HERMANN BROCHS MASSENWAHNTHEORIE ODER:
EINE NIE GEHALTENE REDE DES SEBASTIAN KURZ ZUM ANSCHLUSS
Geschätzter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Damen und Herren, genau heute
vor achtzig Jahren erfolgte der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in
Österreich. Damit begann die nationalsozialistische Terrorherrschaft in
unserem Land. Und insbesondere für die jüdische Bevölkerung hat damals ein
beispielloser Leidensweg begonnen, der uns bis heute beschämt und betroffen
macht. Schon am Tag des Einmarsches wurden jüdische Mitbürgerinnen und
Mitbürger ... Nein, diese Rede, die Mitarbeiter für mich geschrieben haben,
gefällt mir nicht. Sie scheint mir dem Anlass nicht angemessen. Erlauben
Sie, dass ich frei zu Ihnen spreche.
Es wäre billig, noch einmal zu wiederholen, dass es „auch in Österreich
viele Menschen gegeben hat, die nichts gegen den Nationalsozialismus
unternommen haben, und viel zu viele gegeben hat, die diese Schrecken sogar
aktiv unterstützt haben“. Das auszusprechen ist heute nicht mehr gerade
mutig.
Es wäre billig, Gespräche mit Überlebenden zu erwähnen. Ich zitiere aus dem
Redemanuskript: „Tief beeindruckt hat mich eine Begegnung mit Marko
Feingold, geboren im Jahr 1913 in Österreich-Ungarn, in einem Teil, der
heute zur Slowakei gehört, ein Überlebender von Auschwitz, Neuengamme,
Dachau und Buchenwald. Er feiert heute seinen hundertfünften Geburtstag ganz
ohne Groll und Hass gegenüber unserem Österreich, und ich bin froh, dass er
mich eingeladen hat, und es ist eine Ehre für mich, diesen Geburtstag mit
ihm zu feiern. So schmerzhaft und beschämend Begegnungen mit Überlebenden
wie ihm immer wieder sein können, so viel kann man auch aus diesen
Gesprächen mitnehmen und lernen.“ Ich habe mich nie um Gespräche mit
Überlebenden bemüht. So ich sie geführt habe, fielen sie mir kraft meines
Amtes zu. Ja, ich erlebte sie als irritierend, keinesfalls jedoch als
schmerzhaft oder beschämend. Träfe Letzteres zu, ich müsste auch Dinge
schmerzhaft und beschämend finden, für die ich unmittelbar verantwortlich
bin. Tatsächlich warten wir darauf, dass niemand mehr Klage erhebt, niemand
mehr davon spricht. Wir, also wir Österreicher, wollen endlich unsere Ruhe
haben. „Ganz ohne Hass und Groll gegenüber unserem Österreich“ – es kann
also nicht so schlimm gewesen sein.
In der von mir angeführten Regierung haben wir uns darauf geeinigt, die
Errichtung eines Mahnmales zu unterstützen, auf dem alle jüdischen Opfer
Österreichs namentlich erwähnt sein sollen. Ich zitiere aus dem
Redemanuskript: „Viele Vertriebene blieben trotz all dem Leid, das sie
erleben mussten, ihrer ehemaligen Heimat im Herzen verbunden. Einer von
ihnen ist Kurt Tutter, der sich seit Jahren für ein Erinnerungsdenkmal
engagiert, bei dem alle jüdischen Opfer der Shoah aus Österreich mit ihrem
Namen verewigt werden sollen. Wir als Bundesregierung haben uns
entschlossen, die Errichtung eines solchen Erinnerungsortes zu unterstützen,
damit den Überlebenden, den Nachkommen der Opfer, aber auch uns allen ein
persönlicher Ort des Gedenkens geschaffen wird.“
Auch das ist verlogen. Ja, Herr Tutter hat sich lange um dieses Mahnmal
bemüht und würde sich freuen, dieses noch zu seinen Lebzeiten verwirklicht
zu sehen. Auf Facebook schrieb ich: „Kurt Tutter hat eine bewegende
Lebensgeschichte, schaffte es, vor dem NS-Regime zu fliehen, und setzt sich
heute dafür ein, dass eine Namensmauer für die 66.000 im Holocaust
ermordeten österreichischen Juden in Wien errichtet wird. Als
Bundesregierung unterstützen wir dieses Projekt mit aller Entschlossenheit!“
Mit aller Entschlossenheit, das ist übertrieben. Würden wir es tatsächlich
ernst nehmen, dann müssten wir sagen: Nicht in einem Beserlpark! Eine
Ausschreibung ist nötig! Eine öffentliche Diskussion! Es sind mehr Mittel
dafür bereitzustellen! Ich darf nicht verschweigen, dass gerade meine Partei
über Jahre hinweg alles getan hat, um dieses Mahnmal zwar nicht zu
verhindern, die Sache aber doch in die Länge zu ziehen, wohl in der
Hoffnung, sie würde ins Leere laufen. Wenn sich nun die Regierung sehr rasch
für die Errichtung dieses Mahnmals ausgesprochen hat, dann ist dies einzig
dem Umstand geschuldet, eben dieser Regierung einen Unbedenklichkeitsschein
auszustellen. Wir haben es mit einer „entwertenden Ehrung“ zu tun, ein
Begriff, den Hermann Broch geprägt hat. Jede entwertende Ehrung soll jenen,
den man ehrt, zunichte, zuschanden machen.
