Physik des Glücks

Peter Chiochetti, Innsbruck, Mai 2011

Zwar gibt es ein großes Angebot an tief schürfender Literatur nicht nur in einschlägigen Läden und gibt es die Österreichische Lotterien Gesellschaft m.b.H., die sich an nicht ganz deckungsgleiche doch breite Schichten wenden, und das Wort dabei im Munde führen, trotzdem spielt Glück in unserer Gesellschaft eine großteils verdeckte Rolle. Denn mit jenen beiden ist es längst nicht getan: Die Warenproduktion aller Orten verspricht es insgeheim, ohne sich je ausdrücklich dazu zu bekennen — nicht eher soll man glauben, dass die Werbung die Stimme der Produktion sei, als sie sich des Themas Arbeit annimmt; Regierung und staatliche Verwaltung sind um den Wohlstand der meisten bemüht, nicht ohne dass dieser, wie der sprichwörtliche Wald, bei jedem genaueren Hinsehen, alsbald hinter lauter Bäumen verschwände. So gut wie immer handelt es sich um inhaltliche Festlegungen auf bestimmte Ausprägungen von etwas, das sich gewaltfrei unter Glück einordnen lässt. Würde es jedesmal dazugesagt, dann wollte man es längst nicht mehr hören, so würde es von allen Seiten dröhnen.

Da bleibt es eben still, das Glück, wird im einen Extrem Aporie, das heißt zu dem, das man sich wünscht, aber nicht zu erleben erwartet, und wird im andren Extrem zum stummen Glück, dem mystischen, überwältigenden Erlebnis, über das man nicht Rechenschaft legen kann. Auf die Sehne, die diesen Bogen spannt, möchte ich vorweg schreiben: Glück haben heißt, in einer Welt leben, die Freude bereitet. Glücklich sein heißt, diese Freude empfinden.

Als aufgeklärte Menschen sind wir uns dessen bewusst, dass niemand besser weiß, was gut ist für uns, als wir selbst: eine nicht geringe Verantwortung. Als abgeklärte Menschen machen wir es uns bequem in der Gleichgültigkeit und scheuen die mit jener Verantwortung verbundenen Mühen: Unser Glück soll uns finden, von alleine. Wäre da eine, sich der Sache annehmende Wissenschaft nicht praktisch, die es so einzurichten verstünde, dass wir unser Glück zielstrebig anpeilen und mühelos erreichen könnten — eine Physik des Glücks sozusagen? Die folgenden Abschnitte entfalten in aller gebotenen Ruhe den Raum, den der Titel verspricht. Der Text geht auf keine Kuhhaut. Dafür ist er zu lang. Papier ist da geduldiger. Beginnen wir mit dem, was eben zur Voraussetzung erklärt wurde, mit der Welt.

Physik

Gegenstand physikalischer Betrachtungen sei die handfeste Realität. Aufgabe der Physik sei, die Wirklichkeit dort zu packen, wo sie dem Greifen am nächsten ist; das Physikerleben im Grunde ein Spaziergang mit offenen Augen und klarem Verstand. Seit der frühen Antike suchen Menschen auf diese Art nach Erklärungen für Vorgänge in der Natur: ohne Rückgriff auf Einflussnahme überirdischer Wesen, allein durch nüchterne Erforschung der offenbaren Zusammenhänge im Rahmen des sinnlich Erfahrbaren. Im Nachhinein lässt sich der Erfolg dieser Bemühungen nicht nur an den technischen Errungenschaften ablesen, sondern auch darin, dass die Sache selbst einfacher geworden scheint. Man lese die Schriften der alten Griechen und wundere sich, wie umständlich deren Gedankengänge einem oder einer heute erscheinen: Auf welch abwegige Verbindungen sie sich eingelassen haben, mit welch schwammigen Begriffen sie hantierten, und wie wenig sie dabei, aus heutiger Sicht, erklärten.[1] Man möge darüber nicht ihren Mut vergessen, der sie die Sache in Angriff nehmen ließ, Schwierigkeiten zu überwinden hatten sie genug. Dennoch können erst neuzeitliche Texte uns Modernen den Eindruck vermitteln, es mit einem klaren Denken zu tun zu haben: Die wenigen Axiome Newtons, auf die sich so vieles zurückführen und aus denen sich so viel ableiten lässt, erleuchten alleine einen uns so viel größeren Raum als die gesammelten Aussagen der Riesen, auf deren Schultern sitzend er sich in aller Bescheidenheit wähnte; zumindest was die Physik betrifft. Dagegen erschwert sein Gebrauch der Differentialrechnung und der von ihr eingebrachten Abstraktionsschritte das Verständnis seiner und der seiner Zeit folgenden Texte ungemein. Gegenwärtig scheint Physik ausschließlich in Form höherer Mathematik betrieben werden zu können. Eine natürlich sprachliche Fassung gibt es nicht, und wenn, dann wird sie als notwendigerweise verfälschend verunglimpft. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die sogenannte handfeste Realität unter dem strengen Griff der Physik beständig entschwindet und sich in der sinnlichen Erfahrung immer fernere Teile und Teilchen auflöst: Was einerseits ihre Wissenschaftlichkeit bestätigen mag, weil es ihrem nicht enden wollenden Streben nach Erkenntnis ständig neue Herausforderungen beschert; Was andererseits auch einen Mangel an ihrer Vermittlung aufzeigen mag — man könnte meinen, dass die Lehre der Physik davon ausgeht, dass das Verständnis der Sache sozusagen als Nebenwirkung des schon eher mechanischen Durchrechnens von Formeln ganz von selbst erwächst.[2] Zweierlei möchte ich andeuten: Dass Physik, obwohl sie sich ja mit eben dem beschäftigt, was alle bestens zu kennen meinen, den Erscheinungen der unbelebten Natur, eine schwer verständliche Wissenschaft ist, damals wahrscheinlich nicht weniger wie heute; Und dass es sowohl Gründe als auch gute Gründe dafür gibt.

Im weiteren Verlauf dieses Versuchs wird ein Fachwort aus der Physik besondere Bedeutung erlangen, nämlich Entropie. Ich halte es für sinnvoll, es im Zusammenhang mit Energie einzuführen, weil beide Ausdrücke Mitte des 19. Jahrhunderts in kurzem Abstand von einander aufgekommen sind[3], und sich beide in dasselbe Feld eingeschrieben finden, nämlich die Thermodynamik, die Lehre von der Ordnung der Zustände von Systemen. Wenn jemand beim Lesen dieser beiden Worte meint, dass sich seit der Antike nicht viel geändert hat, dass die Physik nur neue Worthülsen an neue Stellen gepflanzt hat, so mag ich nicht widersprechen, zu sehr bin ich in dieser Zeit verwurzelt, als dass eine sinnvolle Debatte entstehen könnte. Ich sehe es aber nicht gerne, wenn die beiden Begriffe, weil sie von vielen nicht verstanden werden, von beinahe eben so vielen verwendet werden, um unverständlichen weil unsinnigen Aussagen einen geheimnisvollen Anstrich zu geben. Ich behalte mir vor, bei der Erwähnung von Energie in einem Text nicht zu Physik oder Metaphysik an nachdrücklich und kraftvoll, energisch eben, ausgeführte Handlungen zu denken[4] und lehne jede Schuld an entstehenden Missverständnissen ab. Nun zur Geschichte.

Thermodynamik

Mitten hinein in die Industrialisierung Europas geht es, lange nach Erfindung und Verbreitung von Uhrwerken, die uns ihren Beginn markieren[5]. In Bergbau und Fabriken steigt der Bedarf an mechanisch verrichteter Arbeit ständig an. Angesichts der Menge an brennbarem Material, das sie in sich hineinfressen, erzielen die frühen Dampfmaschinen aber nur eine beschämende Leistung. Der Ingenieur Sadi Carnot geht dem auf die Spur: 1824 veröffentlicht der damals 28jährige die Ergebnisse seiner Forschungen in der Schrift „Gedanken über die bewegende Kraft des Feuers und über die geeigneten Maschinen zur Entfaltung dieser Kraft“[6]. Er beschreibt darin einen idealen Kreisprozess, in dem Wärme von einem heißen zu einem kalten Körper übergeht, und dabei Arbeit verrichtet. Der vermittelnde Dampf ändert darin viermal seinen Zustand, er kühlt ab, wird verdichtet, erwärmt sich und dehnt sich aus, bis er wieder den Ausgangspunkt erreicht. Anhand dieses Modells lassen sich konkrete Verbesserungen an den Maschinen herleiten und heute noch, bald 200 Jahre später, werden alle Arten von Verbrennungsmaschinen, sei es der Ottomotor im Kraftfahrzeug, sei es die Dampfturbine im Kernkraftwerk, gerne an diesem, nach ihm benannten Prozess gemessen. In seinen Überlegungen nimmt Carnot die Erfindung der Wärmepumpe als Umkehrung des Prozesses vorweg und schafft die Basis für die Berechnung von Wirkungsgraden. Damit trägt er einiges zur Vorbereitung der mechanischen Wärmelehre, der Thermodynamik, bei.

Carnot selbst hing noch der sogenannten Kalorischen Theorie an, die damals gerade ins Wanken geriet. Deren Annahme, dass Hitze ein eigener Stoff sei, war durch frühere Experimente bereits zweifelhaft geworden: Etwa als der Graf Rumford am königlichen Militärarsenal in München feststellte, dass man Kanonen mit stumpfen Bohrern Ende nie erhitzen konnte, ohne dass der „Wärmestoff“ je ausging[7]. Aber erst nach Carnots Ableben wurde sie vom Bierbrauer James Joule[8], dank genauer Messmethoden mehr, und kurz vor diesem vom Arzt Robert Mayer[9], dank spekulativer Begründungen weniger, schlüssig wegerklärt. Wärme=Energie wird die Physik bald darauf in ihr Buch schreiben; mit Istgleichzeichen. Insbesondere ist die Größe Wärme in der Physik damit seither an einen Vorgang gebunden, da sie nur in Arbeit umgelegt werden kann, solange man sie als ein Übergehendes begreift. Der Carnot-Prozess legt das auch ganz nahe, man kann ihn in der Gleichung W = -Q zusammenfassen: Der Gewinn an Arbeit gleicht dem Verbrauch an Wärme. Leider blieben viele der umgangssprachlichen Bedeutungen das Wortes damit außen vor; Nicht nur wurde Physik einmal mehr schwieriger, ihr entstand ein, wie man sehen wird, auch ihr selbst anfangs unerklärlicher Rest.

