"322 wird Ihnen zusagen. Unser Amor-Zimmer"
Eine Frühstückspension im Wienerwald. Wir waren sehr müde und hatten bereits
lange nach einer Übernachtungsmöglichkeit gesucht. Da, im spätherbstlichen
Nebel, eine gelbe, vielversprechende Leuchtschrift. Ein Gebäude aus den
1960er Jahren, das zweifellos bessere Zeiten kannte. Auf dem Parkplatz nicht
ein einziges Auto. Es dauerte, aber es wurde geöffnet. Der Nachtportier,
Betreiber dieser Unterkunft, ein schmieriger Typ von etwa 45 Jahren, der
distanzlos anzügliche Bemerkungen machte. Der lange Korridor, in dem links
und rechts zahllose Türen auf Zimmer wiesen, kannte nur eine Notbeleuchtung.
Das Zimmer am Ende des Korridors, ein muffiger Raum mit geschmacklosen
Tapeten und Vorhängen. Als ich später noch einmal zur Rezeption ging, saß
der Nachtportier, es war sonst niemand anwesend, vor einem Bildschirm und
schaute sich einen Porno an. Ich dachte mir die Zimmer dieser Pension mit
Kameraaugen ausgestattet. Ich stellte mir den Typen vor, wie er uns
beobachtet, und, wären mehrere Zimmer belegt gewesen, zwischen den einzelnen
Zimmern hin- und herzappt. Wie viele Geschichten gibt es nicht, in denen
Gasthäuser oder Hotels nichts mit der versprochenen Sicherheit zu tun haben.
In Wilhelm Hauffs Märchen "Das Wirtshaus im Spessart" stecken die Wirtsleute
unter einer Decke mit den Räubern. In Rainer Erlers Roman "Fleisch"
quartieren sich Monica und Mike, sie befinden sich in den Südstaaten auf
ihrer Hochzeitsreise, in einem Motel mit dem Namen "Honeymoon Inn" ein. Den
beiden wird ein mit einem Schlafmittel versetzter Kaffee verabreicht, um sie
als "Organspender" zu entführen.
Wieder in meinem Zimmer, hörte ich ein seltsames Rauschen neben, unter
meinem Bett. Als ich den Teppich beiseite rollte, entdeckte ich einen
Kanaldeckel. Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich ein Hotelzimmer als
bedrohlichen Ort. Schläft man, so ist man verletzlich. Bedrohlich meint
etwas anderes als trostlos. Viele Hotelzimmer sind trostlos, aber nicht
bedrohlich. Nüchtern betrachtet sahen wir das Zimmer mit den Augen des
Kinos. Der Nachtportier als Voyeur scheint geradezu Alfred Hitchcocks Film
"Psycho" (1960) entlehnt, auch all meine Assoziationen, die sich dem
Kanaldeckel unter dem Teppich verdankten. Norman Bates beobachtet durch ein
Loch in der Wand die sich ausziehende Marion Crane. Ihr Blut verschwindet
bereits wenige Kinoaugenblicke später in einer Spiralbewegung im Abflussloch
der Nasszelle, also in einem Kanal, ihr Körper mit all den Dingen, die an
sie erinnern könnten, in einem Sumpf. Nicht nur Marion Crane wird in der
Duschkabine ermordet.
"Ich möchte gerne Zimmer 773."
"Das ist leider besetzt. Im Schnitt sind die Zimmer alle gleich."
"Haben Sie noch ein Zimmer, das in der Nähe ist, oder nebenan?"
"Nebenan? Das ist frei."
"Na gut."
In Francis Ford Coppolas "Der Dialog" (1974) tritt an die Stelle des
Gucklochs das Mikrophon. Harry Caul mietet sich im Jack Tarr Hotel ein,
installiert, unter dem Waschbecken, neben der Toilettenmuschel kauernd, ein
Mikrofon in der Wand, um das Geschehen im angrenzenden Hotelzimmer
abzuhören. Er wird Zeuge einer heftigen verbalen Auseinandersetzung, eines
Mordes. Als er sich später Zugang zum Nebenzimmer verschafft, ist dieses
verlassen. Nichts scheint auf ein Verbrechen hinzudeuten. Keine Blutspuren
in der Duschkabine, selbst der Abflussstöpsel ist blankpoliert. Alles
verkehrt sich in sein Gegenteil. Nicht das vermeintliche Mordopfer, der
vermeintliche Mörder kommt um. Die Toilettenmuschel bringt nicht zum
Verschwinden. Als Harry die Spülung bedient, quillt ihm aus dem verstopften
Abfluss Blut entgegen. Der Abhörspezialist glaubt sich selbst abgehört.
Blaney: "Ein Doppelzimmer bitte."
Seine Freundin Babs Milligan: "Aber doch nicht hier!"
Rezeptionistin: "Wünschen Sie zwei Einzelbetten oder ein Doppelbett für
Ehepaare."
"Ein Doppelbett bitte."
"Ja, ist gut."
"322 wird Ihnen zusagen, unser Amor-Zimmer."
"Was Sie nicht sagen."
"Ja. Ist sehr gemütlich."
"Würden Sie sich bitte hier eintragen."
"Ja, natürlich."
"Mr und Mrs Oscar Wilde."
Babs: "Was soll das heißen? Hör auf mit dem Blödsinn."
"Entschuldigen Sie. Das macht zehn Pfund plus zwanzig Prozent für Bedienung.
Vielleicht möchten Sie's gleich regeln, im Voraus."
"Hier."
"Danke."
"Welches Zimmer bitte?"
"322."
Hotelangestellter: "Folgen Sie mir bitte. 322, das ist hübsch."
"Amor-Zimmer heißt das bei Ihnen anscheinend."
"Da drin haben Amors Liebespfeile schon ein Haufen Herzen durchbohrt, das
kann ich Ihnen sagen. Benötigen Sie noch etwas aus der Drogerie?"
"Nein."
