Die Kanarienvögel von Fraxern | oder |
Wie der Harzer Roller zu seiner Stimme kam



Ein Projekt von Roland Albrecht
Museum der unerhörten Dinge / Berlin



Bei Weltmeisterschaften der Singvögel in Riebelshausen im Ruhrgebiet belegte im August 2002 der Vogel Klausi mit 90 Punkten den ersten Platz. Klausi gehört der Gattung der Edelroller an und absolvierte die verschiedenen Gesangsdisziplinen, das Hohlrollen, Knorren, das Wasserrollen und das Schockeln ebenso mit Bravour wie das Glucken und Pleifen. Die immer mehr in Mode kommenden Klingeltöne wurden nicht bewertet, da es viele Zuchtvereine gibt, die diese noch nicht anerkennen. Besonders beim Glucken mit seinen Ü-O und dem GLK - BLK überzeugte Klausi besonders, aber mehr als die Bestnote konnte man ihm auch da nicht geben. Ein Vogel war dabei, der die Konsonanten W - G - D - L- H- -R und das B fast noch besser als Klausi konnte, aber in allen anderen Disziplinen fiel er ab. Dieser neu erkorene Weltmeister gehörte wie alle anderen an dieser Meisterschaft beteiligten Kanarienvögel zu der ca. hundertfünfundfünfzigsten Generation der in Gefangenschaft gehaltenen Kanarienvögel.

Foto: Bernhard Kathan


Als Isabella I von Kastilien nach einer gemeinsam gewonnenen Schlacht gegen die Mauren am 19. Oktober 1469 Ferdinand II von Aragonien heiratete und ihr Reich mit dem ihres Mannes vereinte, blieb sie aber Herrscherin von Kastilien und war maßgeblich an der Vertreibung der Mauren von der Iberischen Halbinsel beteiligt, während ihr Mann, auch der Katholische genannt, mehr durch Zufall und eigentlich unerkannt über Christoph Columbus Amerika entdecken ließ, bekamen sie als eines der Hochzeitsgeschenke kleine Vögel, die wunderschön zwitscherten, putzig aussahen und den Damen des Hofes sehr gefielen, ja sie verliebten sich allesamt richtiggehend in die lustigen Vögel.

Man benannte diese Vögel nach ihrem Herkunftsort Kanarienvögel, aber auch Zuckervögel, und lateinisch werden sie Serinus Canarius genannt. Ein Kriegsschiff brachte die ersten Vögel von der seit 1402 schwer umkämpften Inselgruppe. Erst 1496 wurde die letzte der Inseln, Teneriffa, endgültig von den Spaniern besetzt und die Kultur der Guanchen so gründlich zerstört, dass von ihr heute nur Weniges, dem Zerstörungswerk zufällig Entgangenes zu sehen ist.

In ihrer Heimat auf den Kanarischen Inseln leben die sich in der Freiheit befindlichen 12 - 13 cm großen Vögel mit ihrem 6 cm langen Schwanz und 7 cm langen Fittichen bis in 1500 Metern Höhe in schattigen Hochwäldern. Sie entwickelten sich durch die Abgelegenheit der Inseln, ähnlich wie die Finken auf den Galapagos-Inseln, zu einer einzigartigen, besonderen Vogelart aus der Ordnung der Sperlinge, der Familie der Finken und der Unterfamilie der Gimpel.

An den Höfen Europas wurde es schnell Mode, einen solchen Kanarienvogel zu besitzen. Sie galten als wertvoller als Silber und Gold, zeigten sie doch auch durch ihre Lebendigkeit die Vergänglichkeit von Reichtum, die Sterblichkeit von Besitztum. Viele Männer ließen ihre Frauen mit einem Kanarienvogel auf dem Finger als einzigem Schmuck auf Gemälden darstellen. Dieses Motiv der "Frau mit Kanarienvogel" entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zu einer richtiggehenden Genre-Malerei.