Früher noch, spätestens im 18. Jahrhundert, begann in der Physik die Blüte des Instruments der Erhaltungssätze, aber erst 1847 formulierte der gar erst 26jährige Hermann Helmholz im Buch „Über die Erhaltung der Kraft“[10] einen sehr allgemein gehaltenen, Arbeit, Wärme, Elektrizität, Magnetismus und Elektromagnetismus umfassenden. Erhaltungssätze sind als Gleichungen angeschrieben. Es stellt sich die Frage, was es ist, das dabei erhalten bleibt. Man ist verführt, die Frage als müßig abzutun, denn wenn man schreibt, 2 + 2 = 4, dann bleibt nichts dabei dasselbe, weil da nichts ist, von dem die Rede wäre. Wenn man aber sinnvoll rechnen will, dann genügt es nicht, W = -Q hinzuschreiben, man schreibt lieber dU = δQ + δW — die Änderung am Zustand U gleicht der Menge an Q und W die geschehen. Man trifft damit eine Aussage über ein geschlossenes, ruhendes System, dessen Eigenschaft U sich in dem Maß verändert, wie es Wärme empfängt und Arbeit erleidet; Diese Eigenschaft ist aber nicht eine beliebige von vielen, sondern eben die Summe der beiden andren. Man beachte gerade auch die Funktion des + Zeichens: U ist nicht Äpfel und Birnen, U ist Äpfel plus Birnen, U ist etwas, das beiden gemein ist, sie zu demselben und damit verrechenbar macht. So absurd das alles klingen mag, der in der Formel ausgedrückte Zusammenhang ist eine weitreichende Erkenntnis. Er ist der erste Hauptsatz der Thermodynamik: Innerhalb eines geschlossenen Systems bleibt U stets unverändert; mit der Konsequenz, dass kein geschlossener Kreisprozess seine Umgebung heizen oder an ihr arbeiten kann.[11] Dieses U nun, das die Wärmekraftmaschine von Q zu W verschiebt — was unterstellt, dass diese beiden es selbst sind — heißt seit der Mitte des 19ten Jahrhunderts die innere Energie[12]. Da haben wir das erste Wort.

Zum angekündigten Rest: Energie in der Form von Wärme fließt also vom Körper mit höherer zu dem mit niedrigerer Temperatur und kann dabei in mechanische Arbeit sozusagen verwandelt[13] werden, wenn man es nur geschickt genug anstellt. Und Arbeit kann nach Belieben in Wärme zurückgewandelt werden — aber nicht ebenso beliebig Wärme in Arbeit[14]: durch die von Istgleich- und Pluszeichen unterstellte Identität verläuft ein Bruch! Es dauerte allerdings nicht lange, dass die Physik mit diesem scheinbaren Widerspruch von Theorie und Praxis leben musste, weil dem Theoretiker Rudolf Clausius, der sich um 1850 in die Thermodynamik vertiefte, die Formulierung eines, auf den Erhaltungssatz folgenden, zweiten Hauptsatzes gelang: Wärme fließt nie von alleine vom kalten zum warmen Körper. In seinem Gedankengang geht er davon aus, dass sich am Zustand des Systems, wenn der Kreis einmal durchlaufen ist, etwas geändert hat, das nicht davon abhängt, wie es dazu gekommen ist. Zu dem U muss noch eine weitere Größe in die Rechnung mit aufgenommen werden, zum Beispiel S. Bestimmt wird sie letztlich durch die Formel dS = δQ/T — die Änderung am Zustand S gleicht der Menge an Wärme Q, die bei einer bestimmten Temperatur T fließt. Clausius’ dieser Formulierung vorausgegangene Beobachtung ist die, dass bei verschiedenen Temperaturen verschiedene Energien frei werden und, dass wenn die Umwandlung von Wärme in Arbeit nicht vollständig geschieht, das aus dem vorausgesetzten Temperaturgefälle folgt. Kein geschlossener Kreisprozess kann also allein darin bestehen, dass Wärme zu Arbeit wird[15]. 1864 fand er für diese Größe S einen Ausdruck, der den außerordentlichen Umstand gebührlich benannte, nämlich Entropie[16]. Da haben wir das zweite Wort nun auch.

Technik

Im Rückblick liest sich diese Geschichte mehr wie die einer technischen Leistung als eine von kontemplativen Naturphilosophen. Nicht zuletzt hat das Referat mit einem Ingenieur begonnen und viele der Beteiligten gingen ganz profanen Berufen nach. Mit dieser Bemerkung möchte ich ihre Kunst nicht schmälern, es steht ja niemandem in irgend einer Weise schlecht, sich mit den Sorgen der Menschen ihrer oder seiner Zeit zu beschäftigen und im besten Fall einmal einen Ausweg aus einem Dilemma zu wissen; Von Wissenschaftlern erwartet man das wohl am meisten. Auch dass die beiden Hauptsätze Axiome sind, das heißt, dass sie aus der Erfahrung stammen, und selber nicht beweisbar sind, schon gar nicht in einem streng mathematischen Sinn, da sie nicht aus anderen Hauptsätzen abgeleitet werden können, erscheint mir nicht als ein Mangel, sondern ich sehe in ihnen die Frucht langer Anstrengungen. Die Ausdrücke Energie und Entropie zieren jedenfalls den seit Jahrhunderten wuchernden Baum der Physik und tun das nicht nur in meinen Augen.

Wenn die Aufgabe nun sei, in wenigen Worten diese Blüten menschlicher Erfindungskraft zu beschreiben, dann macht der Begriff Energie es einem sehr leicht: Energie befähigt dazu Arbeit zu verrichten. Mit der Entropie ist es schwieriger, ich möchte es so versuchen: Entropie zwingt Vorgängen in der Natur eine Richtung auf.[17] Beide bilden grundlegende Begriffe in den Teilbereichen der Physik in denen sie beheimatet sind, und spielen tragende Rollen in anderen Naturwissenschaften wie Chemie und Biologie. Beide gehören sie zu den sogenannten extensiven Zustandsgrößen wie Masse und Volumen, das heißt dass sie proportional mit der Größe des betrachteten Körpers oder Systems wachsen, im Unterschied zu intensiven Größen wie Temperatur oder Druck. Während Energie eine Erhaltungsgröße ist, das heißt dass sie in einem geschlossenen Prozess weder mehr noch weniger wird, kann Entropie mehr werden, aber nicht weniger. Daraus erhellt, warum spontan ablaufende Vorgänge sich nicht ebenso spontan zurücknehmen. Clausius selbst verband seine Entdeckung mit pessimistischen Spekulationen[18], die dem Wort Entropie wie ein Makel auch heute noch anhängen.

Nicht überraschend also hatte der Begriff Entropie um einiges schwerer als der der Energie um seine Anerkennung zu kämpfen. 1871 bereits veröffentlichte der Physiker James Clerk Maxwell ein Gedankenexperiment, in dem er einen Dämonen vorstellt, der eine Wärmekraftmaschine wider den zweiten Hauptsatz am Laufen erhält, die nichts weiter tut, als dass sie selber immer kälter wird und dabei trotzdem Arbeit leistet. Der Dämon, der selbst keine Energie verbrauche, ersetzt ihr die Zufuhr von Wärme. Er erreicht das dadurch, dass er eine kleine Tür zwischen zwei angrenzenden Behältern auf eine Art öffnet und schließt, dass schnelle Teilchen nur in die eine und langsame nur in die andere Richtung passieren dürfen und somit ein Temperaturgefälle erzeugt.[19] Egal wie man zu solchen Gedankenexperimenten steht, wohl wegen Maxwells Prominenz hat dieses eine Menge Literatur angeregt. Insbesondere wer Entropie bedrohlich empfindet, wird sich davon angezogen fühlen, vernichtet der Maxwell’sche Dämon diese ja.[20] Andrerseits öffnet er der Suche nach dem Perpetuum Mobile[21] erneut die Tür, und mag deswegen als Ärgernis empfunden werden.[22] Der aktuelle Einwand gegen die Stichhaltigkeit des Paradoxes, der letzte in einer langen Reihe, stammt aus der Verknüpfung von Physik und Informationstheorie. Ich fasse mich kurz: Der Dämon braucht ein Gedächtnis, das nicht endlos sein darf, deshalb muss er Informationen vergessen können. Vergessen ist ein nicht umkehrbarer Prozess. Die Tätigkeit des Dämons erzeugt demzufolge insgesamt mehr Entropie als sie vernichtet.[23] Dieser Einwand entkräftet damit, dass er den Ausgang des Experiments als zwangsläufig eintretenden bestätigt, Maxwells Kritikpunkt, dass Entropie nur eine statistische Größe sei, aber keine physikalische.

Statistik

Dem Physiker Ludwig Boltzmann, der Maxwell sehr schätzte, entstanden keine Bedenken daraus, dass Entropie eine statistische Größe sei. In seinem Bemühen, den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, zu dem es in der Newton’schen Mechanik keine direkte Entsprechung gab, auf solide mechanische Prinzipien zu legen, entwickelte er denn, zeitgleich mit und unabhängig von Willard Gibbs, in der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts die sogenannte „Statistische Mechanik“[24]. Dieser Lehre zufolge leiten sich die unseren Sinnen offenbaren Eigenschaften von Stoffen von den mechanischen Eigenschaften der Atome ab, aus denen sie aufgebaut sind.[25] Aussagen über ihr Verhalten sind deshalb immer mit einer gewissen, sei es verschwindend geringen, Unsicherheit verbunden, weil sich einzelne Atome ab und zu abweichend von der Masse verhalten. Weil diese Ausreißer aber mit so einer geringen Häufigkeit auftreten, dass sie beim Betrachten der Stoffe selber unerheblich werden, war es Boltzmanns Überzeugung, dass sich das Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten sehr wohl mit den Ansprüchen einer exakten Naturwissenschaft verträgt[26]. Zu seiner Zeit fand sich allerdings die lange Zeit unbestrittene Annahme von Atomen heftigen Angriffen durch Energetiker und Positivisten ausgesetzt; anders als heute[27] waren Atome damals nicht beobachtbar, die Grundannahme der Lehre also nicht bewiesen. Den erneuten Durchbruch des „Atomismus“ durch die Ende der 90er Jahre beginnende Erforschung der Radioaktivität durch Henri Becquerel, Marie Curie und andere erlebte Boltzmann nicht mehr.[28] Seine Schülerin Lise Meitner immerhin war maßgeblich an der Vorbereitung und der theoretischen Aufarbeitung von ersten Experimenten zur künstlich herbeigeführten Kernspaltung beteiligt.[29]

Von Boltzmanns Leistungen interessiert hier besonders die, dass er die Mechanik um ein Modell erweiterte, das es ihr erstmals ermöglichte, nicht umkehrbare Vorgänge zu denken. Sein Verständnis erschließt sich aus zwei Sichtweisen des Selben, aus der Unterscheidung in Makro- und Mikrozustände eines Stoffes. Der Makrozustand wird in den klassischen Größen der Physik wie Volumen, Masse, etc. beschrieben. Der Mikrozustand erfasst dagegen die Anordnung der den Makrozustand bildenden submikroskopischen Moleküle und Atome. Boltzmann vertrat nun die Auffassung, dass jedem Makrozustand eine wechselnde Anzahl von Mikrozuständen gegenüberstehe. Entropie nimmt im Erklärungsmodell die Stelle des Maßes der einem Stoff möglichen unscheinbaren Veränderungen, die Zahl der erreichbaren Mikrozustände ein. Als Gleichung wird hier S = kB ln Ω angeschrieben[30]: Die Entropie eines Makrozustandes ist proportional zum natürlichen Logarithmus der Anzahl der ihm möglichen Mikrozustände.

Boltzmann war ein begeisternder Redner, seine Vorlesungen regelmäßig überfüllt. Zur Verdeutlichung seiner Ansichten über die Entropie wählte er leider ein unglückliches Bild: Er verglich den Zustand hoher Entropie mit Unordnung und den Zustand niederer Entropie mit Ordnung. Unglücklich deshalb, weil es zwar stimmt, dass man einen Haufen Eiswürfel leichter verräumen kann bevor er geschmolzen ist, diese triviale Beobachtung aber die Errungenschaft, die der zweite Hauptsatz der Thermodynamik darstellt, nicht angemessen zum Ausdruck bringt. In einem gewissen Sinn freilich ist sie korrekt: Dem menschlichen Auge, das eine Schneeflocke betrachtet, erscheint die Anordnung der Wassermoleküle im Kristall ordentlicher, als es sie vor einer Wasserlache stehend sieht. Die Atome bezahlen diese Ordnung mit der Aufgabe von Freiheitsgraden: Sie finden sich in der Wahl ihres Ortes und ihrer Energien eingeschränkt, auf ein Kristallgitter gezwängt; Anstatt sich in einer von zig Arten anzuordnen, können einzelne Atome die Möglichkeiten, wie sie zu anderen Atomen stehen, dann an einer Hand abzählen.