Um eine Geschichte zu erzählen, bedarf das Kino unterschiedlichster
Informationsträger, die bereits vorab diese oder jene Assoziationen
zulassen. All das beginnt bereits bei der Auswahl der Schauspieler, mit der
Art und Weise, wie sie gekleidet oder geschminkt werden. Man stelle sich
einmal vor, Hitchcock hätte in seinem Film "Die Vögel" (1963) die Rolle der
Melanie Daniels mit Suzanne Pleshette, jene der Lehrerin in Bodega mit Tippi
Hedren besetzt. Die Geschichte hätte so nicht funktioniert. Etwas ähnliches
gilt auch für die Orte des Kinos. Allein durch ihre Auswahl ist die Handlung
bereits vorweggenommen. Die Orte des Kinos haben mit dem wirklichen Leben
wenig gemein. Anders als im Kino ist der Tod in einer Badewanne eines Hotels
eine Seltenheit. Nur in Ausnahmefällen scheint die Wirklichkeit dem Kino
entlehnt. Dies gilt etwa für Uwe Barschels Tod, der 1987 im Genfer
Luxushotel Beau-Rivage tot in der Badewanne des Zimmers 317 aufgefunden
wurde. Ganz anders liegt es bei Dominique Strauss-Kahn, dem vorgeworfen
wurde, ein Zimmermädchen in einer Suite des New Yorker Hotels Sofitel zum
Oralsex gezwungen zu haben. Was immer geschehen sein mag, solche Geschichten
ereignen sich tausendfach. Es hätte nicht den geringsten Skandal gegeben,
hätte es sich bei Dominique Strauss-Kahn nicht um eine sehr prominente, also
öffentliche Persönlichkeit gehandelt.
Das Hotel verspricht Ruhe, Erholung, Abwechslung. Im Kino ist es allerdings
vor allem mit dem Tod assoziiert. In Takeshi Kitanos Film "Hana-Bi" (1997)
bricht Nishi, ein Polizist, der eben eine Bank ausgeraubt hat, mit seiner
todkranken Frau Miyuki zu einer letzten Reise auf. Die beiden quartieren
sich in einem Hotel mit Blick auf den Fuji ein. Nishi in einem niederen
Fauteuil. Vor dem Fenster eine Winterlandschaft. Miyuki sitzt vor einem
Gemälde mit Kirschblüten. Wie die Kirschblüten verweist die Winterlandschaft
auf den Tod. Eine ältere Hotelangestellte: "Wollen Sie wirklich allein
fotografiert werden, ohne Ihren Mann?" Miyuki nickt: "Ja." "Gut. Dann drück
ich jetzt ab." Miyuki lächelt. Hotelangestellte: "Sehr schön." Sie stellt
eine Plastiktasche auf den Tisch: "Das ist ein Geschenk des Hauses. Einen
schönen Aufenthalt." Kurz darauf erschießt Nishi seine Frau und dann sich
selbst. Abdrücken, um ein Erinnerungsfoto zu machen. Abdrücken, um das Leben
zu beenden.
Das reale Hotel lebt von der Diskretion. Bezahlt man, hält man sich an die
Regeln, betrinkt sich nicht übermäßig, stört man keine anderen Gäste, hat
alles seine Ordnung. Im Kino ist das Hotel dagegen ein Ort der Ungewissheit,
ein Ort fraglicher Identitäten. Man denke etwa an jene Hotelszene in Alfred
Hitchcocks Film "Der unsichtbare Dritte" (1959), in der Roger Thornhill eine
andere Identität attestiert wird.
"Haben Sie nach mir geklingelt?"
"Ja, bitte kommen Sie herein. Wie heißen Sie eigentlich?"
"Ich heiße Else."
"Else. Wissen Sie, wer ich bin?"
"Natürlich. Mr Kaplan."
"Wann haben Sie mich zum letzten Mal gesehen?"
"Gerade eben draußen vor der Tür. Im Flur vor ein paar Minuten. Erinnern Sie
sich nicht? Kann ich etwas dafür, dass Sie niemals da sind?"
"Woher wissen Sie, dass ich Herr Kaplan bin?"
"Wer sollen Sie denn sonst sein? Das ist doch Zimmer 796. Also sind Sie der
Herr aus Zimmer 796."
"In Ordnung Else, danke."
"Haben Sie sonst noch einen Wunsch?"
"Nein, das wäre alles."
Allerdings entsprechen weder die Anzüge seinem Geschmack, noch seiner
Körpergröße.
"Ich bringe den Anzug."
"Oh ja, kommen Sie herein."
"Soll ich ihn gleich in den Schrank hängen, Herr Kaplan?"
"Ja, bitte. Übrigens sagen Sie mir, wann habe ich Ihnen den Anzug gegeben?"
"Gestern Abend, ungefähr um sechs."
"Habe ich Ihnen den Auftrag persönlich erteilt?"
"Aber nein, Herr Kaplan. Soviel ich weiß, gaben Sie den Auftrag telefonisch
durch. Sie haben den Anzug beschrieben und gesagt, dass er in Ihrem Schrank
hängt, genauso wie Sie es immer tun. Stimmt etwas nicht?"
Wie das Theater kennt das Kino Kulissen. Wie das Theater bedient sich das
Kino bestimmter Requisiten. In Hotelgeschichten sind nicht zufällig Anzüge
von Bedeutung. In Alfred Hitchcocks Film "Frenzy" (1971) quartiert sich
Blaney mit Babs Milligan, die er aus einem Pub kennt, im Hotel "Coburg" ein.
Seinen schmutzigen Anzug gibt Blaney dem Portier zur Reinigung: "Sekunde.
Geben Sie das bitte in die Reinigung. Und sagen Sie, es wär eilig. Und sie
können auch gleich die untere Hälfte mitnehmen, und sagen Sie, sie möchten
alles kräftig sprayen." "Sprayen, Sir. Womit?" "Mit DDT, womit sonst. Tod
der blutgierigen Wanze, mein Guter, und Vernichtung der heimtückischen Laus.
Lassen Sie den Kram reinigen und bügeln." "Ja, Sir."
"Immer nur Arbeit und kein Vergnügen. Ein Mädchen wie du sollte sich heute
abend amüsieren anstatt immer nur Anrufe von Geschäftsleuten zu empfangen.
Wie wäre es, wenn wir heute abend zusammen essen gingen."
"Nein. Du kannst es dir nicht leisten irgendwo gesehen zu werden."
"Dann essen wir eben hier bei dir, das ist viel gemütlicher."
"Nein, ich kann nicht."
"Und wenn ich darauf bestehe?"
"Ich möchte, dass du mir einen großen Gefallen tust, einen sehr großen."
"Was willst du?"
