Marina Abramovic. Hirsche
|
Letzthin setzte ich mich, es war etwa zehn Uhr abends, abseits von Häusern
und Straßen am Fuß eines Abhangs auf einen Hocker. Ich wusste, dass über
kurz über lang ein Hirschrudel den Abhang herunterpoltern musste, um dann in
meinem Rücken einen Graben zu queren und talwärts zu laufen. In dieser
Gegend bin ich mit den Bewegungen der Hirsche vertraut. Ich sehe und höre
sie oft genug, weiß ihre Trittspuren zu deuten, weiß, wohin sie streben,
während des Septembers hin zu Obstbäumen, unter denen Fallobst liegt. Da an
diesem Abend die Gegend menschenleer, nicht ein einziges Auto zu hören war,
standen die Chancen gut. Die Stelle war gut gewählt, verhinderte doch ein
langer Zaun ein seitliches Ausweichen. Die Windrichtung günstig. Kalte
Bergluft strömte nach unten. Um mir die Zeit zu vertreiben, gab ich mich den
Geräuschen der Umgebung hin. Um diese Zeit sind viele Tiere zu hören. Da der
Ruf eines Käuzchens, dort eine Waldohreule, die auf den Ruf einer anderen
antwortet, äsende Rehe, Dachse, die sich durch das Gras bewegen. Kuhglocken.
Marina Abramovic gilt als bedeutendste Performance-Künstlerin. Bekannt wurde
sie durch Aktionen, in denen sie buchstäblich an Grenzen ging. Nun hat sie
das Nichts, die Stille entdeckt. 512 Stunden saß sie in der mitten im Hyde
Park gelegenen Serpentine Gallery. Drei Monate lang trat sie jeden Morgen um
zehn Uhr vor die Tür, um jeden Besucher einzeln zu begrüßen. In ihren Augen
eine Geste der Demut. Hanno Rauterberg: "Abramovic ist gelungen, was nur
selten gelingt, in ihrer Kunst hat die Gegenwart zu sich selbst gefunden. In
ihr gewann die Sehnsucht nach Berührung, nach innerer Einkehr einen Raum.
Und wenn die Soziologen von einem neuen, einem postmateriellen Zeitalter
sprechen, dann zeigt sich dieser Postmaterialismus wohl nirgendwo klarer als
hier bei Abramovic. Ihre Kunst verheißt, was sich für Geld nicht kaufen
lässt: Besinnung auf das eigene Ich."
Das scheint mir eine sehr laute Stille zu sein, ein geradezu dröhnendes
Nichts. Man muss sich neben ihren acht Helfern und Helferinnen all die
Menschen auf der Hinterbühne vorstellen, die vor-, zu- und nacharbeiten.
Wäre Abramovic eine unbekannte Künstlerin, träte sie in einer unbedeutenden
Galerie auf, nur wenige kämen, vielleicht kein einziger Mensch, um die
Stille, das Nichts, die Leere zu erfahren. Ihr Erfolg wäre undenkbar ohne
ihr ausgesprochenes Gefühl für Medienpräsenz. Sie beherrscht die Regeln der
Werbeästhetik. Mühelos kann sie sich mit einer Marke wie Coca Cola
vergleichen. Man stelle sich einige ihrer Arbeiten vor, nur als
Selbstexperiment durchgeführt.
In dunkler Nacht auf meinem Hocker sitzend, dachte ich an Aktäon, der, in
einen Hirsch verwandelt, von seinen eigenen Hunden zerfleischt wird, an eine
Erzählung von Maurice Renard, in der Aktäon in Hirschgestalt zahllose
Verwandlungen erfährt, durch die Geschichte bis in unsere Gegenwart gejagt
wird. Ich dachte auch an ein Gedicht des ungarischen Lyrikers Ferenc Juhász,
in dem eine Mutter ihren in einen Hirsch verwandelten Sohn ruft und dieser
antwortet. Vor vielen Jahren habe ich dieses Gedicht immer wieder
vorgelesen. Einzelne Passagen konnte ich immer noch auswendig aufsagen, nur
dass nun niemand da war, der mir zugehört hätte:
"ich rufe dich, deine halb erblindete lampe / komm zurück, mein liebster
sohn, zu mir, die aneckt überall, / sieh die schrammen unter meinen augen,
die beulen an meiner stirn, / verfärbt ist die haut meiner schenkel und
meiner beine, / die dinge, wütende widder, spießen mich auf / mit ihren
hörnern verwunden mich pfahl, stuhl und zaun ... unsicherer als der gang der
hirschkuh sind meine schritte, / an meinen waden wuchern ödemranken, /
knotige lila vegetation befällt meine schenkel, aus meinen zehen wachsen
knorpelgebäude, die finger sind steif geworden, ihr fleisch wie muscheln, /
schnecken, schuppen, schiefer, altes mineral, / meine äste sind krank und
wollen abschied nehmen .... komm zurück, mein liebster sohn, o komm zurück,
/ gib den dingen eine neue bestimmung, / lehr die gegenstände disziplin,
zähme das messer, / der ungehorsame kamm soll endlich sich zeigen ..."