In meinem Redemanuskript ist auch die Rede davon, dass mit den letzten
Zeitzeugen die Erinnerung schwinden werde. Ganz abgesehen davon, dass
Erfahrungen familiengeschichtlich, zum größten Teil völlig unbewusst,
vermutlich sogar epigenetisch tradiert werden, gibt es unendlich viel
Material, das uns, beschäftigte man sich damit, nur allzu deutlich machen
würde, dass, was geschehen ist, heute oder in absehbarer Zeit wieder
geschehen könnte – dass nämlich unsere Gesellschaft einem Massenwahn
anheimfällt. Auch diesbezüglich gilt es an Hermann Broch zu erinnern. Lassen
Sie mich einige Worte zu Broch sagen. Wie viele andere wurde er 1938 aus
Österreich vertrieben. Lange vor dem Anschluss beschäftigte er sich mit
Fascismen, mit dem sich damals ankündigenden Unheil, mit Massenwahn, der in
der hysterischen Begeisterung, die anlässlich Hitlers Rede auf dem
Heldenplatz herrschte, seinen deutlichsten Ausdruck fand. Broch sah darin
eine „ekstasierende Superbefriedigung“, und zweifelsohne dienten auch die
Hetzjagden und Demütigungen, denen vor allem Juden nach dem Anschluss
ausgesetzt waren, ekstasierenden Superbefriedigungen. Im Gegensatz zu den
meisten anderen sah Broch die Folgen solchen Massenwahns sehr klar:
„Betrunkene Horden im Palast und auf der Gasse; noch trinken sie Wein, doch
bald werden sie Blut saufen, noch leuchten sie mit Fackeln, doch bald werden
ihre Dächer brennen und flammen, brennen, brennen, brennen. Und desgleichen
werden die Bücher mit in dem Rauch aufgehen.“
Broch wurde nach dem Anschluss in Altaussee verhaftet, war einige Zeit
interniert, konnte aber nach Wien zurückkehren. Um hier einer drohenden
Verhaftung zu entgehen, mied er seine Wohnung und fuhr ziellos mit der
Straßenbahn herum. Ekel nannte er später seine vorherrschende Empfindung.
Brochs Mutter Johanna Broch blieb in Wien. Im September 1940 wurde ihr
Vermögen gepfändet, im Mai 1942 wurde sie in das Konzentrationslager
Theresienstadt deportiert, wo sie im Oktober desselben Jahres umkam.