"Ich möchte, dass du mich verlässt, und zwar sofort. Bleibe bei den Menschen
deiner Sphäre und komm nie wieder in meine Nähe. Wir werden uns nicht mehr
wiedersehen. Gestern abend war gestern abend und mehr wird nicht sein. Es
wird keine Zukunft geben. Also bitte, geh. Keine weiteren Erklärungen. Geh
nur einfach."
"Du meinst sofort?"
"Ja."
"Und das ohne Kommentar?"
"Ja."
"Nein, das kann ich nicht machen."
"Bitte."
"Nach dem Essen."
"Nein. Jetzt."
"Nach dem Essen. Fair ist fair."
"Na schön. Aber eine Bedingung stell ich. Dass du zuerst den Hoteldiener
deinen etwas mitgenommenen Anzug ausbürsten lässt. So wie du aussiehst kann
ich leider nicht mit dir essen gehen."
"In Ordnung."
"Da ist das Telefon."
"Hallo, geben Sie mir den Hoteldiener bitte."
"Einen Moment, da wird gesprochen."
"Wo sind wir?"
"Zimmer 463. Sagen Sie, wie schnell können Sie einen Anzug reinigen und
bügeln? Zwanzig Minuten. Fein. 463. Siehst du, es klappt."
"Lass nichts in den Taschen."
"Was kann ein Mann zwanzig Minuten ohne seine Kleidung unternehmen?"
"Man kann zum Beispiel eine schöne kalte Dusche nehmen. Als ich noch ein
kleiner Junge war, erlaubte ich nicht einmal meiner Mutter mich auszuziehen."
"Du bist inzwischen gewachsen."
"Ja."
"Sag mir, wie hast du's nur angestellt so zu werden wie du bist?"
"Einzig und allein Glück."
"Nein, das glaub ich nicht, weil du unerzogen und boshaft bist. Hast du
schon einmal jemand umgebracht. Ich wette, du könntest ohne dich
anzustrengen einen Mann ruinieren, aber bitte lass mich aus dem Spiel."
Während Roger Thornhill eine andere Identität aufgezwungen wird, täuschen
andere eine falsche Identität vor. Der Handlungsreisende kann sich als
Bankräuber entpuppen. Er hat sich einzig deshalb einquartiert, um die
gegenüberliegende Bank besser beobachten zu können. Das Kino kennt
komplexere Auseinandersetzungen mit Identität. Hier ist vor allem
Michelangelo Antonionis Film "Beruf: Reporter" (1975) zu nennen. David
Locke, ein Reporter, versucht in der Wüste des Tschad vergeblich, Kontakt
mit Freiheitskämpfern aufzunehmen. Ins Hotel zurückgekehrt, findet er einen
mysteriösen Geschäftsmann, der im selben Hotel wohnt und ihm ähnlich sieht,
tot in dessen Zimmer. Von seinem Leben angewidert, tauscht Locke die Fotos
in den Reisepässen aus und nimmt so die Identität des Toten an. Am Ende des
Films, der sich durchgehend mit Fragen der Identität beschäftigt, wird
Locke, auf die berühmte Kamerafahrt sei hier nur am Rande hingewiesen, in
einem Hotelzimmer ermordet. In Antonionis Beschäftigung mit Fragen der
Identität ist das Hotel mehr als nur Kulisse. Mit Hilfe der Architektur
gelingen ihm zahllose Perspektivenver-schränkungen und Brechungen. Während
Locke am Ende des Films im Hotelzimmer liegt, unterhalten sich draußen zwei
Männer auf einer Bank. Ein Hund, ein spielendes Kind mit einem Ball, ein
Fahrschulauto, das seine Runden dreht. Das Mädchen, das das Zimmer verlassen
hat, kommt hinzu.
Alfred Hitchcock, "Vertigo" (1958). Ähnlich wie die Figuren in "Morels
Erfindung" bewegt sich Madeleine in einer Endlosschleife. Sie erinnert an
eine in einer Traumwelt gefangene Automate. Madeleine: "Es ist, als ob ich
einen langen Korridor entlang gehe, der einmal Spiegelwände hatte, und davon
hängen immer noch Bruchstücke an den Wänden, und wenn ich ankomme am Ende
des Korridors, ist da nichts als Dunkelheit, und ich weiß, wenn ich in diese
Dunkelheit gehe, dann sterbe ich. Aber ich bin nie ganz ans Ende gekommen.
Irgend etwas hat mich immer davon bewahrt." Nach dem Tod von Madeleine
begegnet Scottie Judy, die ihn an Madeleine erinnert. Tatsächlich ist sie
jene Frau, die er aus der Bucht gefischt, in seine Wohnung getragen,
abgetrocknet und in sein Bett gelegt hat. Judy hat die Rolle der Madeleine
nur gespielt. Er vermag das Original nicht zu erkennen, hält Judy trotz
aller Ähnlichkeit für eine andere und sucht mit ihrer Hilfe das scheinbar
verloren gegangene Original. All sein Bemühen zielt auf die Erscheinung, auf
Oberflächen und Hüllen.
In einem Hotelzimmer.
Judy: "Du willst mich nicht einmal berühren."
Scottie: "Doch, doch, das möchte ich schon!"
Judy: "Könntest du mich lieben - nur mich -, so wie ich bin? Am Anfang, als
wir zusammen waren, war alles so schön, so wundervoll ... und dann hast du
angefangen mit den Kleidern. Na schön, ich werde all diese Sachen anziehen,
wenn du's willst, wenn ich nur weiß, dass du mich gern hast."
Scottie: "Die Farbe deiner Haare!"
Judy: "Oh nein!"
Scottie: "Bitte - es kann dir doch nichts ausmachen."
Judy fügt sich, lässt sich ihre Haare hinten hochkämmen und im Nacken
zusammenstecken. Ob Madeleine oder Judy. Da wie dort hat die Kopie den Tod
des Originals zur Folge.
Das Hotel ist der ideale Ort für Handlungsreisende, Bankräuber und
Berufskiller. In Allen Barons Film "Explosion des Schweigens" (1961) betritt
der Auftragskiller "Frankie" Bono aus Cleveland, der über die
Weihnachtsfeiertage einen Job zu erledigen hat, mit einem Hotelangestellten
ein billiges Hotelzimmer. Während Frankie seinen Mantel ablegt, zieht dieser
die Vorhänge zurück und öffnet die Jalousien: "Hoffentlich werden Sie sich
bei uns wohl fühlen. Fröhliche Weihnachten." Der Hotelangestellte verlässt
das Zimmer. Stimme aus dem Off: "Eingetragen als Fred Moore aus Albany.