Die zwitschernden Vögel wurden in goldenen Käfigen gehalten, in Gartenanlagen wurden Volieren mit kostbarsten Verzierungen eingerichtet. Der große Königliche Gartenarchitekt Buyeau de la Baraudeerie bezeichnete die Kanarien-Volieren als die Hauptzierde einer jeglichen Gartenanlage. Die Zucht dieser begehrten Kanarien lag in der Hand spanischer Mönche. Sie verkauften nur Männchen. Die Hähne sind es auch, die am schönsten und Freude spendend zwitschern, sie markieren damit ihr Revier und den Weibchen ihre Anwesenheit. Indem die Mönche nur die Männchen verkauften, hatten sie ein fast zweihundert Jahre währendes absolutes Monopol auf die Zucht und machten so eine Zucht außerhalb ihrer Klostermauern unmöglich. Sie hielten die Verkaufszahlen sehr knapp, um den Preis der viel gefragten Vögel hoch zu halten. Alle Versuche, die Vögel mit anderen Finken und Gimpelarten zu kreuzen, misslang bzw. die ordinären Anteile waren dominant.

Der Handel mit Kanarienvögeln war nicht nur für die Mönche ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, für ganz Spanien war er von Bedeutung, so dass der Spanische Hof, der reich mit den Vögeln versorgt wurde, ein immenses Interesse an der Aufrechterhaltung des Monopols hatte. Die Begehrlichkeiten der europäischen Höfe wuchs im 17. Jahrhundert ins Unendliche, so dass immer mehr an diesem Geschäft teilhaben wollten. Einige Fürsten nördlich der Alpen setzten hohe Belohnungen für die Überstellung einer oder mehrerer Kanarienhennen aus. Weitsichtige zeitgenössische Ökonome warnten eindringlichst vor einer Entwicklung wie in Holland, wo am 5. Februar 1637 mit dem schlagartigen Ende der sogenannten Tulpenmanie viele angesehene, reiche Kaufleute von heute auf morgen ihr gesamtes Vermögen verloren und am Bettelstab landeten. Alle Versuche, an Kanarienweibchen heranzukommen, misslangen, die Abschottung der Singkanarienzucht schien perfekt. In einigen Schriften aus der damaligen Zeit wird öfters berichtet, dass die Klöster der "Vogelkutten", wie man die Mönche nannte, belagerten Burgen glichen, ständig würden Fremde um die Klöster herum lungern in der Hoffnung, ein entflogenes Weibchen einzufangen.

Abt Anton der Gütige des 1679 mit großzügigen Spenden des Haller Ratsherrn Peter Tasch und anderer Wohltäter errichteten Kapuzinerklosters ärgerte sich schon seit Jahren über das Monopol seiner spanischen Glaubensbrüder, dass er alles daran setzte, dieses Monopol der Kanarienzucht zu brechen. Alle Anstrengungen, auf freundlichem Wege Kanarienhennen zu bekommen, blieben erfolglos, so dass er 1699 fünf junge, draufgängerische Burschen los schickte, um Weibchen zu besorgen. Bevor sie loszogen, wies er sie in die Kunst der Vogelhaltung und des Vogeltransportes ein.

Diese Burschen waren Johann Rupert aus Matrei in Osttirol, die Brüder Konrad und Joseph Streiter, Georg Kammerlander, alle aus Imst, und Christopherus Kathan aus Vorarlberg.

Diese fünf zogen über die Alpen mit Empfehlungsschreiben des Abtes in ihrem Gepäck, die sie als fromme Tiroler aus Imst auswiesen und die beabsichtigten, in ein spanisches Kloster einzutreten, da ihnen die nördlichen Klöster zu kalt seien. In ihren Köpfen fest verankert war aber, sobald sie Kanarienweibchen hatten, sofort wieder zurückzukommen. In den ersten Klöstern wurden sie abgewiesen, im fünften Kloster, in dem sie vorstellig wurden, konnten zwei als Knechte anfangen, die drei anderen wurden in einem nahe gelegenen Kloster als Handlanger zeitweise beschäftigt. Nach einem Jahr war es so weit: Sie hatten unbemerkt einige Hennen und Hähne entführt und machten sich aus dem Staube. Ihr Rückweg ging über die Pyrenäen, das Rhone-Tal hinauf, am Bodensee vorbei, und als erste Station in der Heimat machten sie in Vorarlberg in Fraxern Halt, von wo der Christopherus herkam. Den ganzen Weg zurück hatten sie immer Angst, dass die spanischen Mönche sie verfolgen und Rache üben würden oder zumindest ihre Kanarienvögel vernichten könnten.