Die folgenden beiden Abschnitte sind im Vorfeld dieser kleinen Physikstudie entstanden. Gewissermaßen ebneten sie ihr den Weg. Sie wurden mit Bedacht knapp gehalten und werfen vielleicht mehr Fragen auf, als sie beantworten; Auf den ersten Blick scheint zwischen ihnen auch kein Zusammenhang zu bestehen. Ich bitte um Geduld, vielleicht ergibt sich später noch einer.

Entropie

Entropie ist ein Fachwort aus Physik und aus Informatik. Umgangssprachlich dient es dazu, den Anblick zu beschreiben, den der Schreibtisch Ihres Autors bietet. Die ersten zwei Verwendungen des Wortes können zueinander in Bezug gebracht werden, letztere mit beiden anderen nicht.

Wegen seines ausgeprägten Ordnungssinnes hatte man den Maxwell’schen Dämon als Mädchen für alles eingestellt.

Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik behauptet, dass Energie dazu neigt sich in der Umgebung zu verlieren anstatt Arbeit zu verrichten. Der Wert dieses Satzes besteht nicht zuletzt darin, dass er es erlaubt zukünftige Ereignisse vorherzusagen. Das umfasst recht banale Aussagen wie die, dass Kaffee und Milch in einer Tasse mischen, oder dass das Essen heiß wird am Herd und wieder kalt, wenn man sich nicht beeilt damit. Während dieses Vorgangs ändert sich der Zustand der Gesamtheit — von sich im Raum ausdehnenden Stoffen oder von abkühlendem warmem Körper und dessen sich erwärmender kalter Umgebung — auf eine Art, die es unmöglich macht, dass dieser Prozess sich spontan wieder zurück nimmt. Zeit ist vergangen. Die betreffende extensive Größe wurde 1864 von Rudolf Clausius Entropie benannt: Weil sie sich rechnerisch aus der Division der übertragenen Wärmemengen und deren jeweiliger absoluter Temperatur ergibt können Änderungen daran in geschlossenen Systemen nicht negativ ausfallen.

Der Maxwell’sche Dämon serviert uns jetzt eine Latte Macchiato, die er aus dem erwähnten Cappuccino bereitet hat, der durch viel zu viel Milch ungenießbar worden war.

In der Informatik steht Entropie — seit der Einführung des Begriffs 1948 durch Claude Shannon — für die Unsicherheit, mit der ein zukünftiges Ereignis vorhergesagt werden kann. Bei einer Serie von Würfelwürfen ändert sich diese nicht, die Überraschung ist immer dieselbe. Eine Kette von Zeichen, deren jedes das Ergebnis eines Wurfs aufzeichnet und deren Alphabet so viele Zeichen umfasst wie der Würfel Seiten aufweist, hat demnach maximale Entropie. In natürlich sprachlichen Texten dagegen folgen Buchstaben nicht willkürlich aufeinander, sondern geben sich gemäß einer Reihe von Konventionen geordnet. Je nach der Erwartung, die man an den Text stellt, wird man unterschiedliche Entropien messen. Je schlauer man es anstellt, desto größer wird die Differenz zur maximalen Entropie ausfallen, und desto mehr Redundanz kann man dem Text vor seiner Übertragung entziehen.

Der Maxwell’sche Dämon liest uns jetzt aus einem Buch vor, dessen Lettern er im Vorhinein alle nach der Häufigkeit ihres Vorkommens sortierte.
Zwei Raster (Mikrozustände) die aus genügender Entfernung ununterscheidbar denselben Grauwert (Makrozustand) von 50% erscheinen lassen.
[ Abb.
Makrozustand ]

Unter dem Nanoskop sieht thermodynamische Entropie so aus, dass Atome und Moleküle sich nicht beliebig anordnen können, sondern dass sie in ihrer Wahl durch äußere Umstände auf schrittweise gestaffelte Energiezustände beschränkt sind, vergleichbar einem endlichen Zeichenvorrat. Man kann den Mikrozustand eines Stoffes folglich wie eine Nachricht lesen. Und wer weiß, vielleicht werden zukünftige Quantencomputer die bis dahin ins ungeheure angewachsenen Datenmengen in schwarzen Löchern speichern, wo sich Entropie am kompaktesten verräumen lässt.

Der Maxwell’sche Dämon klebt jetzt fest auf dem Eislaufplatz vor dem Haus, nachdem er alle Entropie unter den Kufen seiner Schlittschuhe aufhob.

Ich muss den von ihm umgebauten Kühlschrank ausschalten und ihn befreien. Die Nachbarn kommen bald heim und wollen es sich sicher gemütlich machen: Es ist zwar Sommer, aber sie werden auch Strom brauchen.

Kontingenz

Manchmal genügt es nicht, ein Faktum festzustellen. Man möchte wissen wie es dazu gekommen ist. Leichter gesagt als getan, gibt man bald die Suche auf, lässt die Sache beim Zufall bewenden und sagt, sie sei kontingent. Seltener genügt es nun nicht, von etwas auszusagen, es sei kontingent. Man möchte wissen was diese Aussage selbst aussagt, welches Faktum sie wiederum feststellt: den Begriff der Kontingenz.

Man wird sich in die Geschichte vertiefen und in den Boëthius’schen Übertragungen des Aristoteles ins Lateinische gleich drei Bedeutungen von contingens finden: Kontingent ist (1) was möglich ist, (2) was nicht notwendig ist und (3) was weder notwendig noch unmöglich ist. Weil man annimmt, dass die Tafeln der aristotelischen Syllogistik sich um die Achse des Wirklichen ordnen, wird man erkennen, dass diese drei Begriffe darauf je eigene, unterschiedliche Felder bilden. „Recht einfach,“ wird man vielleicht voreilig meinen. Aber wenn man weiters annimmt, dass das Modalgefälle Notwendigkeit, Wirklichkeit, Möglichkeit Begriffe der aristotelischen Metaphysik versammelt, wird man erkennen, dass sich unversehens die eigene Perspektive verschoben hat. Man geht nunmehr von der Frage aus, „Was ist Sein?“ und fragt beispielsweise weiter, „Wie verwirklicht sich das Mögliche?“ Unvermittelt sieht man sich mit vier Arten von Ursachen konfrontiert, von denen man nur eine versteht. Plötzlich ist Kontingenz ein Modus des Seienden: Von allem, das ist, ist kontingent dasjenige, das auch anders sein kann, oder gar nicht. Im eigenen Leben wird sich die Fähigkeit oder Unfähigkeit, es vom Notwendigen zu unterscheiden, im Grad der erreichbaren Glückseligkeit niederschlagen, weil die Beschäftigung mit dem Kontingenten sich auf die Praxis beschränkt, während erst die Beschäftigung mit dem Notwendigen und Ewigen, die Theorie, deren Potential erschöpft.

Mittelalterliches Quadrat der Modalitäten, in Anlehnung an das logische Quadrat der aristotelischen Syllogistik.
[ Abb.
Modalquadrat ]

Um der Verführung zu begegnen, in jeder Möglichkeit ein Mögen wirken zu sehen, in jeder Notwendigkeit ein Müssen (beides δύναμις), all überall ein Selbst werden Wollen (ἐνέργεια), um nicht in diesen Strudel zu tauchen, fasse ich vorläufig zusammen: Glücklich ist man im Kreis der Lieben und das kontingent Seiende ist The Naked Lunch – mal intensiv, verlangend, präsent, mal nichtssagend, beiläufig, stupide.

Das wäre dieser kleine historische Abriss auch schon gewesen, wäre da nicht die spätmittelalterliche Entdeckung des Duns Scotus, die Möglichkeit zu vergeistigen, sie als das zu verstehen, dessen Verwirklichung keinen logischen Widerspruch erzeugt. Er hat den Begriff der Kontingenz in die Gegenwart herüber gerettet, denn er hat ihn mit dem kausalen Denken vereinbar gemacht. Kontingent ist nun, je nachdem ob epistemisch oder ontisch gedeutet, mangelndes Wissen oder grundlose Hypothese, ohne dass man am Wortlaut der Definition etwas hätte ändern müssen; Es ist nach wie vor das, das zugleich nicht unmöglich und auch nicht notwendig ist. Wie heute aber die Kontingenz von der Zufälligkeit abgrenzen, der sie seither gefährlich nahe gerückt ist? Zwar ist alles Zufällige kontingent, aber längst nicht alles Kontingente zufällig. Dass der Notwendigkeit, die unter dem Deckmantel des Determinismus den Sprung in die Neuzeit mühelos schaffte, dieser Tage ein ähnliches Schicksal widerfährt, mag die Frage müßig machen. Man braucht gar nicht an Quantenfluktuationen im Vakuum denken, in allen Naturwissenschaften, den Hochburgen des Determinismus, wird beinahe ausschließlich von Wahrscheinlichkeiten gesprochen und geht ohne Statistik so gut wie nichts mehr.

Die Modalitäten Notwendigkeit, Möglichkeit, Unmöglichkeit und Kontingenz bleiben den Erzählungen vorbehalten, in die wir unsere Leben betten.

Die Formel

Ganz im Sinne eines mit „Physik des Glücks“ übertitelten Aufsatzes hoffe ich im ersten Teil ein Bild von dem vermittelt zu haben, auf das man sich einlässt, wenn man sich mit Physik zu beschäftigen beginnt. Beinahe lückenlos baut darauf der zweite Abschnitt: Hinzu tritt die Informationstheorie und keine schwierigen Fragen tauchen auf. Beide Wissenschaften teilen sich ein Wort, Entropie, und meinen dabei etwas ihrem Feld Spezifisches. Es gibt Überschneidungen, nicht nur anekdotische[33], und vielleicht bezeichnen sie sogar ein und dasselbe[34]. Dem gegenüber meine ich, den Bezug von Entropie und Kontingenz erklären zu müssen, denn er scheint um einiges weiter gefasst. Zwar trat im vorigen Abschnitt das Wort Energie auf, allerdings in einer Verwendung, die mit Physik schwer vereinbar scheint. Damit Kontingenz nicht ganz verloren da steht, muss ich wohl den versprochenen Zusammenhang dieser beiden letzten Abschnitte aufdecken. Aufmerksame Leserinnen und Leser werde ich nicht überraschen können, denn spätestens beim Anblick des Terms unten wird er auf der Hand liegen. Man sieht dort die Shannon’sche Formel zur Berechnung der Entropie, eine Abwandlung der Boltzmann’schen. Sie ist tatsächlich ein Algorithmus, die Anleitung zu einer Folge von Handlungen, die zu einem mehr oder weniger vorhersehbaren Ergebnis führen — ganz ähnlich einem Kochrezept. Natürlichsprachlich heißt sie: Man nehme die einzelnen Möglichkeiten, die sich gerade bieten, schätze die jeweilige Wahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung und multipliziere diese mit ihrem Logarithmus; Man addiere fortlaufend die erzielten Teilergebnisse bei verkehrtem Vorzeichen. Mathematisch schreibt man:

[ Abb.
EntropieFormel ]

Der Zusammenhang ist nun der folgende: Weil die Wahrscheinlichkeit des Unmöglichen Null ist, geht es nicht in die Summe ein; Weil die Wahrscheinlichkeit des Notwendigen Eins und der Logarithmus von Eins wieder Null ist, geht es nicht in die Summe ein — Was dagegen in die Summe eingeht ist nichts anderes, als die Aristotelische Definition der Kontingenz umschreibt: Das was weder notwendig noch unmöglich ist. Kurz, Entropie ist das Maß des Kontingenten. Diese Verbindung der beiden vorhergehenden Abschnitte fußt freilich auf der Form, in der die Begriffe dargestellt werden, von denen sie erzählen. Man mag das für einen Kurzschluss halten, und ich möchte gar nicht widersprechen. Jedenfalls empfinde ich es spannend, wie sich hier antike Philosophie und moderne Naturwissenschaften berühren. Ein wenig ist das ja hoffentlich in den letzten Zeilen der vorigen Abschnitte schon angeklungen.