Voraussichtliche Dauer des Aufenthalts, eine Woche. Geschäftsreise." Der
Hotelangestellte öffnet noch einmal die Tür: "Wenn Sie irgend einen Wunsch
haben sollten, stehe ich Ihnen zur Verfügung. Fragen Sie nur nach George."
Bereits nach einem ungeplanten Mord wird das Hotelzimmer zu einem fraglichen
Fluchtpunkt. Frankie geht unruhig im Hotelzimmer auf und ab. Stimme aus dem
Off: "Keine Angst, du bist nicht gebrandmarkt, trägst kein Kainszeichen, war
ja nicht dein Bruder, aber sonderbar, eigentlich müsstest du eiskalt sein,
was ist mit dir, du bist schweißnass, hast wohl versucht beim
Hundertmeterlauf erster zu sein, rede dir nur ein, dass im Zimmer tropische
Hitze herrscht, übrigens, die Heizung ist abgestellt, natürlich kann man gut
schwitzen, und in diesem Schweiß wirst du bleiben bis man die Leiche
gefunden und deine kleine sportliche Laienübung gewürdigt haben wird." Gegen
alle Regeln des Kinos finden sich auch Berufskiller, die Hotelzimmer meiden.
Man denke etwa an Seijun Suzukis "Lied der Gewalt" (1966). Lange vor Coppola
lässt Suzuki das Haar einer Toten aus der Toilettenmuschel quellen. Und dann
das Waschbecken! Der Killer tötet einen Augenarzt, der eben dabei ist, ein
Glasauge zu reinigen, durch einen Schuss, den er aus einem darunter
gelegenen Raum durch das abmontierte Ablussrohr abfeuert. Die Kugel trifft
das Opfer mitten in der Stirn. Es kann auch der Mund gewesen sein. Hut ab.
Heute mangelt es ja an gutem Handwerk.
Rezeption und Portierloge, im Kino Orte der Indiskretion. Das Personal kann
unlautere Absichten verfolgen, die Polizei verständigen. In der
Morgenzeitung ein Bericht über einen Mord an einer Heiratsvermittlerin.
Verdächtigt werde ein Mann mit lederbesetztem Jackett. Der Portier ruft die
Polizei.
"He, Gladis, hast Du das gelesen?"
"Das arme Mädchen."
"Das Sportjackett. Hör mal, was hier steht. Die Polizei sucht dringend einen
Mann, der gesehen wurde, als er ungefähr zur Mordzeit die Heiratsvermittlung
verließ. Als er zuletzt gesehen wurde, trug er ein Tweedjackett mit
Lederflecken an den Schultern und Ellbogen sowie einen hellen Reisemantel."
"Komische Art, eine Jacke zu flicken."
"Darum ist es mir aufgefallen, Gladis. Der Bursche in 322 trug so eine."
"Du meinst Mr Oscar Wilde?"
"Das ist doch nicht sein richtiger Name, Gladis. Oscar Wilde, dass ich nicht
lache. Es ist der, der von der Polizei gesucht wird. Kapierst du, das ist
der Krawattenmörder. Und der ist oben im Amor-Zimmer. Ich will nur hoffen,
dass das Mädchen noch keine Krawatte umhat."
"Ausgerechnet im Amor-Zimmer."
"Weißt du Gladis, manchmal kommt mir schon das Kotzen, wenn ich daran denke,
was Männer mit Frauen alles treiben. ... ... ... Hallo, ich möchte die
Polizei. Ist dort die Polizei. Ich bin Portier im Coburg. Kommen Sie sofort.
Ich hab diesen Burschen, nach dem Sie suchen."
Im Gegensatz zur Wirklichkeit werden die Protagonisten oft genug von ihrer
eigenen Geschichte eingeholt, treffen sie auf Personen, die sie hier nicht
erwarten würden. Tatsächlich setzt eine erfolgreiche Bewirtschaftung
Diskretion voraus. Das Hotelzimmer ist kein Lebensort. Es bildet nur einen
Fluchtpunkt einer Unterbrechung. Jeder Aufenthalt ist nur ein Einschub. Wer
sich erschöpft auf das Bett wirft, tut dies schon im Gedanken an die
Abreise. Das Hotelzimmer ist ein leerer, ein geschichtsloser Ort, wenngleich
Gebrauchsspuren oder Gerüche uns nur zu deutlich das Gegenteil in Erinnerung
rufen. In solchen Zimmern können sich Leidenschaften wie Tragödien ereignet
haben.
Ich sitze abends im Eingangsbereich eines Hotels, in dem zumeist Busreisende
nur eine Nacht verbringen. Ein Mann mit einem Jungen quartiert sich ein. Die
Gesten sind nicht die eines Vaters. So berührt ein Vater sein Kind
üblicherweise nicht. So wie der Mann den Jungen betatscht, das deutet eher
auf erotisches Begehren. Auch sind die beiden allein. Mutter und Geschwister
fehlen.
"Ich hätte gerne ein Zimmer mit Bad, besser zwei Zimmer mit Bad."
"Haben Sie reservieren lassen, Mister ..."
"Humbert ist mein Name. Ich habe mich nicht vorgestellt."
"Ich bedaure. Wir sind besetzt. Wir haben kein Bett mehr frei. Wir haben
eine Polizeitagung im Haus ..."
"So?"
"Ist es für Sie und die Kleine."
"Ja, wir sind sehr müde."
Der Hotelangestellte zur Seite gewandt: "Mr Potts, wie war das mit dem
Zimmer für Mr Lang."
"Er hat angerufen und abgesagt."v
"Dann könnten Sie in 241 einziehen. Es hat aber nur ein Bett."
"Vielleicht könnten Sie noch eine Couch auftreiben oder ein Klappbett."
"Haben wir noch ein Feldbett frei?"
"Die haben wir alle für die Herren der Polizei aufgestellt."
"Trotzdem wird das Zimmer ausreichen. Sie werden sehen. Sie werden sehr
zufrieden sein. Das Zimmer ist reich bemessen. Neulich haben drei Herren
darin übernachtet."
"Es wird schon gehen, selbst wenn meine Frau noch nachkommen sollte. Ich bin
zufrieden, dass wir wenigstens das haben."
