IM LAND DER TRÄUMER – MIT HERMANN BROCH DIE KRONEN ZEITUNG LESEN
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Der Traum setzt mit zwei Schlägen ein. Der Träumende hört im Schlaf zwei
Uhrenschläge von einem benachbarten Kirchturm, den schwächeren
Viertelstunden- und den stärkeren Stundenschlag; es ist ein Viertel nach
zwölf. Zwei Eindringlinge stehen vor der Tür und haben angeklopft. Die
beiden sind mit Sack, Pistole und Messer ausgerüstet. Es sind Mörder und
Diebe, Eindringlinge, feindliche Gestalten. In den Traum schieben sich aus
dem Erinnerungs- und Bildervorrat des Schläfers Verse aus Goethes
Kindergedicht „Die wandelnde Glocke“: „Es war ein Kind, das wollte nie zur
Kirche sich bequemen / und sonntags fand es stets ein wie / den Weg ins Feld
zu nehmen.“ Ein Kind, das lieber im Freien herumtollt, anstatt in die Kirche
zu gehen, wird von einer Kirchturmglocke verfolgt und eingefangen. Dem
Gedicht entsprechend sind die beiden Eindringlinge mit glockenförmigen
Mänteln bekleidet, während ihre Gesichter schemenhaft bleiben, hatte doch
die wandelnde Glocke auch kein deutliches Gesicht besessen. Entsprechend der
größeren und der kleineren Kirchenglocke ist der eine Eindringling größer,
der andere kleiner. Plötzlich stehen die beiden im Zimmer. Der Träumer hat
vergessen, den Riegel vorzuschieben. In seiner Todesangst bittet er den
größeren der beiden Verbrecher um den Revolver. Plötzlich, ohne Übergang,
steht er zwischen den beiden Gestalten.
Diesen Traum beschreibt und analysiert Hermann Broch in seiner
Massenwahntheorie. Um den Traum an sich ging es ihm nicht, vielmehr
betrachtete er ihn als Ausgangsmaterial für weitere Überlegungen.
Bezeichnenderweise nennt Broch den Träumenden „Versuchsperson“. Er war der
Überzeugung, dass auch „lebendige“ soziale Gruppierungen oder Organisationen
so etwas wie Träume kennen würden: „Der Mensch in sozialen Tagträumen, von
denen der ökonomische einer unter vielen ist, bewegt sich zwar nach
rationalen Überlegungen und Evidenzen, aber darüber hinaus agiert er
Traumes-Riten, und der Symbolgehalt der Riten bestimmt zu einem sehr großen
Teil die Evidenz seiner Überlegungen, denn was da symbolisiert wird, sind
die menschlichen Triebe, und diese, sowie ihr erreichtes oder nicht
erreichtes Gleichgewicht, bilden einen namhaften Bestandteil der sozialen
Realität, um deren Aufbau und Aufrechterhaltung es sich hiebei handelt.
Gewiß, all dies geht wesentlich ‚rationaler’ als im Schlaftraum vor sich.“
So sehr sich der individuelle Schlaftraum vom „organisierten Traum“ bzw. von
den in sozialen Organisationen verkörperten Tagträumen unterscheide, so
ließen sich letztere durch die am individuellen Traum gewonnenen
Erkenntnisse in ein helleres Licht rücken.
In Brochs Traumbeschreibung lassen sich der manifeste Trauminhalt und seine
nachträgliche Deutung nur schwer auseinanderhalten, zumal der Autor dem
Traum selbst eine Erkenntnisfunktion zuweist, die er beispielhaft erläutert.