Soll ich nun behaupten, etwa im Sinne eines Aufsatzes über die „Physik des Glücks“, dass es sich dabei um eine „Glücksformel“ handelt? Eine gewagte Behauptung, die man sich als Freiheit der Kunst vielleicht herausnehmen darf. Ich will mich allerdings nicht derselben Kritik aussetzen, mit der Ludwig Boltzmann sehr treffend die Glücksformel (E + W)(E - W) seines Zeitgenossen und Freundes, des Chemikers Wilhelm Ostwald kritisierte.[35] Ich fasse zusammen: Seelische Vorgänge sind keine im physikalischen Sinne messbaren Erscheinungen. Wie energisch eine Handlung ausgeführt wird sagt nichts über ihre Bedeutung aus. Es ist dumm die Seele in eine „Energetik“ einzuschreiben und schon gar, die Größe des empfundenen Glücks an der aufgewandten körperlichen Mühe zu messen. Diesen Versuch hier besonders berührt aber der Punkt: „denn eine Formel hat doch den Zweck, Unbekanntes durch Bekanntes, nicht durch etwas anderes Unbekanntes auszudrücken.“[36] Weiters soll eine Formel auch etwas sagen, was nicht alle ohnehin schon wissen, und sie soll auch nicht bloß ein Rückfall „in das Wohlgefallen am rein Formalen […], ein Rückfall in die Methode, sich von vorgefaßten Meinungen beherrschen zu lassen“[37] sein, anstatt auf die Verflechtung mit dem Wirklichen zu achten. Selbst wenn ich keinen wissenschaftlichen Anspruch stellte, fühlte ich mich diesen Anforderungen verpflichtet. Es wird mir nicht gelingen alle Einwände auszuräumen, ein paar möchte ich vorwegnehmen.

Die Multiplikation der Wahrscheinlichkeiten mit dem je eigenen Logarithmus dient bei Shannon und Boltzmann nur dem einen Zweck, dass das sich ergebende Maß proportional der betrachteten Stoffmenge wird, was in der physikalischen Realität gründet, macht sie das Ergebnis ja zu einer extensiven Zustandsgröße. Hier aber übernimmt dieser Schritt noch eine weitere Aufgabe, nämlich die Ausscheidung des Notwendigen. Ich muss offen lassen, wie sehr das die Verbindung überdehnt.

Die Feststellung eines Zusammenhangs von Entropie und Kontingenz scheint so zu tun, als hätte Duns Scotus nicht gelebt. Scotus’ Deutung der Kontingenz als dem dank Abwesenheit von logischen Widersprüchen Verwirklichbaren[38] weist eher in Richtung der Leibniz’schen These der möglichen Welten[39]. Die statistische Annäherung an die Kontingenz orientiert sich dagegen ganz an der Aristotelischen Definition und hat mit moderner Modallogik wenig zu tun. Mit ein wenig Wohlwollen kann man das auch so auslegen, dass hier Kontingenz ein zweites Mal „herüber“ gerettet wird, nicht mehr in den Rationalismus, sondern in eine noch namenlose statistische Weltsicht.

Die Formel eine Formel des Glücks zu nennen legt nahe, dass sie eine seelische Befindlichkeit zum Ausdruck bringt. Kontingenz ist bei Aristoteles aber keine seelische Kategorie, sondern eine des Seins. Das spricht zwar dafür, dass der Zusammenhang nicht ganz so weit hergeholt ist, wie er erscheinen mag, wirft aber die Frage auf, warum dann überhaupt von Glück reden. Dieser Einwand trifft jedoch Aristoteles’ Lehre genauso, der die Verbindung gleichfalls herstellte, als er die Beschäftigung mit dem Kontingenten als dem Glück nicht förderlich abgetan hat. Ich möchte darauf hin nicht so weit gehen, dass ich die Formel eine des Unglücks nenne. Eine solche Wertung wäre eindeutig verfrüht.

Es ließen sich noch viele Einwände finden, die dagegen sprechen, dass der Zusammenhang einen Sinn ergibt. Man kann Kontingenz anders definieren, dann fällt er überhaupt aus. Die Sache mit der „Glücksformel“ steht auf wackeligen Beinen. Krankenkassen werden sich weigern, das Rezept zu akzeptieren. Der Zusammenhang ist am Ende nicht einmal oberflächlich. Ich werde diese Aussage nicht behaupten. Zumindest nicht in dieser Form, wenn, dann nur außerhalb der Form.[40]

Übrig bleiben Wahrscheinlichkeiten allerorten, das Gesetz der Großen Zahl, und ein kaum vernehmbares Rauschen. Solange sich die Physik darauf beschränkt, die nächste Sonnenfinsternis vorauszusagen, bleibt sie auf festem Boden. Die Dinge nehmen ihren Lauf, und dem, der den Trend früher erkennt, winken große Reichtümer. Wo die Physik einst sich gegen die Macht der Götter wehrte wird sie heute aber nicht müde zu sagen, dass Vorgänge in der Natur eben nicht allein vom Zufall gelenkt werden.[41] „Es kann so geschehen, aber auch anders, aber eher so, auf eine berechenbare Weise gar. Wahrscheinlichkeiten sind nicht zufällig verteilt. Die Natur zieht gewisse Abläufe anderen vor, manche können gar nicht statt finden.“ Die Physik sagt Entropie dazu. Metaphysisch gesprochen sind es die Dinge selbst, die auf die eine und nicht die andere Art handeln oder leiden wollen. Und was sonst will die Physik mit dem Ausdruck „Zustandsgröße“ sagen, als genau dieses? Entropie ist, was den Zufall von der Kontingenz unterscheidet. Und sie ist unweigerlich im Spiel, sobald mehr als eine Handvoll Atome versammelt sind.

In einem zweiten Anlauf, ich bitte darum, sei mir gestattet, die Brücke zwischen Entropie und Kontingenz, zwischen Physik und Metaphysik erneut zu schlagen. Es darf nicht wundern, wenn die Beispiele unten nicht der Physik entnommen sind, es geht immer noch um die „Glücksformel“. Sie beziehen etwas ein, das der Materie gewöhnlich abgesprochen wird, Verständnis und Wille, das man nur bei Lebewesen anzutreffen vermutet, und selbst da vornehmlich bei Menschen. Also: Entropie ist das Wissen das mir fehlt, um heute sagen zu können, was ich morgen tun werde; bei allem Willen. Kontingenz ist die Vielheit aller Willen, die entscheiden, was ich morgen tun werde. Ein anderes Beispiel: Entropie ist das Wissen das mir fehlt, um meinen Nachbarn zu verstehen. Kontingenz ist die Vielheit der Gründe, die ihn dazu bewegen, sich so zu verhalten. Entropie mag hier als Mangel erscheinen, eine reine Konsequenz der Ausdrucksweise. Genausogut kann man sie als Fülle einführen: Entropie ist die Überraschung die mein Handeln morgen, oder die das Verhalten meines Nachbarn gestern wie heute, mir bereiten.

Die Begriffe der beiden vorhergehenden Abschnitte erscheinen nun als zwei Seiten einer Münze. Eine nicht uninteressante Frage, die daran anschließen könnte und der nachzugehen sicher lohnte, wäre die: „Wieviel Meta steckt in unserer Physik?“ Es blieb oben unerwähnt, dass auch der Ausdruck „Energie“ seinen Rang nicht kampflos einnehmen konnte. Schon ihre Vorgängerin mit dem klingenden Namen „lebendige Kraft“, Vis viva war anfangs umstritten, und Newton hatte kein Gewicht auf ihre Feststellung gelegt.[42] Daran ließe sich gleich die nächste Frage anschließen: „Wieviel Leben steckt in der Materie?“ Ich müsste diese Fragen hier unbeantwortet lassen — viel mehr drängt eine andere: Wenn Physik die unbelebte Natur zum Thema hat, ist Physik des Glücks dann nicht ein Widerspruch in sich? Hätten wir eine Antwort auf diese Fragen und viele mehr nicht längst vor uns liegen, in einer Wissenschaft, die als Lehre von der Verwaltung menschlicher Gemeinschaften begann, in der Statistik.[43]

Das Durchschnittsglück

Die Art, in der Statistik mit dem Problem aufräumt, es mit etwas zu tun zu haben, über das man nichts genaues sagen kann, ist in der Tat erstaunlich. Wie erwähnt, soll eine Formel Unbekanntes durch Bekanntes ersetzen. Der Statistik gelingt dies, wenn sie ein großes Unbekanntes in viele kleine Unbekannte zerlegt, die sich einzeln erkennen und dann zu einem großen Bekannten zusammenführen lassen. Die Einzelerkenntnisse gehen dabei allerdings unter. Mit gesichtslosen Atomen funktioniert das allerliebst, wie Boltzmanns Theorie beweist. Die in der Statistik so wichtige Große Zahl ist in der Physik bald erreicht, schon mikroskopische Mengen eines Stoffes bestehen aus Millionen Atomen. Zuhilfe kommt der Statistik die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sie erlaubt es wieder Aussagen über Einzelschicksale zu treffen. Beide sind spätestens mit dem Aufblühen des Versicherungswesens untrennbar miteinander verknüpft. Man kann schätzen, wie etwas sich in Zukunft entwickeln wird und kann angeben, wie wahrscheinlich eine bestimmte Entwicklung ist. Man kann mutmaßen, was die Entwicklung in der Vergangenheit beeinflusst hat und kann angeben, wie plausibel eine bestimmte Vermutung ist.[44] Allerdings liefert sie keine Wahrheitswerte, sondern nur Grade eines Glaubens, Meinungen eher als Auskünfte über Tatsachen. Etwas womit Journalistinnen und Journalisten Expertinnen und Experten sehr oft an den Rand der Verzweiflung bringen, wenn jene nicht aufhören, die Frage zu stellen, ob etwas ausgeschlossen sei, und diese sich nicht Nein sagen trauen, sondern nur wiederholen können, es kann so sein, aber auch anders, eher so, nicht ganz und gar zufällig, eben kontingent.

Die statistische Methode beantwortet alle oben gestellten Fragen: Es gibt kein Meta in der Physik, weil man nur Erfahrungen analysiert. Leben ist keine physikalische Kategorie, es ist also egal, wieviel Leben in der Materie steckt, und selbst wenn, wozu gibt es denn die Statistik. Und der Ausdruck „Physik des Glücks“ mag frech klingen, wurde aber von der Geschichte schon Mitte des 19ten Jahrhunderts überholt, man brauche nur den Namen Quetelet erwähnen!