Die Besucher der Serpentine Gallery hatten Handys, Kameras abzugeben. Nichts
sollte an den Alltag, an Stress erinnern: "Viele Besucher kommen immer
wieder, sie haben sich eingestimmt, schließen von ganz allein die Augen,
lassen die Arme hängen, stehen reglos mitten im Raum oder schauen die weißen
Wände an, minutenlang. Manchmal hebt einer die Arme, manchmal wippt jemand
hin und her, manchmal kommt die Künstlerin und nimmt einen an der Hand, und
dann steht man gemeinsam dort und hält, ja was? Andacht?" Die Wände der
Räume waren kahl, leer. Es gab nichts zu betrachten. Nichts? Im Gegenteil.
Marina Abramovic. Durch die Leere wurde sie zum eigentlichen Exponat. In
vollgefüllten Museumsräumen hätte sich ihre Wirkung so nicht entfaltet. Eine
Inszenierung, die des Publikums bedurfte. Auch das Wegsperren von Handys und
Kameras macht Sinn, geht es doch weniger um mögliche Ablenkungen, als um
Vermarktung. Es finden sich auffallend viele Aufnahmen, die Marina Abramovic
in der Serpentine Gallery zeigen. Immer bestens gekleidet. Bestes Theater
der Innerlichkeit. Es habe keinen Script gegeben. Mochte auch manches
unkalkulierbar gewesen sein, das Projekt war genauestens geplant.
"... und der sohn rief zurück, / streckte den losheulenden hals, / der sohn
rief zurück, / brüllte mit hirschstimme: / mutter, meine liebste mutter, /
ich kann nicht zurückkommen, / mutter, meine liebste mutter, / locke mich
nicht, / ich kann nicht zurückkommen. / ging ich zurück, / es wäre dein tod
... gib mir keinen geflochtenen kuchen, / keine süße ziegenmilch im glas, /
mach nicht das bett weich, / verwüste nicht mit deinen fingern die brust der
gänse, / schütt den wein aus, gieß ihn aufs grab deines vaters, / zwiebeln
steck in die kränze, / schaumige fladen backe den kindern. / in meinem mund
säuerte die milch zu essig, / der kuchen würde sich in eine schildkröte
verwandeln, / dein wein in meinem glas in blut ... mein gespreiztes geweih
paßt nicht in dein haus ... mein friedhofsgeweih nicht in deinen hof, / mein
belaubtes geweih ist ein donnernder baum, / sterne seine blätter, die
spiralnebel sein moos, / nur duftende gräser schmecken mir noch ..."
Die Besucher der Serpentine Gallery bewegten sich entrückt, trugen dicke
Kopfhörer, die jedes Geräusch verschlucken sollten, manchmal auch
Augenbinden, um nichts zu sehen. Bedeute doch Kunst sehen, nichts mehr zu
sehen. In Nebenräumen standen einige Feldbetten. Um den Alltag hinter sich
zu lassen, ließ die Künstlerin Besucher sinnlose Aufgaben verrichten. Erbsen
zählen, Reis und Linsen sortieren. Das Motiv findet sich in vielen Märchen.
Langes Stehen, gedehntes Gehen, von Wand zu Wand zu Wand schreiten: "Wie im
Traum, lauter Menschen, die aus der Zeit zu rutschen scheinen. Nichts zu
erreichen, nichts zu tun, das ist draußen, im wahren Leben nicht vorgesehen.