"Wollen Sie sich bitte eintragen ..."
"Ja, gerne. ... Was war das für eine Tagung oder Konvention, von der Sie
vorhin sprachen."
"Es ist eine Tagung höherer Polzeiangestellter, die in unserem Hotel
abgehalten wird."
In Stanley Kubricks Film "Lolita" (1962) reist der Literaturwissenschaftler
Humbert mit seiner Stieftochter Lolita, die er krankhaft begehrt und deren
Mutter er nur geheiratet hat, um ihrer Tochter nahe zu sein, durch die USA.
In einem Hotel versucht er ihr näher zu kommen. Lolita zeigt sich
widerspenstig, scheint wenig Lust zu haben, ihrem Stiefvater zu nahe zu
kommen. Die beiden allein in einem Hotelzimmer.
Lolita: "Also so hast du dir das gedacht?"
Humbert: "Meinst du ..."
"Ja."
"Ich versteh nicht. ... Weißt du, ich hab doch unten den Portier gefragt, ob
sie ein Feldbett haben oder eine Couch."
Lolita in lassziver Pose auf dem Bett: "Eine Couch. Du bist ja verrückt."
"Ich versteh nicht."
"Ganz einfach. Wenn meine reizende Frau Mama herauskriegt, dass wir hier ...
dann lässt sie sich von dir scheiden und mich erwürgt sie."
"Ich denke vor allem praktisch. Ich empfinde als Vater große Zärtlichkeit
für dich und so lange deine Mutter krank ist, bin ich für dein Wohlergehen
verantwortlich, und so lange wir reisen, werden wir sparen müssen. Wir
werden viel aufeinander angewiesen sein, zwei Menschen, die ein Zimmer
teilen müssen, kommen ... wir sind viel zusammen, sind sehr intim."
Lolita streift ihre Schuhe ab: "Hat das mit der Couch zu tun? Lass uns doch
runtergehen und fragen."
Für Liebende ist das Hotelzimmer ein neutraler Ort, weder Ort des einen,
noch Ort des anderen. Der Ort ermöglicht keinen Verweis auf die Geschichte
des anderen. So bleibt Raum für Phantasien, Wünsche und Begierden.
Vielleicht gibt es keinen Ort, wo sie sich näher sein könnten, zumindest in
jenem Zustand, in welchem die Zukunft noch eine unbrauchbare Kategorie ist.
"Was willst du als nächstes unternehmen?"
"Ich bin mir darüber noch nicht im Klaren. Es hängt ganz von dir ab."
"Von mir?"
"Natürlich. Du bist doch mein Maskottchen. Nicht wahr? Auf uns, auf eine
lange, eine ehrliche Freundschaft. Ich werde dich nämlich von jetzt an nicht
mehr aus den Augen lassen, wenn du nichts dagegen hast, mein Herzblatt."
"Wenn ich doch etwas dagegen habe?"
"Oh nein."
"Ich habe meine eigenen Pläne, musst du wissen. Und du hast deine Probleme."
"Wäre es nicht möglich, dass sich meine Probleme und deine Pläne irgendwie
miteinander verbinden ließen? Dann brauchten wir uns auch niemals mehr zu
trennen. Wir würden es nie mehr nötig haben allein zu arbeiten,
zusammenhalten. Verstehst du was ich meine?"
Oder [die beiden haben sich eben aus einer leidenschaftlichen Begegnung
gelöst]:
Er: "Geht's dir gut?" Sie: "Ich bin ein bißchen müde. Ich arbeite viel zu
viel. Ich habe mir gerade eine neue Wohnung gekauft. Ich hab mein ganzes
Geld investiert. Ich kann mich jetzt von meinem Vater und meinen Schwestern
lösen." "Es war sehr schön. Viel besser als vor unserer Trennung." "Seit der
Trennung sind wir viel entspannter." "Wir dürfen einfach kein Liebespaar
sein. Denn dann streiten wir uns nur. Kommst du mit zu meiner Galerie. Da
sind im Moment Gemälde von einer jungen Malerin zu sehen. Die werden dir
bestimmt gefallen." "Geht nicht. Sonntag abend muss ich zum Essen zu Hause
sein."
Jedes Hotelzimmer kennt seine Geschichte. Menschen haben sich hier geliebt,
haben andere betrogen, haben sich hier versteckt, möglicherweise hat sich
hier jemand das Leben genommen, wurde jemand getötet, haben sich Menschen
erbrochen, geschlagen, sind Menschen einsam und stumm nebeneinander gelegen,
haben sich Menschen betrunken oder wurden Menschen von fürchterlichen
Alpträumen geplagt. Mit dem Bezahlen und der darauffolgenden Reinigung des
Zimmers ist alles aufgehoben. Geschichte gäbe es nur dort, wo diese auf
konkrete Menschen und Ereignisse verwiese. Aber in einem Hotel verweist
alles nur auf uns selbst. Je teurer ein Hotel, umso mehr wird darauf
geachtet, alle Spuren zu tilgen. In billigen Hotelzimmern wird
Geschichtslosigkeit eher symbolisch hergestellt. Mag das Bett auch neu
überzogen sein, so riecht es doch nach Moder. Trotz verpackter Seife sind in
der Duschkabine Haare nicht zu übersehen. Da hilft auch nicht, liegt auf dem
Toilettendeckel ein in mehreren Sprachen abgefasster Hinweis: "Diese
Toilette wurde desinfiziert."
Auch in der Realität kippt manchmal die scheinbar saubere Wirklichkeit,
nicht zufällig an den Schnittstellen des Hotels, an der Bar, im Gastraum.
Eine Hotelerfahrung habe ich besonders eindrücklich in Erinnerung. Da die
Tauernautobahn wegen heftigen Schneetreibens kaum noch zu befahren war,
suchten wir in Tamsweg nach einem Hotel. Ich blieb nach dem Essen allein
sitzen und notierte mir die Eindrücke des vergangenen Tages. Am Nebentisch
eine Gruppe junger Männer aus dem örtlichen Umfeld. Gut gelaunt. Später
gesellte sich ein Bursche zu ihnen, der sehr niedergeschlagen schien. Dies
tat der guten Stimmung keinen Abbruch. Er gehörte dazu, dann aber doch
nicht. Er sprach kaum, war einsilbig. Einige hänselten ihn, andere
versuchten ihn etwas aufzuheitern. Die Freundin des Burschen hatte sich vor
wenigen Tagen das Leben genommen. Obwohl endlich ausgesprochen hatte die
traurige Geschichte weitere scherzhafte Bemerkungen zur Folge. Zweifellos
ging dieser Bursche noch einsamer nach Hause, als er gekommen war. Während
der Nacht wachte ich aus einem Alptraum auf, irrte durch das Appartement,
suchte etwas im Kühlschrank, wusste aber nicht was. Ich war mitten in der
Geschichte des jungen Burschen, allerdings ohne Ordnung oder Klarheit.