Broch muss lange an diesem Traum gearbeitet haben. Dafür sprechen nicht
allein die unterschiedlichen Ebenen, die sich mehrfach ineinander
verschränken. Ohne Zweifel war der Traum auch Gegenstand seiner
Psychoanalyse. In welches Jahr er fällt, ist schwer zu sagen. Vielleicht hat
er ihn noch in Wien notiert: „Tagesreste: der Stadtteil, in dem der Träumer
wohnt, ist von Mördern und Einbrechern kürzlich heimgesucht worden; die
ukrainischen Pogrome haben auf den Träumer, der Jude ist, nachhaltigen
Eindruck gemacht.“ Vermutlich ist zeitlich Auseinanderliegendes in die
Traumbeschreibung eingeflossen.
Es ist anzunehmen, dass sich der manifeste Trauminhalt auf die eingangs
zitierte Sequenz bezieht. Der Träumende hört vom benachbarten Kirchturm zwei
Uhrenschläge, einen stärkeren und einen schwächeren. Die beiden
Glockenschläge erfahren eine Personifizierung in Gestalt zweier
Eindringlinge, einer größeren und einer kleineren Person, die zunächst vor
der Tür stehen, sich plötzlich aber im Zimmer befinden. Es sind Diebe und
Mörder. In seiner Angst bittet der Träumende den größeren der beiden, ihm
doch den Revolver zu überlassen. Alles, was Broch ab diesem Augenblick als
Traumgeschehen beschreibt, ist wohl als Deutung zu betrachten, abgesehen vom
Ende des Traumes, das ich später zitieren werde. Die beiden Eindringlinge
sind in Brochs Interpretation mit Vater und Mutter gleichzusetzen.
Verbrechereigenschaften werden auf die Eltern, Elterneigenschaften auf die
Verbrecher übertragen. Während in Goethes Gedicht das Kind von einer Glocke
bestraft wird, erhielt der Träumer in seiner Kindheit von seinen Eltern
Schläge, wobei der große Vater stärker schlug als die kleinere Mutter. Mit
zwei „Schlägen“ setzt auch der Traum ein. Zudem trug die Mutter in der
Jugend des Träumers „modegemäß“ Glockenröcke und Glockenärmel, der Vater
lange Schoßröcke. Die Eltern treten also in Gestalt von Verbrechern auf, der
Vater als großer, die Mutter als kleinerer Verbrecher: „Zwei Schläge =
Verbrecherpaar / Zwei Schläge = Elternpaar / Elternpaar = Verbrecherpaar.“
Und wie der Träumende als Kind manche Strafe durch Freundlichkeit abwenden
konnte, so sucht er nun durch seinen „Entschluß zur werbenden Liebe“ die
beiden Eindringlinge zu besänftigen. Der Träumende hat als Kind von Vater
und Mutter nicht nur Schläge erhalten. Schwerer wiegen inzestuöse
Beziehungen zu beiden Elternteilen in all ihrer Ambivalenz: Mordabwehr und
Liebeswerben. Der psychoanalytischen Deutung entsprechend wird die
Todesfurcht durch den Wunsch nach Bestrafung gemildert: „Der Träumer will
getötet werden, er hat ebendeswegen die Türe nicht abgeschlossen, er will
von der wandelnden Glocke zermalmt werden.“ Gleichzeitig regt sich der
Wunsch, den größeren der beiden Verbrecher, also den Vater, zu entwaffnen,
zu entmannen und zu töten, was wiederum mit Schuldgefühlen verbunden ist und
den Wunsch erklärt, getötet, von der wandelnden Glocke zermalmt zu werden.
Zwischen die beiden gestellt, nimmt der Träumende den Platz des Kindes ein.
Das Mütterliche hebt sich nun deutlicher gegen das Männliche ab, wobei
ersteres für den Lebenstrieb, zweiteres für den Todestrieb steht. Soll der
Lebenstrieb obsiegen, so muss das x der größeren Gestalt, also das männliche
Geschlecht, weggenommen und der kleineren „zugeliefert“, zwecks Ergänzung
„angeheftet“ werden, was allerdings verworfen werden muss, zöge dies doch
wiederum „fürchterlichste Straffolgen“ nach sich.
