Waffenlieferungen? Aischylos lesen, aufführen!




Not tut tiefgründges Denken uns, das Rettung sucht;
In Tauchers Weise muss man in die Tiefe gehen,
Das Auge klaren Blickes, nicht vom Wein getrübt,
Dass ohne Schaden dies zunächst für unsre Stadt
Und für uns selber auch zu gutem Ende kommt,
Dass weder Streiten sich an eure Rettung schließt,
Noch dass wir, euch Schutzflehende an der Götter Sitz
Preisgebend, uns den Gott, den allvernichtenden,
Zum grimmigen Hausfreund nehmen, ihn, den Rachegeist.
Der selbst im Hades niemals frei den Toten gibt.
Scheint da nicht not ein Denken uns, das Rettung sucht?
Aischylos, Die Schutzflehenden

Wer wünschte sich heute nicht Behutsamkeit, Exitstrategien, Diplomatie, Deeskalation, eine Friedensinitiative, einen Waffenstillstand, Verhandlungen, die zu einer tragfähigen Einigung führen? Aber wie sollten Verhandlungen mit Leuten wie Putin, Peskow, Lawrow, Medwedew, Schoigu oder wie sie alle heißen, möglich sein, mit einer Männerriege, der jeder Perspektivenwechsel fremd ist, die sich stets unverstanden fühlt, selbst aber nichts verstehen will. Wie sollte man mit einem Menschen wie Putin, der stolz ist, konnte er durch dreiste Lügen andere übers Ohr hauen, ernsthaft verhandeln können? Mit jemand, der sich an keine Verträge hält, mit jemand, der Menschenrechtsorganisationen verbieten und verfolgen lässt und stattdessen einen Menschenrechtsrat einsetzt, dessen Mitglieder er jederzeit entlassen kann? Wie sollte man mit Leuten verhandeln können, die eine wahnwitzige Rüstungsspirale in Gang gesetzt haben und nach wie vor mit Hyperschallraketen und dergleichen drohen, sich nicht einmal scheuen, den Einsatz taktischer Atomwaffen in Betracht zu ziehen? Mit Leuten, die nicht müde werden, weitere Eskalationsstufen zu beklagen, allerdings ohne auch nur mit einem Wort zu erwähnen, was der Entscheidung zur Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine vorausging, nämlich die seit Monaten anhaltende und systematische Zerstörung der Infrastruktur der Ukraine, deren Opfer vor allem Frauen und Kinder, nicht zuletzt alte Menschen sind, die das Land nur schwer verlassen können. Neben zahllosen Wohnobjekten sind inzwischen aberhunderte Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Theater, Museen oder auch Kirchen zerstört oder beschädigt worden. Wie sollte man mit Leuten verhandeln können, die "Tisch" sagen, aber "Stuhl" meinen, mit Aggressoren, die sich in ihren Sprachverdrehungen als Angegriffene bzw. Opfer gebärden? Mit Leuten, die nicht müde werden, dem Westen "Russophobie" vorzuwerfen, ständig aber mit Drohungen operieren, dass man sich wirklich fürchten muss.