Hier drinnen wird es zum tieferen Sinn, und viele, die kommen, fühlen sich
wundersam entlastet." Nicht länger hätten sich die Blicke der Besucher auf
die Künstlerin gerichtet. Ohne auratische Aufladung - Abramovic als
Priesterkönigin, die selbst Tumore zum Verschwinden bringt -, die Besucher
hätten sich wohl anders verhalten. Sie betraten bereits zugerichtet die
Räume der Serpentine Gallery. Nicht Abramovic übte sich in Demut, in Demut
übten sich Menschen, die in der Warteschlange standen, manchmal sehr lange
darauf wartend, eingelassen zu werden. Wir kennen das alles aus der Medizin.
Unter so zugerichteten Menschen finden sich nur selten Störenfriede. Nicht
die behauptete Innerlichkeit, die geschaffenen Verhaltensdispositionen, die
verordnete Unterwürfigkeit scheint mir bemerkenswert. Feldbetten, monotone,
sinnlose Bewegungen, das kennen wir aus psychiatrischen Anstalten,
Gefängnissen oder ähnlichen Einrichtungen. Paula Schlier beschreibt in einer
ihrer Erzählungen Erfahrungen, die sie während des Ersten Weltkrieges in
einem Kriegslazarett gemacht hatte. Auch da waren die Kranken zu sinnlosem
Tun, zu sinnlosen Bewegungen angehalten. Während jene, die das
Kriegslazarett verlassen konnten, wieder an die Front, oft genug in den Tod
geschickt wurden, kehrten die Besucher in ihren Alltag zurück, den
abzustreifen sie hofften. Die Kriegsversehrten in Schliers Erzählung kennen
noch so etwas wie ein Aufbegehren, Zorn, Widerstand. Das verleiht ihnen
Würde. Bei den Besuchern der Serpentine Gallery haben wir es dagegen mit
Konsumenten zu tun. Keiner kam auf die Idee, in den Reishaufen zu schlagen
statt die Körner auszuzählen. Niemand schrie. Niemand habe gestampft.
"... erwähne nicht meine junge geliebte, meine freunde / gleiten an mir
vorbei, kalt wie der fisch: der feldmohnhalsige maler, / wer weiß, wo er
ist, meine liebste mutter, wer weiß, wo jene tage geblieben sind? / mutter,
meine liebste mutter, erwähne nicht meinen vater, aus seinem fleisch ist
kummer, / kummer erblüht, erwähne nicht meinen vater, / sonst steht er auf
aus dem grab, sammelt ein seine knochen, / bricht hervor aus der grube und
seine nägel, seine haare beginnen wieder zu wachsen."
Auf einer der Aufnahmen ist Abramovic zu sehen, die Hände so an ihren Kopf
gelegt, als wüchse ihr ein Hirschgeweih. Was wäre geschehen, hätte einer,
vor ihr stehend, das Gedicht von Ferenc Juhász rezitiert, meinetwegen mit
geschlossenen Augen, meinetwegen von Wand zu Wand zu Wand schreitend?
"... ich kann nicht zurück, / meine hundert wunden kochen über von purem
gold, / täglich sink ich nieder, von hundert kugeln getroffen, / täglich
erheb ich mich, hundertmal stärker, / täglich sterbe ich dreimilliardenmal,
/ täglich werd ich geboren, dreimilliardenmal, / jede meiner geweihspitzen
ist ein zweibeiniger eisenmast, / jeder meiner geweihzweige ist eine
hochspannungsleitung, / meine augen sind häfen für große handelsschiffe,
meine adern dunkle kabel, / meine zähne eisenbrücken, in meinem herzen
schäumen die meere, / meine wirbel sind geschäftige metropolen, meine milz
ist eine rauchende steinbarke, / meine gewebezellen sind fabriken, mein
rückenmark die milchstraße, / jeder punkt des raums ist ein teil meines
leibs, die dolde der galaxis eine ahnung meines gehirns."
Ich saß da. Mir schwirrten Hirschbilder durch den Kopf. Bilder aus der
Kunstgeschichte. Tizians Aktäon etwa. Kindheitserinnerungen. Vor meinen
Augen sah ich einen Hirsch, einen ausgeweideten Hirsch, in kalter Nacht, auf
dem Heu vor den Schopplöchern hingestreckt. Aus den Schopplöchern war das
Wiederkäuen der Kühe zu hören. Aus den Schopplöchern dampfte ihr Atmen. Eine
andere Erinnerung. Es muss im August gewesen sein, in den Wochen, in denen
das Heu der Magerwiesen eingebracht wurde. Wir Kinder blieben allein zurück,
wohl um das letzte Heu noch in den Heustall zu gabeln, zusammenzurechen,
Arbeitsgeräte und Essgeschirr zusammenzupacken und mit nach Hause zu nehmen.
