Im Land der Allesmuser


Fraxern 1942


Eine blühende Wiese. Die Aufnahme entstand im Frühsommer 1942. Ich kenne das Grundstück, das auf dem Foto zu sehen ist, gut. Heute blühen dort keine Margeriten mehr, auch kein Wiesenbärenklau, kein Wiesenkerbel, keine wilde Möhre. Ökologisch betrachtet haben wir es mit einer Wüste zu tun. Auffallenderweise wird das nicht wahrgenommen. Man sähe es nur, wenn alles verdorrt wäre, sich Sandberge auftürmen würden. Im Augenblick ist das noch nicht zu befürchten. Es wächst immer noch Gras, um genauer zu sein: neben Gräsern Ampfer, Wiesenstorchenschnabel, Löwenzahn, Spitzwegerich, Hahnenfuß, einige eingesäte Kleearten. Von Artenvielfalt kann keine Rede sein. Dafür wären viele Gründe zu nennen, angefangen beim frühen Schnitt, der ein Ausreifen vieler Pflanzen unmöglich macht, bis hin zur Überdüngung oder der Bewirtschaftung mit schweren Maschinen, was sich nachteilig auf das Bodenleben auswirkt. Auch auf dem Foto ist allerdings das massenhafte Auftreten des unerwünschten Ampfers unschwer zu erkennen.

Ich habe mir, da mir das Mähen mit der Sense zu anstrengend wird, eine Motorsense gekauft. Das ganze Grundstück ist nun glattrasiert. Freilich hinterlässt das bei mir ein unbehagliches Gefühl, weniger wegen des von mir verursachten Lärms, vielmehr deshalb, weil das Gerät sich bei genauerer Betrachtung als Allesmuser erweist: "Eine Benzin-Motorsense ist bestens geeignet, wenn Sie Ihren Garten in Form bringen möchten. Vor allem an Mauern, Zäunen, abfallenden Flächen, Bäumen und weiteren Hindernissen ist sie die ideale Alternative zum Rasenmäher, um hochgewachsenes Gras und Gestrüpp auf die richtige Länge zu kürzen. Motorsensen arbeiten mit einer Fadenspule für leichtere Mäharbeiten. Darüber hinaus können Sie mit einem extrastarken Messerblatt auch holzige Pflanzenteile und Gestrüpp mühelos schneiden." 1400 Umdrehungen pro Minute bei Höchstleistung, genaugenommen 2800 Drehschnitte. Kleinlebewesen, die sich nicht verkriechen oder wegfliegen können, werden buchstäblich zu Brei zermalmt. Mäht man mit einer Sense in einen der vielen Ameisenhaufen, dann liegen die Eier im Gras verstreut. Schon nach kürzester Zeit sind die Ameisen damit beschäftigt, die Eier wieder einzusammeln. Mäht man dagegen mit einer Motorsense, dann finden sich nicht mehr viele Eier. Das trägt, denkt man daran, wie häufig Motorsensen eingesetzt werden, nicht unwesentlich zum Artensterben bei.

Der Hersteller hat, wie ich der Bedienungsanleitung entnehmen konnte, auch in Ländern wie dem Kosovo oder Bosnien seine Vertretungen. Der tägliche Bodenverbrauch in Österreich wird oft mit Fußballfeldern hochgerechnet. Täglich werden angeblich 12,9 Hektar Boden versiegelt, was etwa 20 Fußballfeldern entspricht, pro Jahr also etwa 7300 Fußballfeldern. Es ließen sich auch jene Flächen verrechnen, die rund um Häuser mit Hilfe von Motorsensen, Rasenmähern oder Rasenrobotern verwüstet werden. In der Landwirtschaft kommen Motorsensen vor allem an Böschungen und Feldrändern zum Einsatz, also genau in jenen Bereichen, die noch immer eine gewisse Artenvielfalt aufweisen. Nicht vergessen seien alle jene Bereiche, die im Auftrag von Straßenerhaltern abrasiert werden. Was Fußballfelder betrifft, so wäre noch hinzuzufügen, dass es sich bei solchen durchwegs um ökologische Wüsten handelt. Man könnte sie gleich mit einem Kunststoffrasen versehen. Immerhin können sie noch Wasser aufnehmen.