Das Buch „Über den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten“ des Statistikers und Astronomen Adolphe Quetelet, das all seine vorherigen Arbeiten zusammenfasse[45], heißt tatsächlich im Titel „Versuch einer sozialen Physik“. Sein Wirken hält bis in die Gegenwart an. Aufbauend auf der Beobachtung, dass das Verhalten von Menschen, wenn man die Gruppe nur groß genug wählt, statistisch auffallende anscheinende Gesetzmäßigkeiten hervorruft, möchte er mit seinen Forschungen dem Zweck dienen, dass die Menschheit sich selbst nicht blind bleibe. Menschen werden geboren, Feste werden gefeiert, Verbrechen werden begangen, Werke werden geschaffen, Menschen sterben; alles mit derselben Gleichmäßigkeit von der Gesellschaft produziert; manches, das man dem Freien Willen der Einzelnen unterstellt unerwarteterweise monotoneren Rhythmen folgend als anderes, das rein äußeren Einflüssen unterliegt[46]. Wenn Quetelet Regelmäßigkeiten ausmacht, dann spricht er von Gesetzen. Es sind aber keine Naturgesetze, denn sie seien Veränderungen unterworfen, und auch keine Rechtsvorschriften, denn sie würden für niemanden im Speziellen gelten, außer für den gesellschaftlichen Körper insgesamt. Ich vermute, dass diese Einschränkungen aus der Sorgfalt resultieren, mit der er seine Methode durchführt. Angelehnt an obige Ausführungen darf man von einem undurchsichtigen Makrozustand sprechen, aus dem keine Aussagen über bestehende Mikrozustände erschlossen werden können. Gesellschaften können es sich richten, und die Lebenserwartung steigen lassen, indem sie die Qualität des Wohnens, der Arbeit, der Ernährung verbessern. Im Nachhinein können nur Vermutungen über die Wirksamkeit von Maßnahmen angestellt werden. Quetelet schreibt reife Statistik, man sieht das, wenn er den Schleier des Makrozustands hebt: Als Pendant zum Schwerpunkt eines Körpers stehe im Mittelpunkt der Gesellschaft ein fiktives Wesen, das ungeachtet seiner Besonderheiten und Abweichungen oder seiner Entwicklungsmöglichkeiten die vortreffliche Grundlage der Sozialen Physik bilde.[47] Darauf gehen die Prägungen „Durchschnittsmensch“ und „Normalbürger“ zurück, die in ihrer Bekanntheit die seines Werkes bei weitem übertreffen. Das Wort Physik wird im Buch durchaus als Widerpart zur Moral verstanden, so wie es im Wortpaar Leib und Seele die Stelle des Leibes einnimmt[48], also nicht als Name einer Naturwissenschaft.

Alle Schwierigkeiten, mit denen die Statistik bis heute zu kämpfen hat, sind in Quetelets Werk wissentlich angelegt. Beispielhaft für eine Kontroverse um diese aus jüngerer Zeit stehe die Kritik des Volkswirtschaftlers Friedrich Hayek an der Lehre seines Genossen Milton Friedman: „Die kumulierten Daten der Statistik ersetzen nicht die Kenntnis der Einzelheiten, die das wirtschaftliche Verhalten tatsächlich lenken. Das ist ein fehlgeleiteter Versuch die Grenzen unseres Wissens zu bewältigen.“[49] Kaum anders ergeht es der Physik. Bei allem Enthusiasmus Boltzmanns nagt es nach wie vor an ihrem Selbstbild, dass das Verständnis eines derart tragenden Begriffs wie der Entropie ohne Statistik nicht vermittelbar sei. Über hundert Jahre nachdem Maxwell sein Unbehagen äußerte, verfügt sie seit kurzem über eine Theorie von der Abstraktion angemessener Klarheit.[50] Ob diese Schule machen wird muss sich erst zeigen.

Ich meine der Formel nun Genüge getan zu haben. Überlassen wir das Rechnen mit der Großen Zahl den Statistischen Zentralämtern[51] und dem Durchschnittsmenschen das Durchschnittsglück (Anwesende natürlich ausgeschlossen).

Das Objekt

Dieser Aufsatz begleitet ein Kuhfell, auf das besagte Formel gedruckt wurde; im Folgenden kurz: das Objekt. Die vorigen Abschnitte sollten Aufschluss über diese Formel geben und Hinweise darauf, was man mit ein bisschen Wille in sie hineinlesen kann. Ich stelle keinen Anspruch auf Vollständigkeit, das nackte Objekt ist Deutungen ohnehin schutzlos ausgeliefert, vielleicht geht es stattdessen um „Texas, Erdöl und Rinder“[52] — Sie wünschen, wir spielen. Der Phantasie seien keine Grenzen gesetzt. Ich wünsche, dass wir es so heiter und leicht nehmen wie Max Gold:

Spiel’n wir heute Golf / oder spiel’n wir heute Skat?
Gehen wir zu Rolf / oder nehmen wir ein Bad?
Hören wir Strawinsky / oder hören wir „The Doors“?
Gehen wir ins Kempinski / oder waschen wir die Stores?
[ Foyer des Arts, Wir verstaatlichen Simone ]

Mitunter sei das Objekt ein Kunstwerk. Bei manchen löst es vielleicht ein „Will-Haben“ aus, dann wäre es marktgerecht, bei anderen vielleicht Abscheu, dann wäre es kontroversiell. Das eine schließt das andere nicht aus. Damit steht es freilich nicht alleine da, man ist versucht zu sagen, dass es dieses Schicksal mit gar allem unter der Sonne teilt. Wie es sich gerade trifft, gehört das zur Sache selbst[53], denn die Formel kann ja so gelesen werden, dass sie eben die allgemeine Gültigkeit dieser Unentschiedenheit aussagt: Das so aufgefasst werden können und anders aufgefasst werden können erfüllt eine moderne Definition von Kontingenz, der zufolge die Welt eine Anhäufung von Zufällen sei.

Negentropie

Diese Ansicht scheint mir die Grundlage der Theorien des Soziologen Niklas Luhmann. In einem seiner Hauptwerke greift er einen Begriff seines Vorgängers Talcott Parsons auf: die „doppelte Kontingenz“. Zu ihr kommt es immer dann, wenn zwei sogenannte Systeme — es mögen zum Beispiel Personen oder Gesellschaften sein — einander begegnen. Das dritte Kapitel des Buchs „Soziale Systeme“[54] beginnt mit einem ausführlichen Parsons Zitat im englischen Original. Die Wendung contingent on dort nimmt aber Wunder, denn es muss mit abhängig von oder bedingt durch übersetzen, wenn man es verstehen will.[55] Dass Luhmanns Vermeidung der sinngemäßen Übertragung von Parsons’ englischem Text und Beharren auf Wortwörtlichkeit kein Taschenspielertrick ist, erklärt sich daher, dass er Parsons eigenständig fortzuführen beabsichtigt und das damit zu erreichen meint, dass er kontingent als philosophisches Fachwort annimmt.[56] Er macht die Reduktion von Kontingenz, im Sinne Unentschiedenheit der Situation, zum Zeichen Sinn stiftender Kommunikation. Wo Parsons noch Rückgriffe auf bestehende Vereinbarungen, auf tradierte Modelle zugrunde lege, an die Akteure und Aktrizen sich halten, entsteht bei Luhmann, wenn es sein muss, order from noise. Wenn ich richtig verstehe, denkt Parsons doppelte Kontingenz wie ein „vorsichtiges gegenseitiges aneinander Herantasten“ in einem klassisch deterministischen Rahmen als Wechselwirkung zweier Ketten von Ursachen und Wirkungen. Wie er contingent verwendet legt das schon sehr nahe. Würde man diese Definition nur um die Worte „manchmal vorurteilsfrei“ erweitern, wäre mit dieser kleinen Einschränkung zwar der Rahmen gesprengt, aber gleichzeitig nicht das gesagt, auf das es Luhmann ankommt. Vorweg, nicht nur die Begegnung ist kontingent, im Sinne von zufällig, sondern wie und was aus ihr entsteht. Die Parsons’sche Linearität weicht bei Luhmann der Zirkularität: Vollzug und Ergebnis der Doppelten Kontingenz sind Eins. Diese Einheit erlaubt, dass (einfache) Kontingenz sich zu einer Ordnung reduziert, dem sozialen System, ohne dass die Komplexität, das heißt die Menge aller sich anbietenden Alternativen der Begegnung, durchgerechnet werden muss[57]. Weil Anfang und Ende dasselbe sind, nämlich kontingent, gibt es keine Richtung. Nur die Komplexität ist angewachsen.

Ersetzen wir in Luhmanns Text Komplexität mit Entropie. Er sagt selbst, dass Komplexität auf eine Art „ein Maß für Unbestimmtheit oder für Mangel an Information“[58] sei, ein deutliches Echo Shannons, andernorts setzt er sie mit „Negentropie“ gleich[59]. Die Ersetzung scheint berechtigt. Umstandslos liegt plötzlich die behauptete Verbindung von Kontingenz und Entropie, in Form der vom Objekt ablesbaren Formel, an der Wurzel von Luhmanns Theorie. Sein Versuch einer universalen Wissenschaft von sozialen Systemen, die punktuell in der Wirklichkeit ankert, die sich von dieser unterscheidet, und die dann aus dem Unterschied Wissen schafft[60], erweist sich als konsequente Fortführung von Quetelets Wissenschaft vom sozialen Leib. Fundament bleibt dasjenige, von dem man nur in Wahrscheinlichkeiten sprechen kann, hier der fiktive Durchschnittsbürger, dort die Anlegeplätze des abstrakten Systems. Der Unterschied besteht lediglich in einem doppelten Verzicht Luhmanns: auf das Ausrechnen der Formel und, bei allem Mehren des Wissens, auf die Vervollkommnung des Menschen[61].

Wir können an dieser Stelle also, in aller Form, Komplexität a.k.a. Entropie und Kontingenz a.k.a. Wahrscheinlichkeiten von Handlungsalternativen schreiben, wie im vorigen Abschnitt bereits angedeutet. Die Parallele geht sehr weit. Da gelebte Ordnungen stets auf immer neue Ordnungen reduziert werden, ohne dass sie je aufhörten weiter zu bestehen, erhöht sich ihre Zahl bei jedem Auftreten einer doppelten Kontingenz. Paradoxerweise treibt das Streben nach Negentropie den Prozess voran. Ganz banal wächst diese ja nicht nur dann, wenn die aktuelle Entropie schrumpft, sondern auch wenn die maximale Entropie steigt. Diese Rechnung geht also immer auf, es sei denn man ist recht vergesslich. Wir stehen denn vor einem immer größer anwachsenden Berg von Modellen, an denen wir unser Handeln orientieren können, den wir weder ausblenden dürfen, noch von dem wir anderes lernen können, als dass es komplizierter werde. Nennen wir diesen Berg Geschichte: Die verbrauchte Komplexität oder Entropie lagert auf alle Zeiten in der Geschichte, der grenzenlosen Müllhalde aller abgelebten sozialen Systeme.

Weil dieser Text nun, nachdem Sie bis hierher gelesen haben, Ihnen zum Teil des Objektes wurde, werden Sie mir zustimmen, dass Luhmanns Makrosoziologie alles versammelt (und natürlich mehr), was im Objekt versammelt ist: Gar alles — bis auf das Fell.