Die Beschäftigung mit Brochs Theorie des Massenwahns, mag vieles auch fremd
klingen, lohnt sich heute, zumal Massenwahnerscheinungen in gegenwärtigen
Entwicklungen nicht zu übersehen sind. Die Fremdenfeindlichkeit, die sich in
unserer Gesellschaft breitmacht, ist zutiefst irrational, wenn nicht
wahnhaft. Bezeichnenderweise haben insbesondere Menschen in ländlichen
Gegenden für mich oder für die FPÖ gestimmt, die wenig oder gar nicht mit
Flüchtlingen konfrontiert waren oder sind. Mein Wahlerfolg verdankt sich vor
allem dem Umstand, dass ich früh genug auf das Asylthema setzte und
fortwährend diesbezüglich insistierte. Ohne Zweifel ist die Aufnahme so
vieler Flüchtlinge mit Problemen verbunden, und zwar nicht nur finanzieller
Natur. Konflikte sind unvermeidbar. Dabei denke ich nicht nur an kulturelle
Missverständnisse oder auch oft falsche Erwartungen, die Flüchtlinge mit
einem Land wie Österreich verbinden. Da wären im Kleinen wie im Großen
Lösungen gefordert. Ich wusste nur zu gut, dass die von mir behauptete
Dramatik so nicht zutraf, schon gar nicht in den Monaten vor der Wahl. Gegen
besseres Wissen lassen sich Statistiken falsch zitieren. Die Asylkrise bot
mir die Möglichkeit, all die Ängste, unter denen potentielle Wähler und
Wählerinnen leiden, zu kanalisieren. Die Welt befindet sich in einem
radikalen Wandel. Ältere Menschen (so alt müssen sie gar nicht sein) finden
sich heute in einer Gesellschaft wieder, für die sie nicht sozialisiert
wurden. „Lebenslanges Lernen“, das macht deutlich, dass die heutige Welt
Menschen in hohem Maße ständig Adaptionsleistungen abverlangt, denen viele
nicht gewachsen sind. Man muss nur an die Probleme älterer
Langzeitarbeitsloser denken, um das zu begreifen: als überflüssig
betrachtet, erleben sie sich schließlich selbst als überflüssig. Man muss
sich nur in Orten wie Mariazell oder Großrußdorf mit Menschen unterhalten,
um etwas von den vielen Ängsten und Verunsicherungen zu spüren.
Diese haben sachlich betrachtet im Grunde wenig oder gar nichts mit
Asylanten oder Menschen mit Migrationshintergrund zu tun. Die tatsächlichen
Herausforderungen bzw. Bedrohungen lassen sich benennen: Klimawandel,
ökonomische Krisen, kriegerische Auseinandersetzungen, all die Verwerfungen,
die mit der Digitalisierung und Globalisierung einhergehen. Und womit
beschäftigen wir uns? Mit einem Kopftuchverbot in Kindergärten. Dieses
Verbot wird so formuliert sein, dass es auf alle Mädchen zutrifft. Dabei
weiß der dümmste Kronenzeitungsleser, dass es einzig auf Mädchen abzielt,
die einen muslimischen Hintergrund haben. Das Gesetz sei zum Schutze der
Mädchen. Der Schutz der Mädchen ist uns völlig gleichgültig, sind wir doch
allgemein nicht bereit, mehr Geld zum Schutz von Kindern auszugeben.
Erinnern Sie sich an meine Äußerung, es werde unschöne Szenen geben, im
Mittelmeer, am Balkan, durch unsere, meine Politik bedingt. Dass Kinder
ertrinken, das sind unschöne Szenen. Es war einkalkuliert, erwünscht. Es ist
also verlogen, führen wir heute den Schutz von Mädchen ins Treffen. Wir
wollen sie nicht schützen, wir wollen sie loshaben, loswerden. Das ist die
Botschaft an die Kinder und ihre Eltern. Und die Botschaft an die
Österreicher: Wir werden sie loswerden. Ähnliches gilt auch für den
Familienbonus. Bevorzugt werden Menschen mit einem höheren Einkommen.
Erstaunlich, dass noch niemand von einem eugenischen Programm gesprochen
hat. Wir vermeiden das Wort, ist es doch durch die NS-Euthanasie negativ
besetzt. Der Familienbonus zielt wie andere Maßnahmen darauf ab, dem
Kinderreichtum von Menschen mit Migrationshintergrund entgegenzutreten, jene
zu begünstigen, die wenige Kinder haben. Bei diesen handelt es sich zum
größten Teil um Österreicher in besseren Verhältnissen.
Mit all unseren steuer- und sozialpolitischen Maßnahmen bedienen wir
einkommensstärkere Bevölkerungsgruppen. Den Verlieren bieten wir „Schuldige“
an, seien es nun Kriegsflüchtlinge oder andere, die in unser Land drängen.