Hatten wir getrödelt oder hatten wir gestritten, wer was zu tragen habe? Auf
jeden Fall wurden wir vom Einbruch der Dunkelheit überrascht. Der Weg durch
den Wald war nicht ungefährlich. Manche Stellen fielen steil ab in einen
Bach, in eine Schlucht. Kinder erleben das nächtliche Gehen im Wald wohl
allgemein als bedrohlich. Sie wissen die Geräusche, von denen sie umgeben
sind, noch nicht zu deuten. An einer Stelle öffnete sich der Wald zu einer
steil ansteigenden Wiese. Oben war ein Lastwagen zu hören. Kurz rissen die
Lichtkegel der Scheinwerfer Baumgruppen und Geländeformationen aus der
Dunkelheit. Bereits wenige Augenblicke später war kein Licht mehr zu sehen.
Plötzlich lautes Gepolter. Hirsche, durch den Lastwagen aufgeschreckt,
trabten auf uns zu, jagten links und rechts, wohl auch zwischen uns
hindurch, um dann im tieferliegenden Wald zu verschwinden. An dieser Stelle
des Weges befindet sich heute ein Hochsitz. Das Bewegungsmuster der Hirsche
scheint sich in all den Jahrzehnten nicht sehr geändert zu haben.
"... nur zu sterben geh ich, zu sterben geh ich dorthin zurück, / zu sterben
geh ich, / zu sterben geh ich, liebste mutter: / du kannst mich aufbahren in
jenem haus / und meinen körper waschen / und mir die lider schließen in
liebe. / wenn mein fleisch verwest, / mein leib in gestank und zu torf
zergeht, / dann bin ich aufs neue dein eignes geschöpf, / aufs neue dein
sohn ..."
Im Nussbaum am Hang, der sich nur als Schatten vor dem Hintergrund abhob,
meinte ich einen Augenblick lang das Gesicht der Abramovic zu sehen, eine
Theatermaske, ein Maschinengesicht, mochte dieses Gesicht auch viel gesehen
und erfahren haben. Wohl nicht zufällig fiel mir in diesem Augenblick Regina
Ullmanns Erzählung "Von einem alten Wirtshausschild" ein, in der sich ein
Bauernbursch in ein geistig behindertes Mädchen, eine Blödsinnige verliebt,
die ihm als "wunderbare Paradiesblume" erscheint. Die Akteure dieser
Geschichte, alles andere als Schauspieler. Obwohl das blödsinnige Mädchen
nicht das Geringste von seiner Umwelt wahrzunehmen scheint, wird es von den
Tieren geliebt: "Wenn das Kind aus einer Brunnenröhre trank, so kam das Tier
gerne auch heran, um seinen Durst mit ihm zugleich zu löschen. Und oft lag
das Mädchen zwischen zwei Pferden, die sich vor Lebensfreude in den Blumen
wälzten. Andere Male legte eines, von rückwärts kommend, seine Stirn an
ihren Rücken, als schöbe es sie den Berg hinauf, und wieder ein anderes Mal
sogar legte eines nachdenklich das Maul auf das Haupt des Mädchens, als es
einmal mit aufgelöstem Haar verloren vor sich hinsah." Der Bursche begehrt
das Mädchen, aber allein der Gedanke, so als hätte er die Todsünde, die böse
Tat bereits begangen, lässt ihn schaudern. Um sein Begehren zu ersticken,
denkt er erst ans Weggehen, dann an eine Heirat. Er wandert ins nächste
Dorf, um dort um die Hand einer Weberstochter anzuhalten. In einer
mondklaren Nacht macht er sich wieder auf den Heimweg. Hatte er nicht etwas
gewollt? Schon drängt sich das Mädchen wieder in seine Gedanken. Jetzt will
er der schönen Blödsinnigen begegnen. Warum sie nicht rauben, warum sie sich
nicht einfach nehmen, ist sie doch nur ein Tier: "Ein Hirsch röhrte. Er
verstand ihn wohl." Aber kaum ist der Bursch über den Bach gesprungen, um
dorthin zu gelangen, wo er das Mädchen wähnt, tritt ihm aus der Dunkelheit
des Waldes ein Hirsch entgegen, greift ihn an, springt über ihn hin, springt
über ihn her, wirft ihn nieder. An das Mädchen denkt er nicht mehr. Aber
gerade dorthin will er sich retten, während der Hirsch wieder und wieder
über ihn springt, ihm immer näher kommt. Schon sind es mehrere Hirsche, die
an ihm ihre Brunstwut auszulassen scheinen und ihn zu Tode trampeln. Einer
der Hirsche trägt den Leblosen auf seinem Geweih mit sich fort. Ihm jagen
die anderen die Beute ab, um sie selbst mit sich fortzutragen.