Kontingenz sei also in einem Bedingung der Möglichkeit, Vollzug und Folge von Komplexität a.k.a. Entropie sozialer Verhältnisse. Vermenschlichend erscheint sie Luhmann aber als die belastende Erfahrung, dass man nur im Nachhinein klug sein kann, wenn überhaupt, weil man in einem auf Sand gebauten Luftschloss lebe. Für das Thema dieses Aufsatzes verheißt das nichts Gutes: Ist das Glück ein Vogerl, dann darf man sich gelegentlich darüber freuen, wenn es vor dem Fenster vorbeifliegt. Aber wie will man es dazu bringen, auf dem Balkon zu nisten? Wenn der, aus Luft gezimmert, einem Nestchen keinen Halt bieten kann. Man fühlt sich einmal mehr an Aristoteles’ Warnung erinnert, dass die Beschäftigung mit dem Kontingenten nicht zur Glückseligkeit führe, oder wie er selbst sagt: „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.“ Es ist wohl an der Zeit, ihn noch einmal zu befragen.

Macht

An tragender Stelle Aristoteles’ Physik steht die Entelechie (εντελέχεια)[62], ein von ihm geschaffenes Kunstwort[63], dessen Bedeutung uns aber unmittelbar gegeben sei und deshalb keiner Erklärung bedürfe. Im Sinne von Joe Sachs, an dessen Übersetzungen ich mich hier halte, möchte ich es mit „in Vollkommenheit Verharren“ umschreiben. Aristoteles verwendet es anscheinend wahllos im Austausch mit Energie (ἐνέργεια), das ich mit „in Arbeit begriffen Sein“ umschreibe. Obwohl beide Wörter scheints Verschiedenes bedeuten, kann er sie beliebig wechseln, weil die Welt ihm so beschaffen ist, dass es aufs Gleiche herauskommt. Man kann sie einfach mit „Wirklichkeit“ (Aktualität) oder, wenn man die Sterblichkeit wegdenkt, mit „Leben“ übersetzen. Man muss wissen, dass Wirklichkeit streng genommen nur Lebewesen, den Umlaufbahnen der Planeten und dem Universum als Ganzem zukommt. Das Heft, das Sie in Händen halten, ist dagegen nicht wirklich aus sich selbst heraus, wirklich ist vielmehr die Mühe, die Sie sich machen, wenn Sie diese Zeilen beim Lesen mit Sinn erfüllen. Um nun die Möglichkeit (Potentialität, δύναμις) zu verstehen, muss man die Bewegung (κίνησις) denken. Jede Veränderung (μεταβολή) der Welt ist Bewegung: Das Fallen eines Steins, das Heranwachsen und Altern eines Menschen. Bewegung ist die Wirklichkeit der Möglichkeit als solcher, sei es des Fallens, sei es des Alterns. Man versteht nun vielleicht, warum Aristoteles für Kraft und Möglichkeit nur ein Wort braucht, ich möchte es hier mit „Vermögen“ oder „Macht“ umschreiben.[64]

Jenseits der Physik siedelt Aristoteles die Metaphysik an. Während Physik sich damit begnügt zu erklären, dass alles in der Welt dauernd damit beschäftigt sei, es selbst zu sein, stellt Metaphysik die Frage, was ein Ding, was an einem Ding es, zu dem macht, das es ist; eine Frage, die er letzten Endes offen und der unmittelbaren Erfahrung jedes und jeder Einzelnen überlassen muss. Mehr als ein alles umfassendes, nicht endendes, zeitloses Denken zur Voraussetzung jeder Erkenntnis zu bestimmen, kann auch sie nicht leisten.[65] Das ist keine kleine Auslassung, weil daran schließlich die Antwort auf die Frage nach der Notwendigkeit hängt. Tiere und Pflanzen erhalten sich selbst in ihrem Sein, dem Rest der Dinge besorgt das der alles belebende Kosmos. Wir könnten das als Einladung zu mystischem Schweigen verstehen, würde das Buch zur Metaphysik nicht mit dem Satz beginnen: „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.“ Und hätte Aristoteles nicht sonst in so vielen Worten so viel unbestreitbar Kluges und Nützliches gesagt.

Uns soll in diesem Augenblick genügen, wie leicht wir uns nun vorstellen können, wie schwer vor diesem Hintergrund die Umschreibung von „Kontingenz“ fällt. Darüber hinaus sollte aus dem Referat klar werden, dass, obwohl die Beschäftigung mit dem Kontingenten nicht die Glückseligkeit fördert, die Erfahrung der Kontingenz keineswegs immer schon an der Grenze zur existenziellen Krise erlebt werden musste, wie man es heute manchmal hört. Wenn also nachgerade, wie Hans Blumenberg sinnigerweise erzählt, die zunehmende Unzumutbarkeit der Kontingenz den Übergang des Mittelalters zur Neuzeit eingeleitet habe, dann kann sich das nur aus einem bestimmten Blickwinkel heraus so verhalten: Wer Kontingenz, Zufälligkeit und Beliebigkeit gleichsetzt, wie im zwanzigsten Jahrhundert gang und gäbe, dem mag der Gott der spätmittelalterlichen Philosophie bedrohlich und eine abzuschüttelnde Last erscheinen.[66] Ihr selbst ging es hauptsächlich darum, die Bibel mit Logik und Metaphysik zu vereinbaren.[67] Es sieht also mehr danach aus, dass Thomas von Aquin und Duns Scotus der Kontingenz so weiten Raum widmeten, weil sie gewissermaßen der Schlüssel zur Hintertür ist, durch welche in einem Aufwaschen die Allmacht Gottes und die menschliche Willensfreiheit in die ihnen vorliegende Überlieferung der aristotelischen Lehren eingeführt werden kann[68]; eher als dass die Menschheit plötzlich ungleich schwerer unter ihr zu leiden gehabt hätte[69]. Wilhelm von Ockham beispielsweise sieht Gottes Willen nicht an Notwendigkeiten oder Unmöglichkeiten gebunden, also kontingent, aber im Weltgeschehen kann er beruhigt erkennen, dass Gottes Wille sich sehr wohl an gewisse Regeln hält.[70] Aus freien Stücken, sozusagen. Voltaires Erzählung Candide soll uns hier belegen, wie lange sich der Glaube an das Gute im Menschen, Gott und der Welt noch hartnäckig gehalten hat, sollte er je erloschen sein.

Wenn man heute das Auch-anders-sein-können in der unmittelbaren Nachbarschaft der Beliebigkeit verortet, dann geht das gut, und erfüllt ganz herrlich das natürliche Streben nach Wissen, solange man Aristoteles’ Modallogik nur den Worten nach zitiert und seine Physik ausblendet: nämlich, dass Veränderung, also Bewegung, an einen Willen und ein Vermögen bindet, die sie herbeiführen, ja diese selbst sind. Genügt es denn inzwischen, dass sich etwas denken lässt, damit es möglich wird? „Ich denke, also bin ich“ — ist das nicht Zauberei?

Das fiktive Glück

So muss es jedenfalls einem antiken Philosophen erscheinen. Und so macht es uns Modernen die Rede vom Unbewussten weis. Bleiben wir bei René Descartes’ Satz: Dass ich denke, gibt mir die Gewissheit zu sein. Das Wort also legt eine logische Schlussfolgerung nahe. Dabei ist der Satz kein vollständiger Syllogismus, der zwei Prämissen zu einer Konklusion verbindet; der könnte zum Beispiel lauten: „Nur Menschen denken. Ich denke. Also bin ich ein Mensch.“ Er wird deshalb häufig als Performativ gelesen, als ein setzender Akt: „Ich denke — schwuppdiwupp Simsalabim — also bin ich.“ Das wäre denn wirklich Zauberei. Stattdessen wollen wir hier den Satz so verstehen, dass „Sein“ eine leere Kategorie ist: „Ich denke, also bin ich; Und weiter?“ Wenn nun nur Vögel denken, dann bin ich ein Vogel, wenn nur Steine, dann ein Stein; wie es der Zufall gerade will. Der Satz sagt nun die Kontingenz des Seins aus, in ihrem modernen Verstand sogar die beliebige Formbarkeit der Materie: Nicht umsonst wurde er so berühmt. Unsere Deutung, und ich lade Sie ein, mir zu folgen, gestattet unterschiedliche Arten des Umgangs mit dieser Leere einander gegenüber zu stellen: Eine antike, die des Aristoteles, die auf Ethik und Metaphysik hinausläuft, und zumindest eine moderne, wie sie Sigmund Freud in seinem Lebenswerk, der Psychoanalyse, vorschlägt[71].

Keine Frage wollte Freud für die Psychologie leisten, was Newton für die Physik geleistet hatte. Seine Wissenschaft vom seelischen Apparat liest sich in der Tat wie eine Mechanik der Psyche. Ausgehend davon, dass die Gewissheit des Ichs, nicht nur der kartesischen Meditationen, als scheinbare erwiesen ist, füllt sie die entstandene Leere mit einer Menge Rädchen, die nach einem ausgefeilten Regelwerk ineinandergreifen, dem Unbewussten oder Es.[72] Dürfen wir sagen: „Es denkt, also bin Ich?“ Nur wenn wir stets darauf achten, dass es sich nicht um eine notwendige Konsequenz handelt, sondern das also für einen Prozess steht, der das Ich genausogut zerstören kann. Zu einem sich selbst stabilisierenden „Ich denke, also bin Ich“ fehlt dem etwas; Wenn ich Freud richtig verstehe, dann muss das Denken dazu gewissen Ansprüchen an Normalität genügen. Weil die Grenze zwischen Ich und feindlichem Es durch das Denken und im Inneren des Individuums verläuft, erfüllt und erschöpft sich die — endliche oder unendliche — Therapie im Bewusstmachen des Funktionierens des je eigenen seelischen Apparates der Klienten durch den Analytiker.

Die Ethik entstand als Lehre davon, wie man sich vom hin- und hergerissenen Kind zum beständig im Bewusstsein das Gute zu tun handelnden Menschen im glücklichen Vollbesitz seiner Kräfte ausbildet. Die Ethik ist über das Schöne, als dem die Seele bewegenden, eng mit der Poetik, der Kunst des Erzählens, verknüpft[73]. Die metaphysische Frage, auf den Menschen gemünzt, lautet: „Was an mir macht mich zu mir?“ Die platonische Antwort darauf: „Es ist das Sein des Seins,“ auf deutsch oft: das Wesen. Es hilft vielleicht, wenn man weiß, dass der griechische Ausdruck für diese Seiendheit, οὐσία, alltagssprachlich den Reichtum an Besitztümern meint, wie es auch in der lateinischen Übersetzung Substanz anklingt. Aristoteles sieht darin eine Mannigfaltigkeit, die nicht losgelöst von ihren Einzelnen betrachtet werden darf. Die Frage lässt sich ihm zufolge also mehrfach gültig beantworten. Die Metaphysik kann der Ethik zwar eine analytische Begrifflichkeit anbieten, aber keine allgemein gültigen Antworten auf ihre Fragen geben, sondern muss den Einzelnen überlassen, was sie für notwendig und gut erachten. Das Herausschälen eines Selbst (ἦθος) aus dem Wesen — modern gesprochen eines Ich aus dem Es, bestand ihr zufolge darin, die Ratschläge der Weisen zu beherzigen und das Empfinden der Schönheit an den Werken der Kunst zu schulen.