Können Kühe träumen? Das ist wohl anzunehmen. Sie besitzen ein Gehirn und
machen sich Gedanken. Was immer sie empfinden und denken, wird sich in ihrem
Traumgeschehen niederschlagen. Der Traum ist eine Funktion des Gehirns.
Können aber auch, wie von Broch angenommen, soziale Organisationen träumen?
Eine interessante Frage, ist doch hier kein Gehirn vorhanden. Da unser
Denken sprachgebunden ist, kennt unser Gedächtnis stark kollektive Züge. Das
gilt auch für den Bildervorrat, zu dem wir tagtäglich in zahllosen
Interaktionen beitragen, den wir tagtäglich zahllose Male bestätigen.
Zwangsläufig findet dies seinen Niederschlag in unseren Träumen. Tatsächlich
lässt sich, wenn wir an soziale Organisationen denken, vieles mit
Traumgeschehen assoziieren.
Broch betrachtete den Traum als mechanischen Ablauf, in den der Träumende
gleichsam hineingerät, das Traumgeschehen als weitgehend festgelegt, als
„durchaus eindeutige Abfolge, aus der es kein Entrinnen gibt“. Der Träumende
handle nicht im eigentlichen Sinn des Wortes Handeln, vielmehr sei es der
Traum, der „von Situation zu Situation weiter[schreitet], nicht als
Kontinuum, eher quantenmäßig, und der Träumende wird von einer Situation in
die andere zwangsläufig geschoben“. Das Traummaterial sei weitgehend
vorgegeben und werde als solches durch Neukombinierungen prinzipiell nicht
vermehrt, vielmehr sei es zu Beginn des Traumes bereits vollzählig
vorhanden, also von allem Anfang „gewusst“, und diesem Umstand verdanke sich
„die erstaunliche Rapidität, mit der die Material-Elemente in den
Traumprozeß eingesetzt werden, kurzum die erstaunliche Blitzesschnelle der
meisten Träume.“ Als weiteres Wesensmerkmal des Traumes nennt er seine
„Abgekapseltheit“. Der Traum kenne keine Zwischentöne, in ihm werde alles
absolutiert: „... wo es im Traum eine ‚Eigenschaft’ gibt, dort wird sie
radikal bis zu ihren äußersten Konsequenzen hin entwickelt; eine Milderung
dieser Konsequenzen findet bloß dann statt, wenn dieselben in der
Traumkonstellation keinen Entwicklungsraum finden, also abgestoppt werden
müssen.“ Der Traum müsse als Ganzheits-Gestalt betrachtet werden, wobei die
logisch-assoziativen Prozesse, in denen er ablaufe und sich selber enthülle,
bloß unter dem Aspekt eben dieser Ganzheit zu begreifen seien, in der
unabhängig vom Traum-Fortschritt von vorneherein jede einzelne
Traumsituation enthalten sei. Der Traum sei gewissermaßen ein Käfig ohne
Gitterstäbe.
Laut Broch tendiert der Traum zu einer Gleichungslösung, also zu einer
Tautologie. Denke ich an meine Träume, dann kann ich dies nicht bestätigen.
Letzthin träumte ich von einem Telefonat mit einem Verleger, bei dem ein
Manuskript bereits längere Zeit liegt. Der Verleger meinte, er wolle das
Buch nicht machen. Ich sah den Verleger ganz deutlich in seinem Büro sitzen.
Obwohl er den Hörer auflegte, das Gespräch also abbrach, konnte ich hören,
wie er sich mit seiner Sekretärin unterhielt. Der Text sei so schlecht, lese
sich wie ein mittelmäßiger Aufsatz eines vierzehnjährigen Gymnasiasten. Beim
besten Willen fällt mir keine Gleichungslösung ein, auch keine Tautologie.
Ich wachte einzig mit dem unbehaglichen Gefühl einer Zurückweisung auf.