Regina Ullmann, in eine Unternehmersfamilie geboren, die im vorarlbergischen
Hohenems heimatberechtigt war, von Rilke gefördert, von Otto Gross
geschwängert, dann mit dem Kind allein gelassen, in die Emigration
gezwungen, mit Robert Musil, Thomas Mann und anderen Schriftstellern
bekannt, hatte ein schweres Leben. Schauspielerin war sie nicht. Mit
geschlossenen Augen auf meinem Hocker sitzend, mir das blödsinnige Mädchen
vorstellend, den Leichnam des Burschen, den die Hirsche auf ihren Geweihen
wie eine Beute forttragen, fiel mir der Unterwäschekönig ein, der Pächter
der hiesigen Jagd. Ich bin kein Gegner der Jagd, im Gegenteil. Die Jagd,
wird sie mit einer gewissen Sorgfalt betrieben, scheint mir noch die beste
Nutztierhaltung.
Was das Paarungsverhalten betrifft, investieren Hirsche sehr viel Energie.
Man stelle sich einmal die Mengen an Gräsern, Flechten, Blättern und Zweigen
vor, die erforderlich sind, um in kurzer Zeit ein mächtiges Geweih zu
bilden, eine so dichte Masse, dass sich daraus Knöpfe herstellen lassen,
einen Aufputz, der nicht nur dem Imponiergehabe, sondern auch Rangkämpfen
dient, die ausgetragen werden. Hirsche müssen sehr viel fressen. Konsumenten
sind sie nicht. Der Unterwäschekönig lebt von Frauen, die meinen, durch den
Kauf von Markenunterwäsche ihren Reizwert zu erhöhen. Ein diesbezügliches
Engagement ist Hirschkühen fremd. Sein Unternehmen verdankt seinen Erfolg
weniger den Produkten als einer klugen Werbestrategie, über die schon viele
Texte geschrieben worden sind. Da wären wir wieder bei Marina Abramovic.
Könnte sie die Rolle einer Unterwäschekönigin spielen? Auf Hirschjagd gehen?
Erstaunlicherweise hat sie sich nie in ein Raubtiergehege gesetzt, allein,
nachts. Sie braucht das Publikum wie der Unterwäschekönig seine Kundinnen.
Ich musste lange warten. Ich dachte an den im vergangenen Jahr erlegten
Kapitalhirsch, auch daran, dass der eine oder andere nicht mehr lange
freudig springen wird. Inzwischen war es stockdunkel geworden. Trotz meiner
dicken Jacke war mir kalt. Nahm mir vor, noch eine Viertelstunde
auszuharren. Gerade als ich aufgeben wollte, hörte ich, wie sich das
bekannte Poltern auf dem Hang auf mich zubewegte. Es hat mir in den letzten
Jahren immer gefallen, Hirschen zuzuhören, die einen Abhang abwärts laufen.
Trotz ihres Gewichts schienen mir ihre Bewegungen stets erstaunlich
leichtfüßig. Das Rudel trabte auf mich zu. Wirklich ausweichen konnten die
Tiere nicht. Das verbot zum einen der Zaun linkerseits, ein schräg über den
Hang laufender Elektrozaun rechterseits. Es dauerte nur wenige Augenblicke.
Ich hörte die Tiere links und rechts neben mir vorbeijagen. Einige kamen mir
dabei ziemlich nahe. Das Rudel hatte sich gleichsam wie in einem
Reißverschlusssystem geteilt. Mit einer gewissen Verzögerung folgte das eine
oder andere Tier. Ich hörte nur, sah nichts. Schatten sollte man nicht
deuten. Ob mich die Hirsche überhaupt wahrgenommen hatten? Vielleicht sahen
sie in mir nur einen etwas seltsam geformten Baumstumpf. Ich wurde nicht
aufgespießt. Kein Hirsch trug meinen Körper auf seinem Geweih mit sich fort.
Bernhard Kathan, Herbst 2014