Wahrnehmungs- und Sprachverwirrungen, Perspektivenver-schränkungen, die nur
Gestammel, aber keine Rede zur Folge haben. Jean-Luc Godard, "Rette sich wer
kann - Das Leben" (1979). Das Gesicht von Isabelle, die auf einem Bett
liegt, in Großaufnahme. Sie dreht ihren Kopf in einer gleichmäßigen Bewegung
hin und her, stöhnt. Paul Godard, der nicht zu sehen ist: "Gib Dir keine
Mühe. Tu nicht als ob ..." Eine Frauenstimme aus dem Off: "Sie hatte die
Augen geschlossen. Es würde lange dauern. So konnte sie an den
bevorstehenden Tag denken. Zuerst würde sie ihre Sachen ordnen, damit alles
einwandfrei aussähe, alles ... Nicht zu vergessen Spiegel, Kupfer,
Vorhangschnüre ... und Fenster. Damit alle sehen, dass alles nur auf ihr
lastet. Den Spengler anrufen, damit er sofort kommt, sonst würde niemand
wissen, wieviel es zu tun gab, sonst wäre man zu einem schmerzhaften Tod
verurteilt."
Das Kino lebt von der Verletzung von Konventionen, von dem, was
üblicherweise nicht geschieht. In Luis Buñuels Film "Er" (1953) deutet ein
Ehemann, er ist mit seiner jungen Frau auf Hochzeitsreise, in seiner
Eifersucht, die ihn in den Wahnsinn treibt, die Geräusche, die er aus dem
Nebenzimmer hört, falsch. Es kommt zu einem Eklat. In der Regel sind
Hotelzimmer, deren Benutzer sich nicht kennen, streng voneinander
geschieden. Nur in Ausnahmesituationen werden die Räume durchlässig. Heutige
Hotelanlagen sind grundlegend entmischt, dies sowohl räumlich wie auch die
Interaktionen aller Beteiligten betreffend, was sich entscheidend auch einer
bestimmten Raumstruktur verdankt. Ein großer Hotelbetrieb ist ohne
Hinterbühne nicht denkbar. Er bedarf zahlloser Funktionsräume, angefangen
von Lager- und Heizräumen, bis hin zu Räumen, die für die Lagerung und
Zubereitung des Essens dienen, oder Räumen, die der Verwaltung oder der
Observation jener Bereiche dienen, die wie Gänge von allen Hotelgästen
frequentiert werden. Kaum ein Hotelgast kann sich die sehr funktionalen
Räume in Kellern vorstellen, von denen aus etwa Bars oder Gasträume mit
unterschiedlichsten Getränken versorgt werden. Beeindruckende
Leitungssysteme. Aluminiumfasser. Großgebinde, die sachlicher nicht sein
könnten. Wir hatten als Stammgäste eines Hotels das Glück, die
Weihnachtsfeiertage in einem Hotel zu verbringen, welches geschlossen hatte.
Selbst wenn man sich das Essen nicht selbst zubereitet, die Hotelküche
meidet, so muss man doch bis zu einem gewissen Grad den Hausmeister spielen,
wodurch man auch in Räume gelangt, die einem sonst vollkommen verschlossen
bleiben. Das Funktionieren moderner Hotelanlagen verdankt sich entscheidend
der Entmischung. Sie erst schafft ein reibungsloses Funktionieren, das
"Zusammenleben" von Gästen mit sehr unterschiedlichem kulturellem
Hintergrund. Die Entmischung dient der Beschleunigung, der Minimierung aller
denkbaren Reibungen. Richard Sennett hat darauf aufmerksam gemacht, dass die
freie Bewegung die sinnliche Wahrnehmung vermindert, "die Erregung durch
Orte oder die Menschen an jenen Orten. Jede starke körperliche Bindung an
die Umgebung droht, das Individuum dort festzuhalten." Dem Gast werden
Wahlmöglich-keiten versprochen, tatsächlich wird er zu einem Objekt der
Bearbeitung. Ein Hotel organisiert die Wahrnehmung, schafft präformierte
Blicke. Dies gilt für die Gäste gleichermaßen wie für jene, die hier
beschäftigt sind. Bezeichnender Weise kann Norman Bates nicht sehen, was die
Frau auf der anderen Seite beschäftigt, er kann ihre Geschichte nicht
begreifen, er sieht das Geld nicht, welches es ihm ermöglichen würde,
wegzugehen und ein neues Leben zu beginnen. Er bleibt in seiner eigenen
Geschichte, in seinem präformierten Blick gefangen.
Heute entwickeln sich Hotels zu herdenmanagementmäßig bewirtschafteten
Raumstrukturen mit Abläufen, die möglichst ohne Personal funktionieren
sollen. Wie der heutige Mensch angehalten ist, seine Möbel selbst
zusammenzubauen oder Aufgaben zu übernehmen, die früher einmal im Preis
inbegriffen waren, so soll er sich im Hotel selbst einchecken, das Zimmer
selbst finden. Immerhin gibt es für die hinterlassene Unordnung noch
Personal. Hotels haben sich von Aufenthalts- zu Transitorten, zu Nicht-Orten
gewandelt. Marc Augé hat darauf hingewiesen, dass solche Orte durch
Piktogramme oder Texte definiert werden, wobei Informationen, Verbote oder
Vorschriften an Zeichen des Straßenverkehrs oder Symbole von Reiseführern
erinnern. In den Bedingungen "für den Verkehr in Räumen" ist der Gast
angehalten, mit Texten zu interagieren. Im Idealfall ist die Architektur
bereits selbst Gebrauchsanweisung. Houellebecq schreibt, die Logik, die
solcher Architektur zugrunde liege, laufe darauf hinaus, "die Herstellung
solcher Beziehungen zu erleichtern, die sich zügig erneuern lassen [...],
folglich eine konsumorientierte Durchlässigkeit zu fördern, die auf einer
Ethik der Verantwortung, der Transparenz und der freien Wahl gründet."