Jenen, die die Lieferung von Waffen ablehnen und eine Verhandlungslösung fordern, fällt wenig ein wie denn eine solche Lösung aussehen könnte, sieht man einmal davon ab, dass nach stereotypen Floskeln, in denen der russische Angriffskrieg halbherzig verurteilt wird, die Ukraine zu einer Verhandlungslösung gedrängt werden müsse. Man muss sich fragen, was geschehen wird oder geschehen könnte, würde die Ukraine nicht länger mit Waffen unterstützt. Das Blutvergießen nähme kein baldiges Ende. Eine Vorstellung davon gibt ein von RIA Novosti im April 2022 veröffentlichter Text des "Philosophen und Methodologen" Timofej Sergejzew, dessen Überlegungen in den sogenannten "befreiten" Gebieten inzwischen umgesetzt werden, was die 25 (!) "Strafkolonien", die nun dort laut russischen Regierungsangaben eingerichtet werden, nur zu gut belegen; "Filtrationslager" gibt es schon länger, aber jetzt braucht es auch noch "Strafkolonien". Dass es, sollte es "den Russen" gelingen, die gesamte Ukraine zu "befreien", in der Ukraine sehr viele Filtrationslager und Strafkolonien geben wird, kann man sich denken, wobei laut Doktrin ohnehin nur jene interniert und umerzogen werden sollen, die sich umerziehen lassen, denn wirkliche "Bandera-Spitzenkräfte", so Sergejzew, "müssen beseitigt werden, ist [es doch] unmöglich, sie umzuerziehen. Der gesellschaftliche `Sumpf', der sie aktiv und passiv durch Handeln und Nichthandeln unterstützt hat, muss die Härten des Krieges durchleben und diese Erfahrung als historische Lektion und Sühne für seine Schuld verarbeiten. Diejenigen, die das Naziregime [also die ukrainische Regierung] nicht unterstützt haben, die unter ihm und dem Krieg, den es im Donbass entfesselt hat, gelitten haben, müssen konsolidiert und organisiert werden; sie müssen zur Stütze der neuen Regierung werden, sowohl vertikal als auch horizontal. Die historische Erfahrung zeigt, dass die Tragödien und Dramen der Kriegszeit den Völkern von Nutzen sind, die sich zur Rolle des russischen Feindes verführen und mitreißen lassen. Die Entnazifizierung als Ziel der speziellen Militäroperation selbst wird als militärischer Sieg über das Kiewer Regime, die Befreiung von Gebieten bewaffneter Anhänger der Nazifizierung, die Beseitigung unversöhnlicher Nazis, die Ergreifung von Kriegsverbrechern und als die Schaffung der systemischen Voraussetzungen für eine spätere Entnazifizierung in Friedenszeiten verstanden." Neben vielem anderen ist auch an Zwangsarbeit gedacht, was in der Opfer-Täter-Umkehr nur konsequent ist. Die unter dem Beschuss zu leiden hatten, haben sich schuldig gemacht und müssen dafür bestraft werden. Frieden? Sergejzew: "Die Entnazifizierung der Ukraine folgt in Friedenszeiten der gleichen Logik wie die militärische Operation." Verhandlungen? Laut Doktrin - dass nicht von Krieg gesprochen wird oder werden darf, verstehe ich erst jetzt - kann es keine Verhandlungen geben. Wie sollte das möglich sein mit einem Gegner, dem man das Existenzrecht abspricht?

Über Waffenlieferungen kann und soll man streiten. Nicht nur die Siegesrhetorik ist problematisch. Vielfach mangelt es an klaren Begründungen für politische Entscheidungen, ganz zu schweigen von der Ausblendung ökonomischer wie anderer Interessen, einer Kritik revisionistischer Triebfedern oder der Missachtung von Menschenrechten seitens der EU oder der USA. Richtig ist, dass es eine viel breitere Diskussion bräuchte, breitere Debatten, in denen man Altphilologen, Historiker, Psychoanalytiker, Gesellschaftstheoretiker, Ökonomen, Theologen, Slawisten, Semantiker und viele andere ernsthaft zu Rate ziehen müsste. Die Konfliktfelder müssten benannt und differenziert werden.

In Aischylos Tragödie "Die Schutzflehenden" fliehen die fünfzig Töchter des Danaos aus Ägypten, um nicht eine Zwangsehe mit ihren eigenen Vettern, den Söhnen des Aigyptos, eingehen zu müssen. Von diesen verfolgt, gelangen sie nach Argos und flehen bei König Pelasgos um Aufnahme und Schutz. Dieser gerät in einen moralisch-politischen Konflikt. Hält er sich an sittliche Übereinkünfte, dann muss er den Schutzflehenden Unterschlupf gewähren, haben sie doch an den Altären der Götter Zuflucht gesucht. Kommt Pelasgos dem Gebot nach, dann droht er in einen Krieg mit den Söhnen des Aigyptos verwickelt zu werden. Auf der Seite der Mädchen steht das Recht, auf der Seite des Königs die von ihm geforderte Verantwortung für das Gemeinwohl jener, deren König er ist. Um nicht in einen Konflikt Fremder hineingezogen zu werden, fallen Pelasgos zahlreiche Argumente ein. Er könne nicht gegen das Volk entscheiden, der Konflikt solle nach den Rechtsgrundsätzen des Herkunftslandes gelöst werden, der Altar, an dem sich die Schutzflehenden drängen, das sei nicht der Altar seines Palastes, also nicht sein Herd. Schließlich lässt sich Pelasgos umstimmen, nicht zuletzt durch die Drohung der Chorführerin, sich am Altar des Zeus zu erhängen: "So werd der Tod eh mein Teil, / Hoch aufgeknüpft im bittern Seil."
Die Aigyptossöhne achten die göttlichen Gesetze nicht. Wie sollten sie das auch, sind sie doch Fremde, Barbaren, denen aus Sicht der damaligen Griechen die Achtung Schutzflehender nur fremd sein kann: "Ich fürchte nicht die Götter dieses fremden Volkes, / Die nicht mich nährten, nicht mich schützend altern sahn!" In einer heutigen Lesart lassen sie in vielerlei Hinsicht an "die Russen" denken, die über die Ukraine hergefallen sind. Auch sie sind der Ansicht, die Verwandtschaft gebe ihnen das Recht, über das schwächere Land zu verfügen. Nicht zufällig wurde die Ukraine in putinscher Diktion im Vorfeld des 24.2.2022 in weiblicher Metaphorik abgehandelt. Sie ziere sich, man müsse sie sich nur nehmen. Und wenn man sie sich einmal genommen habe, dann willige sie glücklich ein. Da wie dort sollen die Objekte des Begehrens, so sie sich nicht fügen, nicht unterwerfen, mit Gewalt genommen oder zerstört werden: "Fort nun, fort, in die Barken geschwind! Geschwind! / Ihr säumt? ihr säumt? Fortreißt, fortschleift, / Peitscht sie fort, mit dem Blutbeil / Schneidet das blutende Haupt vom Rumpf." Nicht weniger bösartig Wortmeldungen der putinschen Riege.

