Die blaue Gefahr
Nun haben wir doch keinen Bundespräsidenten, dessen Gedankengut tief in der
NS-Zeit verwurzelt ist. Glücksgefühle können nicht aufkommen, sind doch alle
politischen Institutionen in diesem Land zutiefst beschädigt. Auf einem der
Hofer-Plakate stand zu lesen: "Das Recht geht vom Volk aus." Artikel 1 der
Verfassung lautet allerdings anders: "Österreich ist eine demokratische
Republik.
Ihr Recht geht vom Volk aus." Das ist ein entscheidender
Unterschied. Nun sind wir endgültig in der
Gefällt-mir-/Gefällt-mir-nicht-Welt angekommen, in der statt Argumenten
Stimmungen zählen, in der an die Stelle des Interessenausgleichs die
Ausgrenzung tritt. All das verdankt sich maßgeblich der FPÖ. Aber in anderen
Parteien fehlt es nicht an Trittbrettfahrern, die vorgeben, die Nöte und
Ängste der Menschen ernst zu nehmen, dabei aber vor allem an Stimmen, an
Stimmung denken. Auch sie haben maßgeblich zur Beschädigung der politischen
Institutionen in diesem Land beigetragen. Beispielhaft seien hier Johanna
Mikl-Leitner und Sebastian Kurz genannt.
Ich habe mich im März und April dieses Jahres, bezogen auf die
Asylproblematik, sechs Wochen lang mit Wortschöpfungen von Johanna
Mikl-Leitner und Sebastian Kurz wie den Echos in den Leserbriefseiten der
KRONENZEITUNG beschäftigt: "Kettenreaktion der Vernunft", "Domino-Effekt auf
der Westbalkanroute", "Wir sind fest entschlossen, die Grenze zu sichern",
"Die Festung Europa ...", "Es kann an der Grenze zu unschönen Szenen
kommen", "Wenn es notwendig ist, dann werden wir weitere Zäune wie in
Spielfeld bauen und mit Polizisten und Soldaten vor Ort sein" etc. Einige
Echos aus den Leserbriefspalten der KRONENZEITUNG: "GRENZFROTZELEI: "Mit
großem Tamtam werden an der Grenze unter dem neuen ‚schlagkräftigen'
SVÖVP-Tandem Doskozil-Mikl-Leitner Scheinzäune errichtet, Maschendrahtzäune
(!), die schon von einem einzelnen unbegleitetem minderjährigen
‚Flüchtling', ohne Zuhilfenahme leichten Werkzeugs eingedrückt werden
können. Was ist dann mit in Tausendschaften anrückenden ‚Schutzsuchenden'?
Eine Farce! Eine echte Frotzelei der von der Asylantenwelle schon genug
geplagten Österreicher." - "FESTUNG EUROPA: Eine Festung kann nur dann
funktionieren, wenn man das eigene Land mit allen zur Verfügung stehenden
Mitteln verteidigt. So wurden auch die beiden Wiener Türkenbelagerungen
erfolgreich abgewehrt. Und Europa scheint noch lange nicht bereit zu sein,
aus Europa eine Festung zu machen. Somit sind wir dem Ende sehr nahe. Die
jüngsten Terroranschläge von Paris und Brüssel waren leider erst der
Anfang." - "BOMBENTERROR: Es ist schrecklich und zum Verzweifeln, was zur
Zeit in Europa passiert. Die EU, seinerzeit als Friedensunion angepriesen,
ist auf allen Linien gescheitert! Die freien Grenzen haben sich nicht
bewährt, sie öffnen der Kriminalität und dem Terrorismus Tür und Tor. Und
trotzdem gibt es noch Gegner von scharfen Grenzkontrollen, deren Motto es
ist, alle Flüchtlinge hereinzulassen. Die Welt ist ein Tollhaus geworden,
die Folgen dieser Terroranschläge sind unabsehbar. Eine traurige Welt, die
wir unseren Nachkommen hinterlassen, und trotzdem ist Europa bereit,
Unmengen an Flüchtlingen, welche nicht immer lautere Absichten haben,
aufzunehmen!"
Wie darauf antworten? Sich mittels Postings entladen? An Demonstrationen
teilnehmen? Einen Artikel schreiben, den keine Zeitung druckt, und wenn, den
dann kaum jemand lesen wird? Etwa daran erinnern, dass die "soziale
Heimatpartei" nach wie vor in der Tradition einer Ideologie steht, welche
Abermillionen Vertriebene zur Folge hatte. Allein 12 - 14 Millionen
Deutschsprachige wurden aus Ost- und Südeuropa vertrieben. Etwa daran, dass
die vertriebenen Volksdeutschen alles andere als willkommen waren. Daran,
dass sich heutige Stereotypen nicht wesentlich von den damaligen
unterscheiden. Man habe den Vertriebenen in der Bessarabiastraße Wohnungen
gebaut. Sie seien aber unfähig, darin zu wohnen. Sie würden in der Badewanne
Schweine schlachten etc. etc. Nein. Es bleibt nur eine mönchische Haltung,
die einem Disziplin abverlangt, dabei unterschiedlichste Betrachtungen
erlaubt. Warum nicht täglich einige Stunden abschreiben. Zum Beispiel
Leserbriefe der KRONENZEITUNG. Dabei geht einem ziemlich viel durch den
Kopf. Etwa die Setzung von Anführungs- und Rufzeichen. Wird etwa das Wort
Flüchtling unter Anführungszeichen gesetzt, so unterstellt der
Leserbriefschreiber, dass es sich bei den Flüchtlingen um nicht wirkliche,
also unechte Flüchtlinge handle. Besonders auffallend der exzessive Gebrauch
von Rufzeichen. "Der Wald ist grün." Wir wissen das. Niemand wird das
bezweifeln. In den Leserbriefen der KRONENZEITUNG können auch solche Sätze
mit einem Rufzeichen enden. Der exzessive Gebrauch von Rufzeichen belegt
zweierlei: Zum einen mangelnde Argumentation, zum anderen die erlebte
Dringlichkeit. In letzter Konsequenz bestünde der ultimative Leserbrief nur
noch als Rufzeichen, was aber seine Inhaltsleere offensichtlich machen würde.