Für den Umgang mit der erwähnten Leere heißt das verkürzend: der eine stopft sie voll, macht im Zuge der Analyse feste Dinge aus, wo nichts Bestimmtes ist, der andere deckt sie zu und lenkt ab von ihr, wenn er dazu einlädt, sich wie ein Münchhausen an den eignen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Der beobachtete Effekt ist beide Male derselbe: sie verschwindet. Recht unscheinbar unterscheiden sie sich allerdings in dem, was im Blick behalten wird: Das Glück ist es nur im zweiten Fall. Eine wissenschaftliche Physik desselben ist mit dem selbst erklärten Ausscheiden der Psychologie einmal mehr unwahrscheinlich geworden. Es sieht immer weniger danach aus, als wäre irgend eine der Kulturwissenschaften bereit, für das Glück Sorge zu tragen, die Physik des Glücks ein verfahrener Karren. Wissenschaftlichkeit aber einfach zu behaupten geht nun gar nicht an, der Anspruch müsste verteidigt werden. Angesichts des analytischen Apparates, den man für notwendig befindet Störungen der Normalität zu beheben, scheint das ein aussichtsloses Unterfangen.

Kunst

Ich fürchte mich fast, es niederzuschreiben, zu sehr wird es danach aussehen, als hätte ich es von der ersten Zeile dieses Textes an schon gewusst, und Sie die ganze Zeit an der Nase herumgeführt. Wenn ich mich trotzdem traue, dann auch gegen die Furcht, trivial zu werden, etwas zu sagen, das Sie nun immer schon gewusst haben. Wie dem auch sei, meine Ängste sollen nicht verhindern, dass Stellung genommen wird, dass aus der Forschung eine Meinung folgt. Der Ausweg besteht denn darin, den Gedanken einer Physik des Glücks, wenn nicht ganz fallen zu lassen, so immerhin den Versuch, sie als Wissenschaft zu entwerfen. Ich möchte nicht verheimlichen, wie sehr mich dieser Verzicht im Gegenteil beruhigt, weil ich finde, dass er in einer abendländischen Denktradition steht, die sich jedenfalls bis Thomas Hobbes zurückverfolgen lässt, die nicht die Unterwerfung unter eine Allgemeinheit, sondern die Besonderheit des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt. Hier könnte dieser Versuch mit der Aussage enden: Die Physik des Glücks ist keine Wissenschaft. Eine vertretbare Meinung ist das allemal. Wäre da nicht in der antiken Ethik die Einladung in ein Zuhause für die Physik des Glücks ausgesprochen. Dieses kommt mir nicht zu weit hergeholt vor und schränkt weit weniger ein. Solange also für die Ethik gilt, dass sie keine Wissenschaft ist, sondern eine Kunst, gelte das für die Physik des Glücks in gleichem Maß:

Die Physik des Glücks ist eine Kunst.

Ist das nicht ein schöner Schlusssatz? Dieser schreit nach weiteren Erklärungen; Wie es sich für eine Reduktion gehört. Ich bin froh um diesen Satz, weil er die eingangs gestellte Frage nach der Existenz einer Physik des Glücks zu guter Letzt nicht mit „Nein“ beantwortet.

Der Satz rührt nicht an den Ansprüchen der Wissenschaften, ihre Nützlichkeit bleibt unbestritten, wer deren Erkenntnisse teilt im Vorteil. Er stellt die Ethik in ein ähnliches Naheverhältnis zur Physik wie es das altertümelnde Wort Ingenieurskunst für die Technik tut. Trotzdem erlaubt er Erfahrungen wie die, mehr Glück wie Verstand zu haben. Man muss die Welt nicht verstehen, damit sie ihren Lauf nimmt. Zum glücklichen Auskommen reichen die Mittel der Stochastik, der Kunst des Ratens und Mutter von Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Zu einem glücklichen Treffen kann es selbst dann kommen, wenn in einer Art Läuferhoch die gleißende Hitze einer endorphinen Sonne den Verstand versengt und die Vernunft ausgetrieben hat.

Er lässt ein freundliches Unbewusstes denken. Man kann in aller Bescheidenheit glücklich damit sein, zu den ureigensten Gedanken und den größten Erfolgen auf dieselbe Art zu kommen, wie man ein Los aus der Urne zieht. Manchmal gibt es das Glück geschenkt, besteht die Kunst allein darin, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein; mühelos und unvorbereitet. Der Satz schließt das nicht aus, verspricht es aber auch nicht, nur so viel: Wo die eigenen Kräfte nicht reichen, können Allianzen gebildet werden, gibt es diese vielleicht schon, ohne dass man davon wüsste.

Er rückt sie in die Nähe der Kunst, jener Disziplin die so heißt wie das Verbindende. Sie ist allerdings nicht die Kunst, so wenig wie wahrscheinlich jene selbst die Kunst ist — vielleicht ihr spannendstes Verhältnis, denn mit diesem schleicht sich ein Rätsel ein: die Kunst der Kunst. Es wird schwierig werden, für sie mehr gelten zu lassen, wie oben vom Sein des Seins gesagt wurde. Ich kann nicht beurteilen, ob die moderne Konzeptkunst sich dieser Frage annimmt. Im historisch gewachsenen Kunstfach geht es neben Ästhetik viel um Technik — gewiss eine willkommene Assoziation: Lustvoller aber als die Übernahme zum Beispiel eines wiederererstandenen Regeldramas, zur Serienproduktion von Normalität, scheint mir das Aufgreifen des Anspruchs auf die Freiheit einer Kunst, das heißt auf Öffnung zum Politischen, zu Kultur und Rechtsprechung.

Denn wenn es heute danach aussieht, dass wir in der institutionalisierten Vernunft leben, dann weil der Staat das zweite Erbe der antiken Ethik auf sich genommen hat, nämlich die Pflicht, weisen Ratschlägen zu folgen. Die statistische Verwaltung hat in den letzten hundertfünfzig Jahren sehr viel bewirkt. Das Leben in großen Teilen der Welt ist um einiges weniger mühsam geworden. Weil ich aber nicht Georg Wilhelm Friedrich Hegel heiße, werde ich nicht vorgeben, dass es sich um einen unausweichlichen, sich selbst vorantreibenden Vorgang handelt, der uns zu reinen Zeugen degradiert. Nüchtern betrachtet haben Quetelet’sche Bemühungen um die „Befähigung des Menschen“ mehr historisches Gewicht, als die Marx’sche oder irgendeine Heilsbotschaft. Es ist in diesem Sinn, dass die Formel keine Glücksformel ist: Die Entropie ist nicht der Kommunismus, der komme was da wolle. Entropie heißt, dass in geschlossenen Systemen manche Zustände erreichbar sind, und andere nicht, dass in der Natur manche Dinge von selbst geschehen, und andere nicht. Das sagt uns die Physik der Physik; und vielleicht noch, dass es oft mehr Arbeit macht etwas auszubügeln, als es zu falten, dass das Fell — und die Formel am Objekt demnach nicht ganz fehl am Platz — mit dem Strich um vieles leichter gebürstet wird, als dagegen: Sie sagt uns nicht, welches der beiden klüger ist.

Acrylatdispersion auf Kuhfell, Siebdruck wetterfest. Innsbruck 2011. Als rechte Seite einer Gleichung angeschrieben berechnet die dargestellte Formel die Größe Entropie, das heißt die Ungewissheit über die Zusammensetzung eines Zustandes (Mechanik) oder die Überraschung beim Eintreten eines Ereignisses (Informatik). Eine Welt ohne Unmöglichkeiten und ohne Notwendigkeiten, wie sie in vielen Wissenschaften längst für wahr genommen wird, steht in ihrer Gesamtheit auf der linken Seite dieser Gleichung, denn sie ist ganz und gar kontingent. Kann vom Maß der Entropie einer erlebten Situation die seelische Verfassung der Beteiligten abgelesen werden? Gibt es eine Physik des Glücks?
[ Abb.
Skizze vom Objekt ]

Anmerkungen

Ich danke Bernhard Kathan für die Aufforderung ein objekthaftes Werk zu schaffen und den Hinweis, dass die Kuh in allen Epochen der Kulturgeschichte ein Zeichen des Glückes war. Ich danke Thomas Feuerstein für die Einladung im Daimon Thesaurus über Entropie und Kontingenz zu schreiben und seine in vielen Belangen anregende Kunst. Ich danke Land Tirol und Stadt Innsbruck für die Förderung der Finanzierung der Produktion des Objekts.