Um dem auch in Zukunft vorzubeugen, ließen sie einige Vögel in Fraxern, nahmen den Eltern den Schwur ab, ja nie etwas über die Vögel zu erzählen und wanderten weiter nach Imst.

Was die Burschen aber nicht wussten, war, dass die spanischen Mönche sie nicht verfolgten, diese bekamen es gar nicht mit, viele Knechte verschwanden von heute auf morgen, und dass das Monopol eh schon länger gebrochen war, auf breiter Basis sogar. Englische Händler hatten wilde Vögel von den Kanarischen Inseln selbst geheim importiert, in Süditalien entflog einem in Seenot geratenen Schiff eine ganze Ladung, so dass die Vögel dort sogar auswilderten. Von jenen Vögeln landeten etliche in Zuchtkäfigen. Die immer größeren Angebote von Kanarienvögeln ließen die Preise rapid fallen. In England und Italien entwickelte sich eine eigenständige Zucht: In Italien legte man viel Wert auf die Gestalt der Vögel, auf ihre Haltung, besonders die der Kopfhaltung, in England züchtete man sie mit besonders farbigem Federschmuck, in Imst zu immer reichhaltigerem, besonderem Gesang. Diese Differenzierung des Zuchtzieles ist bis heute geblieben, so unterscheidet man bis heute die Gesangs-, Posier- und Farbkanarien.

In Imst nahmen sich die Bergleute der dortigen Eisengruben des Vogels an, sie züchteten sie weiter, nahmen sie als eine Art Frühwarnsystem für Gaseinbruch und zur Unterhaltung mit in die Gruben. Imst wurde ein Zentrum der Singkanarienzucht und auch hier wurde sie zu einem nicht zu unterschätzenden Handelsfaktor.

Die Kanarienvögel auf dem kleinen, abgelegenen Bergbauerndorf Fraxern vermehrten sich ebenfalls weiter, bald hatte fast jeder Bauernhof seine zwitschernden Vögel. Die Bauern legten aber keinen besonders großen Wert auf irgendwelche besonderen Differenzierungen oder Eigenarten der Vögel. Man kann sie als die einzigen naturbelassenen Vögel in der Gefangenschaft ansehen. Was die Bauern jedoch bemerkten, war, dass sich die Vögel bei ihnen auf über 1000 Metern Höhe so wohl fühlten als wären sie zu Hause. Eine Besonderheit im sonnenverwöhnten Bergdorf Fraxern war und ist, dass dort zwanzigerlei Kirschsorten wachsen, eine absolute Besonderheit für diese Höhe und dass die Kirschen sehr, sehr lecker sind und bis heute in der Kirschenzeit die Leute von überall her kommen, um die einmaligen Kirschen zu kosten und zu kaufen.

Die Kanarienvögel bekamen diese Kirschen in ihre Käfige gesteckt und pickten mit größtem Vergnügen daran herum, so dass sie zur Kirschenzeit fast ausschließlich Kirschen bekamen und die andere Zeit sehr oft eingeweichte Kardy-Samen, Samen der sogenannten Färberdistel. Diese damals als Ernährung beliebte, der Artischocke verwandte Distelart ist heute fast nur noch in der Westschweiz oder bei hartgesottenen biologisch ausgerichteten Menschen als Essen bekannt.

Als die Erzausbeute in Imst Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr zurück ging und im Harz neue unausgebeutete Erzadern gefunden wurden, wanderten viele der Bergleute zu den neuen Abbaugebieten und nahmen ihre Vögel mit. Eine kleine Schar Bergleute aus Vorarlberg erinnerten sich der Kanarienvögel in Fraxern und nahmen von dort welche mit in das deutsche Mittelgebirge und siedelten sich in der Nähe der neu ausgeschachteten Grube Catharina in Sankt Andreasberg an.