Auffallenderweise finden sich in Brochs Traumbeschreibung mehrfach
tautologische Satzgebilde, die selbstredend den Gegenstand keinesfalls
erhellen und sich höchst konstruiert lesen: „... die Resultate dieser
Bemühungen sind ‚Bild-Tautologien’, deren Evidenz eben in solch
tautologischem Charakter liegt.“ Broch suchte Träume mit Hilfe formaler
Logik zu erklären. Wiederholt beschreibt er denn auch die sich ändernde
Traumanordnung in Form von Gleichungen, und dies, obwohl er meint, Träume
seien ein richtiges Hexeneinmaleins, in dem alles vertauschbar und
auswechselbar sei, und es handle sich wahrscheinlich um eine n-wertige Logik
(„außerdem mit unbestimmbarem n“), zwischen den einzelnen Bildern bestehe
nirgends eine fixe Beziehung, und nicht einmal die zahlenmäßigen Beziehungen
seien als feststehend zu erachten.
Man muss Brochs Traumtheorie keineswegs teilen – vor allem seine
Triebtheorie, sie dürfte sich seinem Analytiker Paul Federn verdanken, liest
sich reichlich antiquiert –, um anzuerkennen, dass auch soziale
Organisationen oder Gruppierungen so etwas wie ein Traumgeschehen kennen.
Nehmen wir als Beispiel die Kronen Zeitung, die als auflagenstärkstes
Boulevardblatt ganz im Sinne von Broch als „lebendige“ soziale Organisation
zu betrachten ist, zumal es sich nicht einfach um ein Verlagsprodukt
handelt, haben wir es doch mit einer vitalen Wechselwirkung zwischen Blatt
und Lesern zu tun, die immer wieder beschworen und wechselseitig bestätigt
wird bzw. werden muss:
„Dass die Vorsitzenden der neuen Regierungsparteien, Kurz und Strache, ihr
erstes ausführliches Interview nach der Regierungsbildung gerade der ‚Kronen
Zeitung’ gegeben haben, zeigt einmal mehr die überragende Bedeutung der
größten Tageszeitung des Landes in der Medienlandschaft. Von
fördergeldabhängigen linkslinken sogenannten ‚intellektuellen
Qualitätsmedien’ (mit Kleinauflagen) als Boulevardblatt für geistig
minderbemittelte rechtsorientierte Ewiggestrige diffamiert, weiß anscheinend
nicht nur die klar denkende und überwiegende Mehrheit der Österreicherinnen
und Österreicher die unabhängige Qualitätsberichterstattung der ‚Kronen
Zeitung’ zu schätzen, sondern sehr wohl auch die führenden Köpfe der
Politik. Damit werden rosarote Blättchen sowie Krawall- und Radauzeitungen
und auch der Zwangsgebühren-Parteienfunk, genannt ORF, mit ihrem
Pseudo-Journalismus automatisch als ernst zu nehmende unabhängige Medien
disqualifiziert. Ich bin froh, zur ‚Krone’-Familie zu gehören, auch wenn ich
wahrscheinlich einfach nur zu dumm für linkslinke
Propaganda-Berichterstattung bin. Ach ja, liebe Herren Kurz und Strache:
Bitte stoppt endlich den Wahnsinn eines Propaganda-ORF und vor allem die
Zwangsgebühren.“ (Herbert Schlemmer, 2017/12/21)
Man braucht nur einige Leserbriefe herausfischen, um all die oben erwähnten
Kriterien, die Broch hinsichtlich des „organisierten Traumes“ anführt,
bestätigt zu sehen. Das Material ist tatsächlich weitgehend festgelegt im
Wertesystem Kronen Zeitung mit seiner „Theorie“ und „Wert-Theologie“, die
bestimmt, was als als gültig und evident anzuerkennen ist. Wie im
Schlaftraum ist das Material von allem Anfang an „gewusst“, also bereits
vorhanden, noch ehe das Ereignis, auf das in Leserbriefen Bezug genommen
wird, eintritt bzw. in Medien darüber berichtet wird. Medienberichte dienen
nur dazu, das „Gewusste“ in Gang zu setzen. Genaugenommen muss man nur die