Es ist keine erbauliche Angelegenheit, schreibt man einige Wochen
Leserbriefe aus der KRONENZEITUNG ab. Darin aufgehen lässt sich erst dann,
verarbeitet man das Gedruckte zu Texturen, zu graphischen Flächen. Welche
Bilder bemühen? Stacheldraht oder Grenzbefestigungen, das schien mir zu
platt. Zuerst dachte ich an die Struktur von Quarantäneanlagen wie wir sie
von der Bekämpfung des Ebolavirus kennen. Das lag auf der Hand, tauchten mit
den Flüchtlingen doch viele Infektionsbilder auf, was Einmalhandschuhe von
Hilfs- oder Einsatzkräften nur zu gut belegen. Bei den Einsatzkräften ist
der Mundschutz inzwischen durch das Visier abgelöst worden. Das war mir zu
wenig poetisch. Aber dann kam mir Maurice Renard zu Hilfe.
In seinem Roman "Die blaue Gefahr" (1910), Walter Benjamin hat sich mit ihm
beschäftigt, verschwinden in einer ländlichen Gegend Frankreichs plötzlich
viele Dinge auf merkwürdige Weise, der Hahn vom Kirchturm, Gartenfiguren,
die ersten Tiere, dann auch Menschen. Es regnet Blut, hagelt Eingeweide,
Füße, Arme, Schenkel, kunstgerecht sezierte Körper. Die Dörfer entvölkern
sich. Wer bleibt, wagt sich nicht mehr aus dem Haus. Viele erhängen sich an
Bäumen oder Wegweisern, andere versuchen sich durch die Berührung von
Stromleitungen das Leben zu nehmen. Die Flüsse schwemmen Leichen an, auf den
Geleisen der Eisenbahn liegen zermalmte Körper. Gestank verbreitet sich über
der Gegend. In einer Art Raumschiff, welches über den betroffenen Dörfern
schwebt, beschäftigen sich der Empathie unfähige, aber intelligente
Lebewesen mit Vivisektion. Sie betreiben zwar auch anatomische Studien an
lebenden Menschen und Tieren (die so angefertigten Präparate gelangen dann
in eine naturkundliche Schausammlung), neben Paarungsversuchen gilt aber ihr
Interesse vor allem dem Verhalten von Gasen bei Über- bzw. Unterdruck.
Tatsächlich haben wir es heute mit vielen Phänomenen zu tun, die an das
Verhalten von Gasen bei variierenden Druckverhältnissen denken lassen. Man
denke etwa an die Globalisierung. Da Arbeitskräfte in China wesentlich
billiger sind, sinkt in Europa in bestimmten Segmenten die Nachfrage nach
Arbeitskräften. Wir haben es also mit einem Druckausgleich zu tun. Absaugen,
zum Verschwinden bringen, im Staubsauger, im Allesmuser. Lautlos, und das
noch an jedem Ort, wo immer sich ein fragwürdiges Objekt bemerkbar macht.
Ohne unschöne Szenen an der Grenze.
Ich ließ also Flugzeuge über die Stümmelsprache fliegen, Flugzeuge, die mit
zwei langen Saugrohren ausgestattet sind. Das eine saugt Menschen ab, das
andere trinkt die Herzen aus. Johanna Mikl-Leitner ist inzwischen nicht mehr
Innenministerin. Aber sie hat wesentlich dazu beigetragen, dass humanitäre
Angelegenheiten heute in den Aufgabenbereich der Polizei und des
Verteidigungsministeriums fallen. Mag Hofer auch nicht Bundespräsident
geworden sein, so schwebt doch über uns tatsächlich die blaue Gefahr.
© Bernhard Kathan 2016
PS.: Diese wie andere Texturen sind käuflich zu erwerben. Sie fügen sich
bestens in jedes Schlafzimmer, in jede Arztpraxis.
Abb. oben: "Johanna Mikl-Leitner und Sebastian Kurz trinken die Herzen von
Menschen aus"
Abb. unten: "Die Erschießung der Marussja Omeltschenko am 17. November 1943
in der Nähe von Uman"
144,5 x 91cm
Preis: 440,00