"Im Schnitt sind die Zimmer alle gleich", so der Rezeptionist im Jack Tarr
Hotel. Ihre Uniformität reduziert nicht nur die Kosten ihrer Errichtung und
Einrichtung, sie erleichtert auch die Bewirtschaftung, das serielle
Abarbeiten von Räumen und Menschen durch das Personal. Bewegungen lassen
sich nur dann automatisieren, unterscheiden sich die Objekte der Bearbeitung
nicht. Es ist die Gestik des Fließbandes, mögen sich in Hotels statt
Werkstücken Menschen bewegen. Es gibt Hotels, in denen in jedem Zimmer
dieselben Bilder hängen, indifferente, stimmungsvolle Landschaftsaufnahmen,
zugeschnitten auf ein heterogenes Publikum. Gut denkbar, dass sich
Kongressbesucher, die wiederkehren, heimisch fühlen, obwohl sie in einem
anderen Zimmer, in einem anderen Stockwerk untergebracht sind, obwohl ihr
Blick statt in den Innenhof eines benachbarten Klosters auf die rückseitig
gelegene Bergkette fällt. An Nicht-Orten wird der einzelne, er ist vor allem
Passagier, von seinen gewöhnlichen sozialen Fixierungen befreit.
Früher einmal waren Hotels Aufenthaltsorte. Dies gilt insbesondere für Grand
Hotels des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Man hielt sich nicht nur
länger auf, sondern fuhr hin, um unter sich zu sein, zumindest unter
Menschen der eigenen Gesellschaftsschicht. Während der heutige Hotelbesucher
anonym sein will, den Kontakt mit anderen Hotelgästen geradezu scheut,
wollte man gesehen werden, Menschen treffen, mit denen man auch im urbanen
Leben zu tun hatte. Manche Grand Hotels ließen täglich eine Zeitung drucken,
um die Gäste mit Klatsch zu unterhalten. Die Hotelgäste wurden nicht nur
über die Speisekarte, gesellschaftliche Anlässe wie Konzerte, sondern auch
über die Ankunft oder Abreise von anderen Gästen unterrichtet. Dass diese
Art von Geselligkeit oder Indiskretion von manchen bereits damals als
unangenehm empfunden wurde, lässt sich zahllosen literarischen Texten
entnehmen, so etwa Octave Mirbeaus Roman "Nie wieder Höhenluft" aus dem Jahr
1901, in dem der Ich-Erzähler unangenehmen Figuren seines urbanen Umfelds
oder seiner Vergangenheit begegnet.
Was Diskretion, Anonymität oder Geschwindigkeit betrifft, all das wurde im
Stundenhotel vorweggenommen, welches alle Akteure zu Zeichenleser gemacht
hat. Jean-Luc Godard hat dies in seinem Film "Die Geschichte der Nana S."
(1962) durchgespielt. Das Zimmer eines Stundenhotels, eigentlich müsste man
Minutenhotel sagen, beschränkt alle denkbaren Handlungen auf einige wenige.
Nana S. wird von ihrem Zuhälter, während einer Autofahrt durch Paris in die
Marktgesetze der Prostitution eingeführt. Grundlage dieser Einführung ist
die von Godard verwendete Dokumentation "Ou en est la prostitution?" von
Marcel Sacotte. Sie: "Bekomme ich ein eigenes Zimmer?" Er: "Die meiste Zeit
werden zwischen zwei Vermietungen nicht einmal die Bettücher gewechselt,
sondern nur die Handtücher. In manchen Hotels haben die Betten keine Decken,
sondern nur ein Bettuch ..." Dieser Dialog, vielleicht die kürzeste und
prägnanteste Theorie der Prostitution, ist in eine Reihe von kurzen
Bildsequenzen montiert, die sich fast ausschließlich auf das beziehen, was
im Hotelzimmer geschieht: Nana S. betritt mit einem Kunden das Zimmer.
Schnitt. Die Tür wird geschlossen. Der Kunde legt Schal und Mantel ab.
Schnitt. Blick auf die Nachttischlampe. Schnitt. Er kämmt sich. Schnitt.
Der Kunde zieht sich sein Hemd über den Kopf. Schnitt. Sie steigt mit einem
Kunden aus dem Lift aus. Schnitt. Eine Bettdecke wird zurückgeschlagen.
Schnitt. Die Füße von Nana S. Sie ist eben in ihre Schuhe geschlüpft.
Schließt zuerst den schmalen Riemen des linken, dann des rechten Schuhs.
Schnitt. Sie kämmt sich. Schnitt. Sie betritt mit einem Kunden den Lift.
Schnitt. Die Tür des Hotelzimmers wird von innen verschlossen. Schnitt. Ein
Kunde umarmt sie. Sie lässt es sich gefallen. Sie raucht und blickt
teilnahmslos in die Kamera. Schnitt. Die Hand eines Kunden reicht das Geld,
nach dem sie greift. Schnitt. Ein Zimmermädchen bringt frische Handtücher.
Und so weiter.
Sechs Jahre später. François Truffaut, "Geraubte Küsse" (1968). Antoine
Doinel betritt mit einer jungen Prostituierten ein Stundenhotel, läuft an
der Concierge, auf seine Uhr blickend, vorbei, die Stiege hoch. Die
Prostituierte: "Mensch, hast du's aber eilig. Zahl erst mal das Zimmer."
Antoine steigt die enge Stiege wieder herunter. Concierge: "Macht acht
Franc." Zur Prostituierten: "Stell dir vor, Jeanette hat sich schnappen
lassen." "Schon wieder. Das dritte mal in dieser Woche. Wir müssen ihr was
auf's Polizeirevier zu Essen bringen." "Das fehlte noch. Mit mir braucht sie
nicht zu rechnen." Die beiden steigen die Stiege hoch. Die Concierge aus dem
Off: "Ich kann hier nicht weg. Ich bin hier festgenagelt." Die beiden
betreten ein schäbiges Zimmer. Kaum hat sie die Tür geschlossen, küsst
Antoine sie auf den Mund. Sie entwindet sich ihm: "Nein, nein. Nicht auf den
Mund." "Warum denn nicht?" "Von Kunden lasse ich mich nicht küssen." Antoine
streicht über ihre Haare. "Lass meine Haare in Ruhe. Ich hab gerade Spray
drauf getan." Antoine umfasst sie von hinten, streicht über ihre Brüste,
schiebt in einer raschen Bewegung ihren Pulli hoch. "Nein, ich behalt den
Pulli an, ich hab gerade Bronchitis gehabt." Sie geht zum Waschbecken und
dreht das Wasser auf: "Komm her, ich wasch dich." Antoine dreht sich um,
verlässt das Zimmer. Sie: "Wo gehst du hin?" Antoine: "Schon gut, schon gut."