In meiner Kindheit war während der Sommermonate ständig das Lachen von Grünspechten zu hören. Sie sind selten geworden. Es mangelt eben am Nahrungsangebot. Grünspechte ernähren sich hauptsächlich von bodennahen Insekten, vor allem Ameisen. Während einer ganzen Woche Heuarbeit habe ich nicht eine einzige Heuschrecke gesehen. In meiner Kindheit konnten wir uns beim Heuen die Zeit damit vertreiben, Heupferdchen zu fangen, ihnen einen Grashalm in den Hinterleib zu bohren, sie auf die Spitze des Gabelstiels zu setzen, Daumen und Zeigefinger, mit denen wir sie festhielten, zu öffnen, um ihren seltsamen Flug (in den Tod) zu beobachten. Heute würde ein solches Tun als Rohheit betrachtet. Um vieles verheerender erscheinen mir allerdings Motorsensen und verwandte Geräte. Aber das nimmt kaum jemand wahr. Feldgrillen sind übrigens kaum bedroht, sofern die Flächen nicht mit schweren Maschinen bewirtschaftet werden. Bei Lärm und Erschütterungen ziehen sie sich in ihre Röhren zurück.

Was Ameisenhaufen betrifft, hält sich meine Freude in Grenzen, zumal sie im Garten auftauchen, ganz zu schweigen von Waldameisen, die sich in den Zwischenwänden des Gebäudes, im Dämmmaterial zwischen der Holzverkleidung und Rigipsplatten einnisten und sich schließlich über die Essvorräte hermachen. Dennoch sollen auch sie ihren Platz haben. Ameisen zählen zum Nahrungsangebot von Eidechsen und Blindschleichen. Diese wiederum werden von Schlingnattern gefressen. Nehmen Insekten ab, dann gibt es weniger Eidechsen und Blindschleichen. Schlingnattern verschwinden. Es ist freilich viel komplizierter, als ich es hier schreibe. Aber man braucht nur etwas aufmerksam zu sein, um die eine oder andere Wechselwirkung zu erkennen.

Aber ist es nicht so: Jeder geht seinen Tätigkeiten nach, ohne lange darüber nachzudenken. Die Motorsense ist ein gutes Beispiel. Tatsächlich haben wir es mit Verschiebungen vielfältigster Art zu tun. Wie ich einem Zeitungsbericht entnehmen konnte, kam in einem der Nachbarorte ein 70-jähriger Motorradfahrer zu Tode. Auf Abbildungen waren "Rettungskräfte" zu sehen, deren Rüstungen mit ihrem Kopf- und Nackenschutz an griechische Hopliten denken ließen. Dabei war das Unglück längst geschehen, nicht die geringste Gefahr zu erkennen. Um den Toten wurde eine Art Paravent aufgestellt, wobei fraglich blieb, wer vor dem Anblick geschützt werden sollte. Auf den Paravent war keine stimmungsvolle Naturlandschaft aufgedruckt, was das Monströse noch etwas mehr ins Absurde gerückt hätte. Ein Paravent in japanischem Stil wäre doch schön. Eine zarte Hügellandschaft vor untergehender Sonne. Im Vordergrund wären einige Fledermäuse zu sehen, die auf der Suche nach Insekten ihre Kreise ziehen. Da wir aber nicht im achtzehnten, sondern im einundzwanzigsten Jahrhundert leben, würde es gar nicht weiter stören, hätte der Maler im Hintergrund einige landwirtschaftliche Maschinen hineingepinselt. Aber auch hier scheint kaum jemand die Verschiebung wahrzunehmen, die etwa darin besteht, dass Rettungskräfte plötzlich in Rüstungen auftreten.