Leserbriefe einer einzigen Ausgabe der Kronen Zeitung gelesen haben, um alle
zu kennen, auch die, die in Zukunft geschrieben werden. Die Rapidität, die
Blitzesschnelle, von der Broch spricht, findet ihren Ausdruck dort, wo zu
jedem Problem (tatsächlich handelt es sich, sieht man von den jeweiligen
Bezugnahmen auf aktuelle Ereignisse ab, um stereotyp wiederkehrende
Motivgruppen) sofort eine Lösung vorhanden ist, die zumeist mit einer großen
Dringlichkeit vorgebracht wird. Die wenigsten Leserbriefe kennen so etwas
wie Zwischentöne. FRONTEX, die europäische Agentur für die Grenz- und
Küstenwache, sei nicht dazu da, Schiffbrüchige zu retten, sondern um die
Außengrenzen zu schützen. Die Schiffbrüchigen sollen also ertrinken.
Eigenschaften werden also radikal bis zu ihren äußersten Konsequenzen hin
entwickelt. Auch Brochs Bemerkung zur Abgekapseltheit solchen
Traumgeschehens ist höchst zutreffend. Mögen die Akteure auch glauben, ganz
frei ihre Gedanken mit anderen austauschen zu können, so bewegen sie sich in
Wirklichkeit in selbstreferenziellen Blasen, in einem Käfig ohne Gitterstäbe.
Die Eindringlinge in Brochs Traum lassen an Asylwerber und Flüchtlinge
denken. Auch sie werden von großen Teilen der Bevölkerung als
„Eindringlinge“ wahrgenommen und empfunden, als unerfreuliche, feindliche
Gestalten, wobei die Konsequenzen ihrer Eigenschaften auch hier in der Linie
„Einbrecher-Dieb-Räuber-Vergewaltiger-Mörder“ liegen und die Eindringlinge
„mit aller notwendigen Diebs- und Mörderausrüstung, wie Sack, Pistole und
Messer ausgestattet“ phantasiert werden. Solche Leserbriefe behaupten äußere
Wirklichkeit zu beschreiben, reflektieren aber vor allem das Innenleben,
Ängste und Nöte des Leserbriefschreibers. Wie in Brochs Traum bleiben jene,
von denen die Bedrohung ausgeht, schemenhaft, eben gesichtslos. Mit realen
Erfahrungen haben solche Leserbriefe nur in Ausnahmefällen zu tun:
„Wie immer man zu dieser Regierung auch stehen mag, mit der Schließung von
Moscheen und der Ausweisung von Imamen macht sie alles zu 100 Prozent
richtig. Mir ist nur nicht klar, warum gerade 7 Moscheen und 40 Imame. Da
gibt es nämlich mit größter Wahrscheinlichkeit noch weitaus mehr Moscheen
und Prediger, die das österreichische Islamgesetz untergraben und
unterwandern. Deshalb mein Aufruf an die Regierung: Nur keine Scheu,
steigern Sie die Zahlen. Wir Österreicher werden es Ihnen danken.“ (Rudolf
Kolba, 2018/06/10)
Es geht nicht um konkrete Lösungen, sondern – um mit Broch zu sprechen – um
„imaginierte, vorwegnehmende Wunscherfüllungen“, die mit Neid, Wut oder
unterschiedlichsten Ängsten zu tun haben. An die Stelle von Asylanten,
Islamisten, Flüchtlingen können bruchlos andere treten, so etwa Politiker
(„die da oben“), Radfahrer, „Berufsdemonstranten“ oder auch Künstler, stets
nach dem Motto: „Wir und die anderen“, wobei „das Volk“ gerne bemüht und
dieses mit der Lesergemeinde der Kronen Zeitung assoziiert wird. Tatsächlich
sind all die zitierten Figuren höchst austauschbar, und sie erfahren ihre
Steigerung bestenfalls dann, wenn auf eine Person oder eine Gruppe mehrere
Eigenschaften zutreffen, die sie aus der imaginierten Gesamtheit des
Wertesystems der Kronen Zeitung ausschließt:
„Der Mittelpunkt der Schöpfung ... zu sein glaubt der Maler Hermann Nitsch,
wie er in einem Interview anlässlich seines 80. Geburtstages in ‚seinem’