Konflikte brechen zumeist dann auf, kommt es zu längeren Zwangsaufenthalten,
sei es durch Mur- oder Lawinenabgänge, ist ein Hotel einfach nur
eingeschneit und eine Abreise unmöglich. In Ingmar Bergmans Film "Das
Schweigen" (1963) kommt es während eines Zwangsaufenthalts in einem Hotel,
bedingt durch Kriegsvorbereitungen wie den Zusammenbruch von Ester, zu
heftigen Auseinandersetzungen der beiden Schwestern. Mehr oder weniger alle
Beschreibungen dieses Films betonen den Hintergrund, das fremde Land, die
unverständliche Sprache. Tatsächlich jedoch wird diese Fremdheit erst im
Hotelzimmer als solche erlebt. Der Panzer, der vor dem Fenster des
Hotelzimmer stehen bleibt, scheint pittoresk bemalt, aber er ist es nur,
weil wir ihn aus dem Hotelzimmer betrachten. Bergman, ein Meister im Umgang
mit dem Ton - an manchen Stellen wird der Ton ausgeblendet, während an
anderen sich die Geräusche in fast penetranter Weise in unser Bewusstsein
schieben, knüpft an Erfahrungen an, die wir alle aus Hotelzimmern kennen.
Dort hören wir Geräusche, die wir sonst nie hören würden. Türen, die
geöffnet und geschlossen werden, die Fernsehapparate anderer Zimmer,
Stimmen, Wasserleitungen und Toiletten, den Lärm der Straße. Auch in Godards
Film "Rette sich wer kann - Das Leben" (1979) findet sich ein Blick aus dem
Hotelfenster auf einen vorbeifahrenden Zug. Auch er ist mit Panzern beladen.
Auch bei Godard eine Sprachverwirrung, eine Verwirrung von Ton und Bild.
Geräusche wie Gesprochenes passen nur selten mit den Bildern zusammen, die
Akteure sprechen zwar miteinander, sprechen aber meist aneinander vorbei.
"Ja" kann "nein" bedeuten, die Gedanken können ganz wo anders sein. Anwesend
und abwesend zugleich.
Das Familiendrama in Stanley Kubricks Film "Shining" (1980) kann sich nur
zutragen, weil das Overlook-Hotel, ein labyrinthartiger Gebäudekomplex in
den Bergen von Colorado, über den Winter geschlossen hat und der als
Hausmeister angestellte Schriftsteller Jack Torrance mit seiner Familie
allein im Hotel zurückbleibt, eingeschneit und von der Außenwelt
abgeschlossen. Auffallenderweise wird das Hotel zu einem Ort, der mit
Geschichte geradezu überfrachtet ist. Ein früherer Hausmeister hat vor
einigen Jahren während des Winters seine Frau, seine zwei kleinen Töchter
und sich selbst getötet. Diese Vergangenheit hat ihren Ort im verbotenen
Zimmer Nummer 237. Die Mädchen, obwohl ermordet, treten auf. Nicht zufällig
ist auch eine Badewanne von Bedeutung. Jack entdeckt in der Badewanne eine
junge, hübsche und nackte Frau. Als sich die beiden küssen, fällt sein Blick
in den Spiegel des Badezimmers. Er hält die verwesende Leiche einer alten
Frau in den Armen. Stephen King reagierte auf die Verfilmung seines Romans
enttäuscht. Statt das Hotel zur eigentlichen Hauptperson zu machen, habe
Kubrick eine häusliche Tragödie gedreht.
Ein schönes Bild, sich ein Hotel, und zwar in Abwesenheit all jener, die zu
seinem Funktionieren nötig sind, als Lebewesen vorzustellen, als gefräßiges
Monstrum. Mit einem mitteilsamen Organismus, der Leintücher, Waschbecken,
das in Laden liegende Essbesteck beredt macht, zum Sprechen, zum Klirren
bringt. Es verdankt sich Zufällen, dass wir mehrfach in zwei Hotels
übernachtet haben, in denen sich nicht nur Sigmund Freud aufgehalten hat. In
beiden Hotels hat sich die Einrichtung in den letzten hundert Jahren nicht
wesentlich geändert. Da wie dort wird noch das schwere silberne Besteck
aufgedeckt. In einem der beiden Hotels ging während einer Nacht, die wir
dort verbrachten, ein heftiges Gewitter nieder. Herabfallende Äste,
umstürzende Bäume hinterließen einen Ort der Verwüstung. Nur unser Auto war
nicht zerstört. Mit Freud hatte das freilich nicht das Geringste zu tun. Wo
käme man hin, würde man sich darüber Gedanken machen, welches Glas von
welchen Menschen bereits benutzt wurde. Es scheint mir eine große
kulturgeschichtliche Errungenschaft, dass wir dies gefahrlos tun können.
Die Geschichte eines Hotels verdankt sich einzig den Menschen, von denen es
frequentiert wurde. An eine Hotelgeschichte kann ich mich sehr gut erinnern,
und zwar auf den Tag genau. Es war der 31. Oktober 1993. Das Datum ist mir
in Erinnerung geblieben, da an jenem Tag Federico Fellini starb. Ich hatte
mich mit einer Freundin in einem Hotel am Gardasee einquartiert. Saisonende,
der letzte Tag, an dem das Hotel noch geöffnet hatte. Im italienischen
Fernsehen liefen Filme von Fellini. Wir hatten zuvor in einem Lokal, die
rotgepolsterten Sitzgarnituren sehe ich heute noch vor mir, sehr viel
getrunken. Die Rezeption war voller Priapsfiguren, manche in eregiertem,
andere in erschlaffendem oder völlig schlaffem Zustand. Alles war so
komisch, als bewegten wir uns selbst in einem Film von Fellini.
Bernhard KATHAN, 2014