzgrundlage ihrer Bewohner auch in
Zukunft zu sichern. 2013 haben sich bei einer bundesweiten Ausschreibung 101
Dörfer und 146 KünstlerInnen aus dem ganzen Bundesgebiet um die Teilnahme
beworben. Eine Fachjury wählt aus den eingereichten Projekten eine bestimmte
Anzahl aus. Von den unterstützten Gemeinden wird nicht zuletzt ein hohes
Eigenengangement erwartet wie auch die Bereitschaft, sich in der
Auseinandersetzung mit den jeweiligen KünstlerInnen auf einen Prozess
einzulassen, geht es soch um die Durchführung gemeinschaftsorientierter wie
konkret ortsbezogener Kunstprojekte. Auf eine ergebnisoffene,
prozessorientierte Herangehensweise wird besonderen Wert gelegt.
Seit Jahren beschäftigt sich „FLUSS. NÖ Initiative für Foto- und
Medienkunst“ (kuratiert von alien productions) mit internationalen
Projekten, die sich abseits der sogenannten „volkstümlichen Kultur“ und doch
in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität des „Regionalen“
im ländlichen Raum positionieren. Das ist bemerkenswert, wird doch versucht,
sich ganz allgemeinen Fragen zu stellen: Was verstehen wir unter dem
ländlichen Raum? Wo hört eine Stadt auf? Wo beginnt der ländliche Raum, wie
hat sich dieser durch Mobilität oder Kommunikationstechnologien verändert?
Welche Anforderungen sind an Kunstprojekte im ländlichen Raum zu stellen?
Welche Projekte machen Sinn, welche nicht? Wie lassen sich potenzielle
Auftraggeber von solchen Projekten überzeugen? All die damit verbundenen
Diskussionen sind längst überfällig. Neben einem unmittelbaren
Erfahrungsaustausch geht es um Methodik, also um die Voraussetzung dafür,
solche Projekte über kreative Einfälle oder gute Ideen hinauszuheben.
In Kultur- und Kunstprojekten läge, was Regionalentwicklung betrifft, und
das zeigen die Projekte von AO& wie andere sehr gut, ein großes Potenzial.
Von Kunst, die dem Geschmack der Menschen entgegenkommt, die man sich an
Wände hängen oder im Vorgarten zur Behübschung aufstellen kann, ist wenig zu
erwarten. Wohl aber von Kunst, die auf Eingriffe und Prozesse setzt, die
aktives Tun statt passiven Konsum betont, die sich nicht vor Konflikten
scheut, mehr noch, die Konflikte als Motor aller Veränderung sieht. Man muss
Themen aufgreifen, die in der Luft liegen und Menschen bewegen. Das gilt
heute etwa für das Alter, für den Umgang mit Alzheimerkranken, für den
Umgang mit Sterben und Tod, es gilt für die Technisierung des Alltags, für
die zunehmende Schere zwischen reich und arm, das gilt für denkbare
Entwicklungen im regionalen Raum. Inzwischen wissen wir, dass ökonomische
oder ökologische Krisen, die ihren Ausgang in ganz anderen Teilen der Welt
nehmen, auch Gegenden erreichen und zutiefst erschüttern können, die damit
nichts zu tun haben. Kunst muss forschen wie dies heute junge Künstler wie
die Gruppe AO& machen. Man muss sich auf Experimente mit ungewissem Ausgang
einlassen.
Bernhard Kathan, 2013
Veranstaltungshinweis:
STRATEGIEN IM LÄNDLICHEN RAUM: KUNSTPROJEKTE
Bernhard Kathan diskutiert mit Martin Breindl (alien productions), Richard
Frankenberger (K.U.L.M.), Philipp Furtenbach (AO&) und Gertrude Moser-Wagner
über innovative Projekte im ländlichen Raum.
Freitag, 15. November 2013, 20 Uhr
Bäckerei - Kulturbackstube, Dreiheiligenstraße 21a, Innsbruck