In der antiken Literatur finden sich Schutzflehende oft erwähnt, verständlicherweise nahezu immer dann, werden die zu ihrem Schutz dienenden Regeln missachtet, werden Schutzflehende abgeschlachtet, obwohl sie sich mit Wollbändern umwickelten Zweigen genähert haben. Als besonders schändlich galt es, Schutzflehende von Altären zu zerren oder gar an Altären zu ermorden. Solches wurde als eklatanter Verstoß gegen geltende Regeln betrachtet. Darin sind zweifellos die Anfänge dessen zu sehen, was wir heute unter Menschenrechten verstehen. Werden Schutzflehende preisgegeben, dann gibt es bekanntlich kein Halten mehr. Es ging also auch um Übereinkünfte, und hier wären noch manch andere zu nennen, deren Funktion es war, kriegerische Handlungen nicht völlig außer Kontrolle geraten zu lassen. Die Frage, was an die Stelle der Altäre getreten ist, lohnte sich eingehender zu behandeln. Die Uno? Die Medien?
Beschäftigt man sich mit Aischylos Tragödie "Die Schutzflehenden", dann drängt sich wiederholt der Krieg in der Ukraine auf, so etwa die Ambivalenz, die mit Hilfeleistungen einhergeht. Obwohl Danaos und seine Töchter von Pelasgos und den Einwohnern von Argos freundlich aufgenommen werden, ist sich Danaos dessen bewusst, dass sich der ihnen gewährte Schutz letztlich der Angst vor den Göttern verdankt, könnte doch Zeus, missachteten die Argeier das Gebot, ihre Häuser in Brand stecken, das Land verdorren, durch einen Krieg verheeren oder Seuchen über es hereinbrechen lassen. Wirkliche Freundschaft, so sie überhaupt möglich sei, bedürfe der Zeit wie wechselseitiger Erfahrungen, probten doch Menschen, hätten sie es mit Schutzflehenden zu tun, nur zu gern "die böse Zung an Zugezognen": "Leicht zieht Reden andre dann in Schmutz." Die ihnen gewährte Sicherheit bleibt fragil. Die Stimmung kann schnell umschlagen, fordern Schutzflehende in ihrer Not, werden sie appellativ wie die Chorführerin - die wie erwähnt - droht, sich am Alter des Zeus zu erhängen. Man muss nur einige Leserbriefe in der KRONE lesen, um das zu verstehen: "Die USA, Deutschland und andere Eu-Staaten wollen jetzt tatsächlich mehrere Kampfpanzer in die Ukraine schicken. Eigentlich könnte sich der ukrainische Präsident jetzt zufrieden zurücklehnen und endlich Ruhe geben. Zelenskij [sic!] sieht das leider ganz anders, er wird mit seinen Forderungen immer unverschämter und verlangt auch noch Kampfjets und Langstreckenraketen, Kriegsschiffe und U-Boote stehen ebenfalls noch auf seiner Wunschliste, und er fordert Nato-Soldaten! Unglaublich, träumt dieser Clown etwa vom 3. Weltkrieg?"