Übrigens lassen mache der diesbezüglichen Vorstöße – vielleicht erinnern Sie
sich noch an meinen Vorschlag, Kriegsflüchtlinge in Lagern oder auf Inseln
zu kasernieren – an Leopold Kunschak denken, der über Jahrzehnte hinweg
wichtige Funktionen in der Christlichsozialen Partei innehatte. Unter
anderem forderte er die „reinliche Scheidung zwischen Juden und Deutschen“,
einen „Judenkataster“, eine „Judenkurie“ zur „Ausscheidung jüdischer
Wähler“, den Ausschluss von Juden aus Regierungsämtern, eigene Schulen für
Juden, ein Verbot für Juden, an Pflichtschulen zu unterrichten. Nicht
zuletzt forderte er die Ausweisung aller seit August 1914 eingewanderten
Juden und, sofern es an Transportmöglichkeiten mangle, deren Internierung in
Lagern. Und das zu einer Zeit, als die Konsequenzen des
nationalsozialistischen Antisemitismus nicht mehr zu übersehen waren. Wir
leben in einer anderen Zeit, aber manches, und das muss ich hier heute auf
dem Heldenplatz sagen, lässt doch an die Zeit vor dem Anschluss denken. Wir
geben uns heute als Gegner des Antisemitismus, haben aber nicht die
geringste Mühe, Stereotypen aus dem antisemitischen Repertoire auf andere
Gruppen zu übertragen. Nach wie vor vergibt meine Partei einen Preis, der
nach Leopold Kunschak benannt ist.
Die Regierung, deren Bundeskanzler ich bin, setzt nach wie vor auf das
Asylthema. Diese Regierung ist zutiefst fremdenfeindlich und zeigt auch
rassistische Ansätze. Ist es nicht rassistisch, wenn Einzelereignisse, oft
genug verkürzt dargestellt, generalisiert, also auf ganze Gruppen von
Menschen übertragen werden? Erschießt ein Österreicher seine Nachbarn,
erschlägt ein Österreicher seine Mutter und versucht er sie in einer
Jauchengrube zum Verschwinden zu bringen, ermordet ein Österreicher Frau und
Kind, hält ein Vater seine Tochter jahrelang in einem Keller gefangen, ach,
lassen Sie mich damit aufhören, solche Geschichten gibt es zuhauf, lesen Sie
doch die Kronenzeitung, also in all diesen Fällen ist von einem Psychodrama,
von Verrückten, aber nie von Österreichern die Rede. Anders ist es, wird die
Tat von einem Asylwerber oder jemandem mit Migrationshintergrund begangen.
Mehr Polizei, das kommt bei den Menschen gut an. Alle Studien belegen, dass
Sicherheit, breiter gedacht, sich in erster Linie dem gesellschaftlichen
Ausgleich verdankt. All unsere Vorhaben werden die Einkommensschere
vergrößern. Nüchtern betrachtet sorgen wir trotz massiver Investitionen in
den Sicherheitsapparat für mehr Unsicherheit. Man kann Bettler vertreiben,
nicht aber Armut. Armut wird produziert, aus diesen oder jenen Gründen. In
jeder Gesellschaft wird es Arme geben. Die Frage ist nur, wie viele Arme
eine Gesellschaft verträgt. Die Entwurzelten, die Hinausgefallenen und
Verlorenen werden zunehmen. Wir werden ihnen, nicht anders als wir es heute
mit Flüchtlingen machen, den Kampf ansagen. Und wir werden ihnen einimpfen,
dass sie an ihrem Unglück selbst schuld sind. Und wir werden sie auf diese
oder jene Weise bestrafen, und zwar kategorial und ohne dass im Allgemeinen
Gerichtsurteile dazu nötig wären. Mit klugen städtebaulichen Eingriffen wie
begleitenden Maßnahmen ließen sich Bereiche, die von der Bevölkerung als
sehr unsicher wahrgenommen werden, effizienter beruhigen als durch eine
erhöhte Polizeipräsenz. Dies hätte allerdings zur Voraussetzung, in
komplexeren Zusammenhängen zu denken. Wir versprechen einfache Lösungen.