Was die Bergleute schnell hörten, war, dass ihre aus Fraxern mitgebrachten Vögel einen klareren und reineren Gesang hatten als die, die sie aus Imst her kannten. Im 19. Jahrhundert waren die aus Fraxern stammenden Andreasberger Kanarienvögel in ihrem Gesang so weit ausgebildet, dass man ihnen einen eigenständigen Namen gab: Harzer Roller.

In St. Andreasberg entwickelte sich eine professionelle Harzer-Roller-Zucht, so dass zeitweise jährlich bis zu über hunderttausend Vögel in alle Welt exportiert wurden, v. a. nach Amerika, aber auch nach Australien und Südamerika.

In den USA wurde im Jahre 1998 in einer großangelegten Studie über die Singkanarienvögel festgestellt, dass sich die Stimmritzen aller Harzer Roller durch eine besondere Flexibilität auszeichnen. Es wird vermutet, dass dies durch eine über zig Generationen einseitige Ernährung mit besonders reichhaltigem Futter mit organischen Säuren, Zuckern und Pektinen entstanden sein könnte , z. B. durch Kirschen und Kardy-Samen.

Heute spielt die Kanarienzucht nirgendwo mehr eine große wirtschaftliche Rolle, es gibt kaum hauptberufliche Kanarienzüchter mehr, die Zucht findet heute auf der Ebene der Kleintierzuchtvereine statt. In Andreasberg gibt es ein schönes Harzer-Roller-Museum mit herrlich singenden Edelrollern, in Fraxern sind die letzten naturbelassenen Kanarienvögel bei einem kalten Winter Mitte des 19. Jahrhunderts ausgestorben, so dass die heute dort zwitschernden Kanarienvögel Reimporte darstellen.

Zum Schluss sei noch nachgetragen, dass sich unter der Speise des Harzer Rollers kein gebratener Kanarienvogel im Speckmantel verbirgt, sondern eine bestimmte Käsesorte aus der Gattung des Stinkekäses, der sich sehr gut zum Einlegen eignet:

2 Päckchen Harzer Roller, 4 Knoblauchzehen, 1 rote Chilischote, 2 Lorbeerblätter, 1 Zweig Rosmarin, 1 Zweig Thymian, Olivenöl extra vergine zum Auffüllen.
Den geschälten Knoblauch in Scheiben schneiden, Chili halbieren und entkernen. Die einzelnen Harzer-Roller-Röllchen abwechselnd mit Lorbeerblättern, Thymian- und Rosmarinzweigblättchen, Knoblauch und Chilischote in ein Glas schichten. Mit Olivenöl auffüllen. Dunkel und kühl mindestens 4 Tage durchziehen lassen. Der Käse schmeckt besonders lecker, wenn er (vor dem Verzehr) mit einigen Tropfen guten Weinessigs beträufelt und mit einigen Zwiebelringen garniert wird.
Der gekühlte, eingelegte Harzer Roller ist ca. 2 Wochen haltbar.

Literatur:
Wendt, Otto: Familienlexikon. Leipzig 1863.
Meyers Konversationslexikon. Leipzig / Wien, Bd. 9, 1890.
Der Vogelfreund. Fachorgan des Deutschen Kanarien- und Vogelzüchterbundes e. V. Mainz / Laubenheim.
Das Kirschenwunder von Fraxern. Heimatblätter, Bd. 28. Bregenz 1952.
Geßner, Rolf: Pflanzen- und Tierschutz in Bergwerken am Beispiel des Harzer Raumes. Braunlage 2002.
Harzer Roller Kanarien-Museum, Sankt Andreasberg / Oberharz imar. www.chefkoch.de, 2004
SchülerInnen der Glückauf-Grundschule Andreasberg: http://geschichtsatlas.de/~gc7/body_index.html, 2004

www.museumderunerhoertendinge.de


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