(eher mäßig besuchten) Museum in Mistelbach sagte. Der ‚Aktionist’ und
‚Schüttmaler’ wird von ‚Kunstkennern’ und ‚Offiziellen’ umgarnt, weil sich
niemand von diesen Leuten traut, die Wahrheit – oder zumindest das, was sie
wirklich über seine umstrittene Kunst denken – zu sagen. Bei allem Respekt
für den alten Mann: Auch wenn er jetzt von den ‚Fortschrittlichen’ gelobt
und umjubelt wird, bleibt weiterhin der Verdacht bestehen, dass Künstler wie
Nitsch und andere ‚Aktionisten’ nur allein deshalb zu brachialen Kunstformen
greifen, um aufzufallen und bekannt zu werden – und weil sie wissen, dass
sich viele Medien dafür einspannen lassen. Wer etwa behauptet, dass ihm
dessen rote Schütt-Bilder nicht gefallen, gilt in ‚Kennerkreisen’ als
Kulturbanause; nur wer alles kritiklos akzeptiert, was von manchen Leuten
als Kunst bezeichnet wird, darf heutzutage über ‚zeitgenössische Kunst’
reden (oder schreiben). Und die Moral von dieser Gschicht: Die Wahrheit
sagen soll man nicht!“ (Franz Weinpolter, 2018/05/29)
Brochs entscheidende Beobachtung ist dort zu sehen, wo er schreibt, ein
Großteil der Traumobjekte, zumindest die menschlichen Gestalten unter ihnen,
seien zweifelsohne Projektionen einer einzigen Gestalt, nämlich der des
Träumers selber. Broch erläutert dies am Beispiel des „beobachteten Traumes“
und gibt sich dabei manche Blöße, spricht er etwa inzestuöse oder
homosexuelle Erfahrungen oder Phantasien, aggressive Wünsche an. Konsequent
geht er all die Projektionen des Traumes durch, scheut sich nicht, die
Widerspiegelung des Träumers in all seinen Traumgestalten zu benennen. Das
ist ja auch die einzige Möglichkeit, dem Traumgeschehen mit all seinen
Automatismen und Wiederholungszwängen zu entkommen: „So lange also der
Träumer selber im Traume agiert, ist er noch kein Erkennender. [...] So sehr
in dem beobachteten Traume der Träumer über die beiden Eindringlinge
erschrocken gewesen war, er wurde eigentlich erst zur wirklichen
Traumgestalt für sich selbst, als er sich zwischen die beiden anderen
gestellt sah, und er wurde es erst recht, als er sich zwecks Gewinnung des
Triebgleichgewichtes in sie projizierte. Nun, da es um die Gewinnung der
Erkenntnis-Tautologie geht, muß er wie ein Katalysator wieder aus dem Prozeß
ausscheiden und wieder den für die Traumanordnung so überaus bezeichnenden
Platz eines ‚Beobachters’, d. h. des vom objektiven Trauminhalt
abgeschiedenen, den Trauminhalt beobachtenden Träumers einnehmen.“
Verstehen wir Leserbriefe als Ausdruck eines „organisierten Traumes“, dann
lässt sich sagen, dass sie mehr über jene aussagen, die sie verfassen, als
über jene, die in solchen Leserbriefen genannt werden, dass wir es also mit
einem hohen projektiven Gehalt zu tun haben. Nie tritt der
Leserbriefschreiber zwischen die Gestalten seiner Projektionen, d.h. er
bleibt in sich selbst gefangen und zur ständigen Wiederholung gezwungen. Es
gibt für ihn keine Erlösung, mehr noch, um zur Ruhe zu kommen, muss er das
Unheil herbeibeten. Ist es nicht so: Jedes Boulevardblatt lebt von den
Dramen, die es beklagt (und letztlich auch miterzeugt). Wenn auch auf andere
Weise, so ist ähnliches über die Leserbriefschreiber zu sagen. Erlösung wäre
nur in der schmerzhaften Erkenntnis zu finden, eben selbst der eigentliche
Akteur zu sein. Broch zeigt beispielhaft, dass ein Entrinnen aus der steten
Wiederholung, aus der Sprachlosigkeit möglich ist.