Dass eine Demokratie eines Rechtssystems bedarf und dieses auch durchgesetzt
werden muss, um Mördern, Dieben und so weiter Einhalt zu gebieten, stellte
Broch keineswegs in Abrede. Aber er betrachtete es als Aufgabe der
Demokratie, und das zählt wohl zu seinen wichtigsten Überlegungen, „den
Staat aus den Banden der magischen Gerechtigkeit zu befreien“, die er
letztlich im Menschenopfer begründet sah. Auch wenn wir es heute in der
Regel nur noch mit „Symboltötungen“ zu tun haben, so ist unübersehbar, dass
unsere Gesellschaft wieder in Richtung magischer Gerechtigkeit tendiert. Das
gilt für Flüchtlinge wie all die Verlorenen unserer Gesellschaft. In seinen
rechtsphilosophischen Überlegungen schreibt Broch, Gesetze dürften nicht
selber Strafe sein, also Ich-Einschränkungen vornehmen, die der Strafe
allein vorbehalten seien. Wir sind auf dem besten Weg, dies zu missachten.
Wir versprechen Identität, mag es sich dabei auch nur um einen höchst
fraglichen Identitätsersatz handeln. Werte, vor allem christliche Werte! Das
Christliche ist dabei einzig in Abgrenzung gedacht. Welche Werte vertreten
wir eigentlich? Es ist noch gar nicht so lange her, dass in Österreich
Frauen ihren Mann um Erlaubnis bitten mussten, wollten sie einer beruflichen
Beschäftigung nachgehen, es ist noch gar nicht so lange her, dass in
Österreich Homosexuelle verfolgt, Frauen mit ledigen Kindern geächtet
wurden. Österreich als Land der Menschenliebe und Menschenachtung! Was
würden wir ohne Fremde machen? Unsere fragliche Identität suchen wir mit
Hilfe der Fremden zu reparieren. Uns mache das aus, was ihnen laut
stereotyper Zuschreibungen fehlt: Sittlichkeit, Kultur und Werte.
Mangelnde Affektkontrolle und Grausamkeit zählen zu den Stereotypen, die
unser beschädigtes Ich bemüht, während es sich die Wunden leckt. Das ist,
und da wären wir wieder auf dem Heldenplatz, eine höchst dankbare
Projektion. Das macht alle Gewalt und Grausamkeit vergessen, die unsere
Geschichte geprägt hat. Wir haben es mit einem aufgeregten Sprechen zu tun,
das die allgemeine Amnesie, also das Vergessen, als Erinnern tarnt.
Genaugenommen gibt es so etwas wie eine österreichische Identität nicht.
Diese Gesellschaft ist längst aus unterschiedlichen Gründen fragmentiert.
Das Beziehungsgeschehen ist heute in erster Linie subkulturell organisiert,
also nur noch bedingt an Orte gebunden. Der Wahn, von dem diese Gesellschaft
befallen ist, ließe sich mit Broch als „Zerrissenheitswahn“ bezeichnen, was
er als Folge von „Wertzersplitterung“ betrachtete. Die Wertzersplitterung
verschütte den Sinn für die Gesamtheit und mache das Leben notwendigerweise
sinnlos, weil dann auch die Teilhaberschaft an dem hinter dem „Sinn“ sich
verbergenden Gemeinschaftsgeheimnis zur Aufsplitterung gelange, dieses sich
in unzählige Teilgeheimnisse zersplittere, in ein unzusammenhängendes,
systemloses Geheimniskonglomerat, an dem es nichts mehr zu „enthüllen“ gäbe
und eben deswegen auch nichts, wodurch sich eine enthüllende und
verwirklichende Sozialorganisation begründen könne. Die „Wertzerissenheit“
habe seelische Unsicherheit zur Folge, was das Bedürfnis nach dominierenden
Grundwerten verständlich mache. Heute werden, und das ist auch Ausdruck
dieser Zersplitterung, Werte bemüht. Allerdings bleiben sie völlig
inhaltsleer, was nicht zufällig dort zum Ausdruck kommt, wo sie mit Hilfe
des Fremden behauptet werden müssen. Mit Hilfe des als bedrohlich
phantasierten Fremden ebnen wir das Unübersichtliche und Bedrohliche der
Wirklichkeit zur Überschaubarkeit und Gemütlichkeit eines Häuschens im
Grünen, zum stimmungsvollen und eindeutig Heimatlichen. Übrigens verstand
Broch bereits vor achtzig Jahren, dass die durch die Wertzerissenheit
bedingte seelische Unsicherheit allein durch das Wegfallen ökonomischer
Unsicherheit keinesfalls aufgehoben, sondern nur leichter zu ertragen wäre.