Wie bereits letztes Jahr habe ich auch jetzt wieder mit Sand gearbeitet, um Wühlmäusen und Nacktschnecken Einhalt zu gebieten. Es funktioniert tatsächlich. Üblicherweise hole ich mir den Sand beim Vorbeifahren an einem Fluss. Da die Flüsse letzthin aber Hochwasser führten, kaufte ich mir in einem Baumarkt einige Säcke Spielsand. Sand aus der Sahara! Das muss man sich einmal vorstellen, aus der Sahara nach Europa transportierter Sand. Auch nicht eben klimafreundlich. Man kauft nur Sand. Was soll daran schon schlecht sein? Damit die Kinder gleich Formen bauen können, ist der Sand bereits angefeuchtet. Für mich ist das ein Nachteil, zumal ich den Sand erst trocknen muss. Er fließt nämlich nur in trockenem Zustand tief in die Mausgänge. Ein einziges Mausloch kann bis zu einem Kübel Sand aufnehmen. Aber auch da gibt es wieder unerwünschte Nebenwirkungen. In manche der Mausgänge ziehen sich tagsüber kleine Kröten zurück. Man kann also fast gar nichts machen, ohne irgendein Unheil anzurichten.

Ach, das Artensterben! Ein Verbot von Glyphosat, ein Verbot von Plastiksackerln. Das sind dankbare Lösungen, ganz Köstinger- und KRONE-tauglich. Es passt gut zum Land der Allesmuser, in dem wir leben. Sauber soll es sein. Einfache, vor allem mehrheitsfähige Lösungen sind gefragt. Und zwar nicht nur im Garten oder im Grünland. Zu Motorsensen habe ich weder von Köstinger noch von der KRONE etwas vernommen, obwohl der Eintrag an Plastikpartikeln in den Boden beträchtlich ist und zahllose Kleinsthabitate zerstört werden.

Um noch einmal auf die obige Aufnahme zurückzukommen: Die jungen Leute, sie sind für ein Bergbauerndorf erstaunlich gut gekleidet, scheinen fröhlich, bestens gelaunt. Sie scheinen, ganz wie es ihrem Alter entspricht, mit Partnersuche beschäftigt gewesen zu sein. Wie anderen Aufnahmen der Serie zu entnehmen ist, kehrten sie abends mit Blumensträußen nach Hause zurück. Nein, die Zeichen der Zeit wussten sie nicht zu deuten. Dabei war der eine oder andere aus dem Freundeskreis schon kurze Zeit später tot, verstümmelt, zumindest verstört. Der Fotograf selbst, so wurde mir gesagt, fiel nur wenige Monate später. All das, was sich damals, also im Juni des Jahres 1942, abspielte, abzeichnete, scheint an den Blumensammelnden vorbeigegangen zu sein.

Betrachte ich die Aufnahme, dann nicht deshalb, weil es das Verschwinden von Margeriten oder anderen Wiesenblumen zu beklagen gilt. Wichtiger scheinen mir damalige wie heutige Ausblendungen. Es gilt nicht, den Margeriten, dem Wiesenkerbel, dem Wiesenknopf, dem Klappertopf oder der Trollblume nachzutrauen! Wenn uns die Ökologie etwas lehrt, dann das Wissen um die Verletzlichkeit komplexer Gefüge. Damit müsste man sich beschäftigen. Und machte man es wirklich, dann stellten sich ganz andere Fragen, Fragen, die eben auch Ökonomisches oder Soziales tangierten. Zum Artensterben fügt sich das fragmentierte Denken. Differenz und Vielfalt kommen auch in unserer Sprache abhanden. Wo bleibt das Auseinanderfalten von Worten, die Vielzahl an Bedeutungen, all die Widerreden und Antworten, die nicht einfach in einen indifferenten Raum hineingesprochen, gepinkelt, ausgeschieden werden. Man sollte sich manchmal niederknien und einen kleinen Kosmos betrachten, der sich auf einigen Quadratmetern auf der Erde ausbreitet, Demut üben, überhaupt das einzige, was sich lohnt.



© Bernhard Kathan, 2019
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