[1]
Für eine Liste von Namen siehe: Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Stichwort „Kraft“. Berlin 1904. http://www.textlog.de/7558.html. Das Thema sehr weit vertieft die Dissertation: Josef Greiner. Dialektik des Kraftbegriffs in der Physik. VWGÖ. Wien 1986.
[2]
Hier sei die Wikipedia erwähnt, wenn diese ein Nachschlagwerk für alle sein möchte; etwas andres als ein Schummelzettel für Physikstudentinnen und -studenten.
[3]
William Rankine um 1852: ἐν ἔργον „inneres Wirken“ in Abgrenzung von der newtonschen Kraft, angelehnt daran Rudolf Clausius um 1864: ἐν τροπή „inneres Wandeln“.
[4]
Oder gar an den „Monsieur 100 Volt“.
[5]
„The clock is a piece of machinery whose ‚product‘ is seconds and minutes.“ Lewis Mumford. Technics and Civilization. Harcourt. New York 1934.
[6]
Nicolas Léonard Sadi Carnot. Réflexions sur la puissance motrice du feu et sur les machines propres à développer cette puissance. Annales scientifiques de l’École Normale Supérieure, Sér. 2, 1, 393-457. 1872. http://www.numdam.org/item?id=ASENS_1872_2_1__393_0.
[7]
Benjamin Thompson (Count Rumford). Heat is a Form of Motion: An Experiment in Boring Cannon. Philosophical Transactions 88. 1798. Er kommt zum Schluss, dass die Menge der entstehenden Wärme von der Dauer der Arbeit abhängt, nicht der Menge der bearbeiteten Substanz.
[8]
James Prescott Joule, The Mechanical Equivalent of Heat. 1845. Annalen der Physik und Chemie. J. A. Barth Leipzig 1854. 601. http://books.google.de/books?id=oB4AAAAAMAAJ&pg=PA601
[9]
Julius Robert Mayer. Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur. Annalen der Chemie und Pharmacie, 43, 233. C. F. Winter. Heidelberg 1842. http://books.google.com/books?id=l4w8AAAAIAAJ&pg=RA2-PA233
[10]
Hermann von Helmholtz. Über die Erhaltung der Kraft : eine physikalische Abhandlung, vorgetragen in der Sitzung der physikalischen Gesellschaft zu Berlin / von H. Helmholtz. Reimer. Berlin 1847. http://edoc.hu-berlin.de/ebind/hdok/h260_helmholtz_1847/XML/, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:11-10098861.
[11]
Es gibt kein Perpetuum Mobile, erster Streich.
[12]
Das Kunstwort Energie löste die zuvor üblichen Bezeichnungen „lebendige Kraft“ Vis Viva und „Fallkraft“ für kinetische und potentielle Energie ab. Die Popularität des Wortes geht nicht zuletzt auf die Autorität des Lord Kelvin zurück. Vgl. die Zusammenfassung früherer Arbeiten in: Baron William Thomson Kelvin, Peter Guthrie Tait. Treatise on natural philosophy. Macmillan Clarendon Press. London Oxford 1867. http://books.google.com/books?id=wwO9X3RPt5kC.
[13]
Man muss davon ausgehen, dass Carnot im Widerspruch damit und obgleich er die Vorgänge richtig beschrieb, sein Leben lang annahm, dass die Wärme dabei jedenfalls erhalten blieb, wie das Wasser das auf ein Mühlrad fällt und es in Bewegung bringt.
[14]
Ein sehr zugänglicher Text ist dieser: Rudolf Clausius. Über den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie: ein Vortrag, gehalten in einer Sitzung der 41. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Frankfurt a. M. am 23 September 1867. Vieweg und Sohn. Braunschweig 1867. http://books.google.com/books?id=GgYuAAAAcAAJ&pg=PA12.
[15]
Es gibt kein Perpetuum Mobile, zweiter Streich.
[16]
Ebenfalls eine Neuprägung, in Anlehnung an Energie. Rudolf Clausius. Abhandlungen über die mechanische Wärmetheorie. Vieweg und Sohn. Braunschweig 1864. 34. http://books.google.com/books?id=utAEAAAAYAAJ&pg=RA1-PA34
[17]
Ich denke, dass ich damit im Einklang zu aktuellen Theoriebildungen der Physik stehe. Siehe Elliott H. Lieb, Jakob Yngvason. The Physics and Mathematics of the Second Law of Thermodynamics, Phys. Rep. 310, 1-96. 1999. http://de.arxiv.org/abs/cond-mat/9708200 (Jakob Yngvason leitet das Erwin Schrödinger International Institute for Mathematical Physics in der Boltzmanngasse in Wien.)
[18]
Das Universum als geschlossenes System auffassend, sah er es von der Entropie tödlich bedroht. http://www-history.mcs.st-andrews.ac.uk/Biographies/Clausius.html
[19]
http://de.wikipedia.org/wiki/Maxwellscher_Dämon
[20]
Man darf nicht sagen, dass er dagegen arbeitet, weil er physikalisch gesprochen ja nicht arbeitet.
[21]
„Ab 1775 lehnte die französische Akademie der Wissenschaften Entwürfe für ein Perpetuum mobile mit der Begründung ab: Diese Art Forschung hat mehr als eine Familie zugrunde gerichtet, und in vielen Fällen haben Techniker, die Großes hätten leisten können, ihr Geld, ihre Zeit und ihren Geist darauf verschwendet.“` http://www.leifiphysik.de/web_ph08_g8/geschichte/01energiebegriff/energiebegriiff.htm
[22]
Ist Gleiches zu Gleichem legen überhaupt eine eines Dämons würdige Beschäftigung?
[23]
Vgl. Charles H. Bennett. Notes on Landauer’s principle, reversible computation, and Maxwell’s Demon. In: Studies In History and Philosophy of Science Part B: Studies In History and Philosophy of Modern Physics Volume 34, Issue 3, September 2003, 501-510 http://linkinghub.elsevier.com/retrieve/pii/S135521980300039X und http://xxx.lanl.gov/abs/physics/0210005v2; zusammengefasst in Vishal Gupta. http://ewh.ieee.org/r10/bombay/news3/page10.html.
[24]
Ludwig Boltzmann. Statistische Mechanik. Populäre Schriften, J. A. Barth. Leipzig 1905. 361. http://books.google.at/books?id=HS1WAAAAMAAJ. Er und Gibbs schrieben sich die Erfindung gegenseitig zu.
[25]
http://www-history.mcs.st-andrews.ac.uk/Biographies/Boltzmann.html
[26]
Ludwig Boltzmann. Erklärung des Entropiesatzes und der Liebe aus den Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Vortrag vom 28. Okt. 1905. in: Ludwig Boltzmann (1844-1906) Zum hundertsten Todestag. Springer. Wien New York 2006. 149.
[27]
Man bedient sich bildgebender Abtastverfahren. http://de.wikipedia.org/wiki/Rastertunnelmikroskop
[28]
„Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß ihre Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.“ Max Planck. Wissenschaftliche Selbstbiographie. J. A. Barth. Leipzig 1948. S 22.
[29]
http://de.wikipedia.org/wiki/Lise_Meitner
[30]
Eine Formulierung von Max Planck.
[33]
Shannon benannte angeblich seine Größe auf Anraten des Mathematikers John von Neumann Entropie, weil das Wort in der Physik etwas ähnliches bezeichne, aber kaum jemand sagen könne, was genau. Vgl. John Avery. Information Theory and Evolution. Singapur 2004. 81.
[34]
Siehe diesen Artikel in der Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Holografisches_Prinzip. Möglicherweise ist die Informationstheorie nur eine Verallgemeinerung der Physik, oder umgekehrt die Physik nur ein Spezialfall der Informationstheorie.
[35]
Ludwig Boltzmann. Entgegnung auf einen von Prof. Ostwald über das Glück gehaltenen Vortrag. Populäre Schriften, J.A. Barth. Leipzig 1905. 364ff. http://books.google.at/books?id=HS1WAAAAMAAJ
[36]
Boltzmann, a.a.O. 376.
[37]
Boltzmann, a.a.O. 378.
[38]
Hans Poser. Theologische Realenzyklopädie, Band 19, Kontingenz. Walter de Gruyter. Berlin New York 1990. 546.
[39]
Ludger Honnefelder. Theologische Realenzyklopädie , Band 9, Duns Scotus. Walter de Gruyter. Berlin New York 1990. 239.
[40]
Ich danke für den Hinweis, dass es diese Möglichkeit gibt: „Wird die Form losgelassen, mutiert sie zur Behauptung. Behauptungen ist zu eigen: ohne Gewissheit auskommen zu müssen.“ Jeannot Schwartz. Katalog zur Ausstellung „Ort der Behauptung“, KOOIO Eigenverlag. Innsbruck 2010.
[41]
Boltzmann nimmt auch die belebten Wesen nicht aus. Er stützt Darwins These der Evolution mit statistischen Überlegungen und streift dabei die Liebe. Ludwig Boltzmann, Erklärung des Entropiesatzes und der Liebe aus den Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung, a.a.O. 150f.
[42]
James Clerk Maxwell. Theory of Heat. Original 1871. Nachdruck Longmans, Green, And Co. London 1902. 91. http://books.google.at/books?id=MXm12I1_gqAC&pg=PA91.
[43]
Zur Herkunft des Wortes siehe http://de.wiktionary.org/wiki/Statistik.
[44]
Schätzen und Mutmaßen, Wahrscheinlichkeit und Plausibilität dürfen nicht miteinander verwechselt werden, sie sind zwei gegenläufige Bewegungen: hin zur und weg von der Großen Zahl.
[45]
Adolphe Quetelet. Sur l’homme et le développement de ses facultés, ou Essai de physique sociale. Bachelier. Paris 1835. http://books.google.at/books?id=VXkZAAAAYAAJ&pg=PR1.
[46]
Quetelet, a.a.O. 9f.
[47]
Quetelet, a.a.O. 21. Nicht viel anders wie wenn wir sagen, im Zimmer habe es 21 Grad. Atomistisch gesehen ist die Luft erfüllt mit Teilchen der unterschiedlichsten Temperaturen.
[48]
Die Physik des Glücks wäre in diesem Fall ein Aufsatz über die Produkte der Pharma- und Nahrungsergänzungsmittelindustrien oder die Präparate mancher Naturheilkunde.
[49]
F. A. Hayek im Interview. Films for the Humanities. 1985. Zirka Minute 58. http://vimeo.com/4063439. Man denke Mikro- und Makroökonomie.
[50]
Ein kurzer und verständlicher Text zu Yngvason/Liebs Modell von André Thess, der die Lehre in den Vordergrund rückt, findet sich an der Adresse http://www.tu-ilmenau.de/fakmb/fileadmin/template/fgtfd/Thess-Entropie.pdf.
[51]
Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Entropie_(Sozialwissenschaften) für eine Reihe von Definitionen, die Entropie in den Sozialwissenschaften zu einem Instrument vom Rang eines Verbraucherpreisindex erheben.
[52]
Ich danke Gerhard Diem; im Gespräch über den materialen Gehalt des Objekts, Innsbruck 20. Feber 2011.
[53]
Vielleicht ist es gerade das, dass es selbst sich auf sein eigenes So-sein bezieht, ungeachtet eines möglichen Anders-seins, was das Objekt zum Kunstwerk macht? Man denke an Magrittes Pfeife.
[54]
Niklas Luhmann. Soziale Systeme. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1983.
[55]
Das Wörterbuch http://www.linguee.de/ jedenfalls schlägt das als gängige Praxis vor.
[56]
Luhmann, a.a.O. 150.
[57]
Luhmann, a.a.O. 157. Ich (pch) verstehe doppelte Kontingenz wie eine Ehe: Manche Anlagen, die die Partner einbringen, verwirklichen sich, andere verkümmern. Zur Hochzeit macht die Geschichte quasi einen Sprung.
[58]
Luhmann, a.a.O. 50.
[59]
Luhmann, a.a.O. 11. Weil diese ja als Differenz von aktueller zu maximaler Entropie definiert ist, messen beide dasselbe. In der Informationswissenschaft spricht man stattdessen von Redundanz.
[60]
Luhmann, a.a.O. 13.
[61]
Luhmann, a.a.O. 162.
[62]
Joe Sachs. Aristotle: Motion and its Place in Nature. The Internet Encyclopedia of Philosophy. 2005. http://www.iep.utm.edu/aris-mot/.
[63]
Ein Wortspiel sogar auf Endelechie mit weichem D, das Vollkommenheit bedeutete.
[64]
Ob sich Unmöglichkeit in der Folge als Ohnmacht konstruieren lässt? Die Wahl soll jedenfalls ausdrücken, dass es nicht ein Mangel der griechischen Sprache ist, dass sie nur ein Wort zur Verfügung stelle, sondern dass der Zusammenhang auch außerhalb von Sprache bestehe. Darüber hinaus findet sie sich auch in frühneuzeitlichen Texten, z.B. bei Locke. Sofern Leibniz’ vis Viva, der sich ihretwegen ausdrücklich auf Aristoteles berief, in der kinetischen Energie der modernen Physik aufgegangen ist, blieb die Physik ihren Anfängen treu.
[65]
Joe Sachs. Aristotle: Metaphysics. The Internet Encyclopedia of Philosophy. 2001. http://www.iep.utm.edu/aris-met/.
[66]
Susanne Reichlin. Kontingenzkonzeptionen in der mittelalterlichen Literatur. In: Kein Zufall, Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Vandehoeck & Ruprecht. Göttingen 2010. 14ff.
[67]
Poser. a.a.O. 552.
[68]
Der größte Teil des Werks wurde erst im 13ten Jahrhundert aus dem Griechischen oder Arabischen ins Lateinische übersetzt.
[69]
Hätte dieser Logik zufolge nicht der muslimische Raum, vertreten von, jene Umdeutung vorbereitenden, Philosophen wie Avicenna oder Averroës, die Nase vorne haben müssen?
[70]
Reichlin. a.a.O. 18f.
[71]
Freud deshalb, weil er in einer späten Schrift ausführlich das Streben der Menschen nach dem Glück und dessen (Un-) Möglichkeiten darstellte. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur. Wien 1930. http://www.textlog.de/sigmund-freud-unbehagen-kultur.html
[72]
Freuds Exkursionen dorthin erinnern sehr an Gullivers Reise nach Lagado. Peter Chiochetti. Psyche. In: Daimon Thesaurus. Wien 2008. http://daimon.myzel.net/Psyche
[73]
Joe Sachs. Aristotle: Ethics. The Internet Encyclopedia of Philosophy. 2001. http://www.iep.utm.edu/aris-eth/
Peter Chiochetti, Innsbruck, Mai 2011

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