Dies macht verständlich, warum sich auch Menschen in gesicherten
Einkommensverhältnissen von Flüchtlingen bedroht, bestohlen und beraubt
fühlen können. Dass an die Stelle von Flüchtlingen andere Gruppen treten
können, braucht hier nicht eigens ausgeführt werden.
Gerade heute gilt es auch daran zu erinnern, dass die Christlichsozialen, in
deren Tradition ich stehe, mit der Ausschaltung des Parlaments, mit der
Gleichschaltung aller politisch relevanten Institutionen, die freilich nicht
so radikal durchgeführt wurde wie in Nazi-Deutschland, entscheidend zum Ende
der Ersten Republik beigetragen haben. Demokratie gab es damals keine mehr.
Große gesellschaftliche Gruppen waren aus allen politischen
Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Wohl auch vor diesem Hintergrund
glaubte Broch trotz aller Probleme, die sie mit sich bringt, an die
Demokratie, deren Aufgabe es sei, „die regulativen Prinzipien der Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit, kurzum die Prinzipien der Menschenwürde und
des Schutzes der menschlichen Persönlichkeit zur Verwirklichung“ zu bringen
und „die ihr regulativ zugrunde liegenden Humanitätsprinzipien als
schützbares und zu schützendes Rechtsgut zu behandeln“. Wenn auch als
unendlich ferner Bezugspunkt, so sah Broch die Demokratie in der Gleichheit
des Menschen vor Gott, in seiner Ebenbildhaftigkeit begründet: „Alle Politik
hebt beim Menschen an; sie wird von ihm, für und oftmals gegen ihn
betrieben. Um über Politik sprechen zu können, muß man eine Vorstellung vom
Menschen haben, sonst spricht man über eine leere Mechanik. Der Mensch mag
die Gottes-Existenz leugnen, aber niemals, daß seine eigene deren Ebenbild
ist. Seitdem es ihm dämmernd aufgegangen ist, daß etwas Absolutes in ihm
wirkt, die Logik seines Denkens, die ihm auferlegt ist, das Bewußtsein
seines Ichs, das Bewußtsein des in seinem Gedächtnis geordneten zeitlichen
Ablaufes, das Bewußtsein des Nichts und des Unendlichen, beides
unbegreiflich, dennoch von stärkster denkerischer Existenz, hat er die
Existenzquelle hiezu in etwas verlegt, das über ihm lebt, und das er mit dem
Namen Gottes, freilich ohne ihn aussprechen zu dürfen, zu bezeichnen wagte.
Und seitdem dies erstmalig geschehen war, wußte er, daß die
Ebenbildhaftigkeit eine Verpflichtung darstellt, der er nicht gewachsen ist.“
Solche Vorstellungen hören sich heute freilich höchst fremdartig an, hat
sich doch, um mit Broch zu sprechen, unsere Demokratie zu einer
„machiavellistischen Kommerzdemokratie“ gewandelt, die sich nicht mehr zu
begründen weiß, die nicht mehr um Ausgleich bemüht ist, all ihre Ideale
vergessen und verraten hat, indem sie die „rückhaltlose Anerkennung der
Rechte des Stärkeren auf sämtlichen Gebieten“ als Verhaltensmaxime
betrachtet. Demokratie ist zu einem leeren Wort geworden, die Phrasen, mit
denen wir um uns werfen, ich bin darin besonders geübt, lassen an
Marketingabteilungen großer Unternehmen denken. Wir reden vom Menschen,
sehen aber keinen Menschen mehr. Umfragewerte sind für uns das, was für
Konzerne Umsatzzahlen sind. Das Kopftuchverbot in Kindergärten ist als
Marketingstrategie zu betrachten. Dazu wären auch Gespräche mit Überlebenden
und vieles andere zu zählen. Und wie in der Werbung bleiben unsere
eigentlichen politischen Zielsetzungen, zu denen, um mit Broch zu sprechen,
nicht zuletzt zählt, „den ganzen Institutionsapparat des Landes in die Hand
zu bekommen“, vollkommen unausgesprochen.