Österreich als Land „organisierter Träume“. Vieles lässt tatsächlich an ein
Traumgeschehen denken. So lebt die Politik vor allem von phantasierten
Bedrohungen, wobei jene Bedrohungen, die tatsächlich auf uns zukommen,
weitgehend missachtet werden. Schlafen, schlafen und träumen. Leserbriefe
als Ausdruck „organisierter Träume“. Die Kronen Zeitung ist allgegenwärtig.
In nahezu jedem Lokal liegt sie auf. In manchen Gegenden muss man mindestens
zwanzig Kilometer fahren, um sich etwa eine NZZ zu kaufen. Trash kann
durchaus seine Qualitäten haben, nie aber schlechter Geschmack, der sich in
einem Blatt wie der Kronen Zeitung geradezu verdichtet und dessen Folgen man
landauf landab sehen kann. Schlechtem Geschmack kommt stets eine
plombierende Funktion zu. Er dient der Ablenkung von den Widersprüchen
unserer vertrackten Welt. Ganz dem schlechten Geschmack entsprechend,
scheinen in den Leserbriefen der Kronen Zeitung alle Widersprüche
aufgehoben, scheint jede Komplexität geleugnet. So betrachtet wird Brochs
Vorstellung, der Traum tendiere prinzipiell zu einer Gleichungslösung bzw.
einer Tautologie, verständlicher. „Unser schönes Österreich“ würde (wieder)
heil, errichte man nur möglichst hohe Zäune und Mauern, mache man das Leben
jener, die ins Land drängen, so man sie nicht ohnehin abschiebt, möglichst
schwer, erinnere man sie nur ständig daran, überflüssig, eben Eindringlinge
zu sein, stopfe man nur allen den Mund, die daran zweifeln.
Brochs Traum endet – hat er doch die katalysatorische Arbeit geleistet und
die eigene Verstrickung reflektiert – auffallend versöhnlich. Bildete der
Kirchturm, von dem die beiden Uhrenschläge her getönt hatten, bei
Traumbeginn bestenfalls ein kaum sichtbares Stück des bildhaften
Traumhintergrundes, so erscheint dieser nun in hellem Licht und ist beinahe
sichtbarer als das im Vordergrund befindliche Zimmer und die beiden
Eindringlinge. Es ist nun nicht mehr Nacht, sondern halb eins am Nachmittag:
„Eine ganze Dorflandschaft hat sich um ihn herum aufgebaut: Kirche,
Gottesacker, Dorf, und hinter dem Gottesacker mit seinen kleinen Kreuzen
erhebt sich, kapellenbesetzt, ein Kalvarienberg, auf dessen Gipfel, eine
nochmalige Wiederholung des Leitmotivs der drei Schläge, wie es sich gehört,
drei Kreuze stehen, das mittlere ein wenig größer als die beiden anderen.