Wäre doch schön, angesichts des Ukraine-Krieges Aischylos' Tragödie "Die Schutzflehenden" im Burgtheater aufzuführen, sind doch auch wir angehalten, Stellung zu beziehen. Aischylos' Tragödie müsste als Staatsakt inszeniert und in Anwesenheit des Bundespräsidenten, der gesamten Regierung wie einer großen Anzahl von Parlamentsabgeordneten wie anderer Repräsentanten aufgeführt werden und zwar in einer völlig puristischen Form, auf all den Schnickschnack verzichtend, ohne den heutige Aufführungen nicht auszukommen scheinen. Auf jeden Fall hieße es auf beifallheischenden Gegenwartsbezug zu verzichten. Keinesfalls sollte von "Menschenrechten" und dergleichen die Rede sein, muss doch den Göttern in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit Platz eingeräumt werden. Als Bühnenbild reichte die Abbildung eines der zahllosen zerstörten Gebäude. Warum nicht das in Schutt und Asche gelegte und inzwischen - um die begangene Barbarei unkenntlich zu machen - abgerissene Theater von Mariupol? Warum nicht den russischen Botschafter einladen, ihm einen Logenplatz zuweisen?
Aber wenn man sich unser politisches Personal vor Augen hält, dann ist an solches und ähnliches nicht zu denken, haben wir es doch nur mit Kleingeldsammlern zu tun, die meinen, mit dem Bau einer Mauer, mit der Errichtung eines Zaunes sei es getan, während die Welt längst implodiert, Raum und Zeit aus allen Fugen geraten sind. Von Politikern, die ganz auf das Bazooka-Bildchen-Format setzen, denen komplexere Texte nicht zuzumuten sind, ist solches nicht zu erwarten. Bereits Walter Benjamin wusste darum, als er vor nun bald hundert Jahren bemerkte: "Es veröden die Parlamente gleichzeitig mit den Theatern." Wie auch immer, mit dem Geld, das ein einziger Kampfpanzer kostet, ließen sich nicht nur viele kluge Überlegungen anstellen, es ließe sich auch in demokratische Entscheidungsprozesse wie deren symbolische Darstellung investieren. Insbesondere Letzteres wäre dringend geboten, zumal wir es mit Konflikten zu tun haben, für die es keine einfachen Lösungen geben kann.

Das Stück im Burgtheater hätte noch aus anderen Gründen etwas für sich. Als die Tragödie um 466 v. Chr. erstmals aufgeführt wurde, begann der attische Demos Gestalt anzunehmen. Nicht zufällig bringt Pelasgos, obwohl König von Argos, eine Volksversammlung ins Spiel. Zweifellos verstanden die Athener, worum es ging, nicht zuletzt, dass Demokratie ohne Konflikte nicht denkbar ist, dass einmal getroffene Entscheidungen diese oder jene, oft nicht absehbare Folgen haben können. Viele von ihnen waren an der Aufführung, die einem Staatsakt gleichkam, beteiligt. Freilich war den Athenern manches nicht zuzumuten, so etwa ein anderer Umgang mit Frauen, die bekanntlich aus dem öffentlichen Leben weitgehend ausgeschlossen blieben. Und so konnte das Stück denn auch nur damit enden, dass sich die Schutzflehenden letztlich in die ihnen zugedachten Rollen und Funktionen fügen. Die beiden weiteren Stücke der Trilogie sind nicht erhalten geblieben. Wir wissen aber, dass die Schutzflehenden schließlich erzwungenermaßen die Aigyptossöhne zum Mann zu nehmen haben, diese aber auf das Geheiß des Danaos in der Hochzeitsnacht mit Dolchen oder Haarnadeln ermorden, nur Hypermestra nicht, die Älteste. Sie verschont, da er ihre Jungfräulichkeit achtet, Lynkeus, den ihr zugewiesenen Bräutigam, und verhilft ihm zur Flucht. Nach der Mordnacht veranstaltet Danaos einen Wettlauf unter Freiern aus Argos, die sich der Reihenfolge ihrer Ankunft im Ziel entsprechend eine seiner Töchter zur Frau nehmen dürfen und dazu noch eine große Mitgift erhalten.

© Bernhard Kathan, 2023