In Brochs Studie fallen die vielen unter Anführungszeichen gesetzten Worte
auf. Er nahm es mit den Worten eben sehr genau. Nähmen wir Sprache nur
halbwegs ernst, wir müssten sehr viele Worte unter Anführungszeichen setzen,
ich zum Beispiel: „lückenlose Aufklärung“, „Erneuerung“, „Bewegung“,
„Sicherheit“, „Systemwechsel“, „gerechter gestalten“, „ordentliche
Rahmenbedingungen“, „Verantwortung“, „verkrustete Systeme“, „demokratische
Grundwerte“, „Werte“ und so weiter. Würden Sie mich genauer fragen, ich
wüsste Ihnen wohl wenig zu jedem dieser Worte zu sagen. Es besteht also, um
es mit Broch zu sagen, die „Gefahr der leeren Worte“, „von den eigenen
Phrasen übermannt zu werden, sich in leeren Worten zu verlieren und sich an
ihnen zu berauschen“.
Was ist in mich gefahren? Was rede ich da? Natürlich werde ich mir nie die
Mühe machen, Brochs verschrobene Studie zu lesen. Die fragmentierte Welt,
die Wertzersplitterung, benötigt ein zielgruppenorientiertes Vokabular,
einfachste Sätze, Worte, mögen sie auch inhaltsleer sein, um auf das
Tagtraumgeschehen, auch eine Überlegung von Broch, einzuwirken. Hermann
Broch ist völlig uninteressant. Schauen Sie sich doch unser Kulturprogramm
an. Um die Stärkung des Wirtschaftsstandortes geht es. Und ich wüsste nicht,
welchen Beitrag Broch diesbezüglich leisten könnte. Schauen Sie doch! Nach
ihm ist in Wien eine Straße benannt, eine kurze Sackgasse. Hatte er Erfolg?
Nein. Er konnte sich in den Jahren vor seinem Tod nicht einmal einen
längeren Krankenhausaufenthalt leisten. Broch glaubte an eine gerechtere
Weltordnung, verfasste eine Völkerbund-Resolution. Hatte er damit Erfolg?
Nein! Er faselte von Wiederverheidung und Wiederdämonisierung. Das ist doch
verrückt. Wir dagegen machen Nägel mit Köpfen. Für Humanitätsduselei ist da
kein Platz. Menschenrechte! Hören wir doch endlich mit solchen
Quacksalbereien auf! Kennen Sie ein Unternehmen, dessen Erfolg sich solchen
Gefühlsduseleien verdankte? Ich nicht. Ob Waschmaschinen, Staubsauger oder
Menschen – das ist völlig gleichgültig. Auf die Art und Weise, wie etwas
verkauft wird, kommt es an. Das zu sagen, ist mir gerade auf dem
Heldenplatz, an diesem Tag, an dem sich der Anschluss zum achtzigsten Mal
jährt, wichtig. Lassen wir die Vergangenheit hinter uns: Die Zukunft hat
begonnen. Broch war ganz auf Scheitern eingestellt. Ich will Erfolg haben,
um welchen Preis auch immer.
© Bernhard Kathan, 2018
P.S.: Es mag zwar sinnlos sein, sich über lange Wochen, und zwar Buchstabe
um Buchstabe, mit Hermann Brochs Theorie des Massenwahnes zu beschäftigen.
Dadurch wird sich nichts ändern. Übrigens quälte sich auch Broch mit solchen
Gedanken. Andererseits bin ich zutiefst vom Nutzen von Betrachtungsübungen
überzeugt, gerade in einer Erregungsgesellschaft, in der alles kurz
aufflackert, aber nicht mehr wirklich haften bleibt. Mich zwingt mein Tun,
jeden Buchstaben, jedes Wort, jeden Satz als gleichwertig zu behandeln. Eine
gute Übung in einer Welt, in der der schnelle Zugriff, das Zitat zählt.
Tatsächlich finden sich wichtige Informationen in einem Text stets im
scheinbar Bedeutungslosen, im Beiläufigen, bei Broch oft genug in langen
Abschweifungen, die auf den ersten Blick wenig mit dem eigentlichen Thema zu
tun haben. Das gilt auch für Leute wie Sebastian Kurz. Nicht das, was er
sagt, ist von Bedeutung, sondern das Unausgesprochene, die Hinterbühne, die,
würden wir sie kennen, uns wohl hoffnungslos trivial erscheinen müsste und
damit in einem krassen Gegensatz zum Unbeachteten in Brochs Texten stünde.
Brochs umfangreiche Abhandlung zur Massentheorie lässt sich auf einer Fläche
von vier Metern Breite unterbringen. Klein schreiben. Grautöne. Ganz
angemessen.