Und ringsum dehnt sich Landschaft aus, Hügel und Wald und sommerliche
Felder, unbeschwert. Schlafen im sommerlichen Feld, Schlafen auf weichem
Moos im sommerlichen Wald, unbeschwert traumloses Schlafen. [...] Der
Erlöser und die beiden Verbrecher erleiden die nämliche Strafe, aber das dem
Richter vorbehaltene ewige Leben wird von ihm, als dem Richter des Jüngsten
Gerichtes, jedem verliehen, der die Erlösung aus seinen Händen zu empfangen
gewillt und fähig ist. In der realen Welt also ist der Tod, ist der Vater
und der von ihm repräsentierte Todestrieb (der ‚stärkere’ Schlag)
unbezwingbar; doch in der spiritualen, in der sublimierten Welt wird für den
Erlösten der mütterliche Lebenstrieb für immer obsiegen, und wenn von den
beiden Gestalten die eine das väterliche, die andere aber das mütterliche
Prinzip symbolisiert hatte, so ist es nun nur folgerichtig, daß die eine die
Gnade ewigen Lebens aus den Händen des Erlöser-Sohnes empfangen soll: es ist
der reumütige Schächer, der ob solchen Glaubenswillens sich die Gnade
verdient, offenbar auch, weil er sich damit endgültig von dem andern, dem
größeren Verbrecher – vorsichtshalber sind die drei Kreuze leer, so daß die
obszönen Verwechslungen von weiblicher und männlicher Gestalt vermieden sind
– endgültig geschieden hat. Und zugleich wird dargetan, daß das furchtbare
Verbrechen des homosexuellen Inzestes, unter dem die erste Traumhälfte
gestanden ist, durch die christliche Liebe ins Erlaubte gewandelt wird, daß
die Mutter-Sohn-Beziehung hiedurch zum Zentrum des Lebens gemacht werden
kann. Gewiß, an die Stelle der Obszönität tritt nun ein nicht minder
schweres Verbrechen, nämlich das der Blasphemie und einer Gotteslästerung,
die zweifelsohne – auch um dies zu markieren sind die Kreuze leer geblieben
– sich infolge der Identifikation des Träumers mit dem Gottessohn in den
Traum eingeschlichen hat, doch der Traum versucht auch diese Belastung noch
aufzufangen und ins Erlaubte zu kehren: die Identifikation geschieht bloß so
weit, als der Christustod als der Tod eines ‚Schuldlosen‘ zu gelten hat,
denn eben von solchem Märtyrertod wird der Träumer als Jude in der Realität
bedroht, und bloß der Gedanke an das Märtyrertum vermag ihn über das sonst
sinnlose Schicksal hinwegzutrösten; diese Schuldlosigkeit aber ist in der
Landschaft enthalten, ist in dem unschuldsvollen Schlafen im Moose
symbolisiert, denn diese Landschaft ist identisch mit der einer alten
Erinnerungsvorstellung des Träumers, u. z. jener Vorstellung, die mit
Mörikes Gedicht ‚Auf ein altes Bild’ für ihn seit jeher verbunden gewesen
war: In grüner Landschaft Sommerflor, / Bei kühlem Wasser, Schilf und Rohr,
/ Schau, wie das Knäblein Sündelos / Frei spielet auf der Jungfrau Schoß! /
Und dort im Walde wonnesam, / Ach, grünt schon des Kreuzes Stamm! = Es ist
das Bild einer Madonna im Grünen unter tiefblauer Himmelsglocke – auch das
Glockenmotiv durfte nicht verloren gehen –, und mit dieser Zusammenfassung
des Traumes mitsamt allen seinen Motiven zu einem einzigen Bild des Friedens
wird dem Träumer das Wiederversinken in traumlosen Schlaf gewährleistet. Daß
damit auch eine Rückkehr in den Mutterschoß symbolisiert wird, ist sozusagen
üblich und wird gleichfalls mit dem vorhandenen Motivmaterial bestritten.“
© Bernhard Kathan, 2018