Roland Albrecht, Günter Gstrein und Gerhard Lang
Eine Ausstellung zur Geschichte der Rinderhaltung. Man muss den Erwartungen
möglicher Besucher entgegenarbeiten. Man darf keine Rinderkunst an Wände
hängen. Bunte Rinderporträts: Der einzelne Besucher sagte sich, aha, Kunst,
und schon wäre er vorbei. Man darf es Besuchern nicht so leicht machen. Man
muss mit Brüchen und Irritationen arbeiten, wobei die Brüche nicht zu billig
sein dürfen, nicht auf den ersten Blick erkennbar. Will man etwas über
Rinderhaltung vermitteln, dann genügt es nicht, eine verendete Kuh von einem
Hubschrauber auf einen Platz vor einem Museum abwerfen zu lassen. Man muss
nach subtileren Kriterien suchen, bezogen auf die heutige Rinderhaltung sich
etwa mit Bewegungsabläufen, Codierungen, Durchschnittswerten und Serien
befassen.
Der Besucher betritt über eine Stiege, vorbei an einem großformatigen
Ausschnitt aus einer Rede zu schönen Kühen, die sich die moderne
Rinderhaltung angeblich nicht mehr leisten kann, vorbei an einer
historischen Melkmaschine (die erste dieser Maschinen wurde bereits 1862
gebaut), einen etwas abgedunkelten Raum, in dem ein Melkkarussell in
Bewegung zu sehen ist, ein Ausschnitt aus Nikolaus Geyrhalters Film "Unser
täglich Brot" (2005). Rinder fügen sich in einen vorgegebenen technischen
Ablauf, Lebendiges verzahnt sich mit Maschinellem. Von hier aus fällt der
Blick des Besuchers in einen recht heimelig wirkenden Raum, in dem nichts
darauf hinzudeuten scheint, sich in einer Rinderausstellung zu befinden.
Er sieht einen Tisch vor einer Tapete, davor einen Stuhl, linker Hand an der
Wand einen kleinen Monitor, rechts eine Stele mit einem Buch darauf. Schlägt
der Besucher das Buch auf, dann findet er in alphabetischer Ordnung
aberhunderte von Kuhnamen, denen jeweils ein Zahlencode zugeordnet ist.
Vielleicht fällt sein Blick (anders als im Kino kann dieser in Ausstellungen
beliebig schweifen) auf den kleinen Monitor an der gegenüberliegenden Wand,
auf dem in Intervallen von etwa drei Sekunden ein handgeschriebener Kuhname
auf den anderen folgt. Womöglich bemerkt er den in wesentlich kleinerer
Schriftgröße eingefügten Zahlencode. Eine Arbeit von Roland Albrecht. Er
ließ Frauen aus dem erwähnten Kuhnamenverzeichnis jeweils einen Namen
auswählen und schreiben. Die Handschrift betont Individuelles, Persönliches,
letztlich Differenz zu anderen. Codierungen betonen wie
Identifikationsnummern Differenz, eindeutige Erkennbarkeit. Tatsächlich geht
das einzelne Tier in einer indifferenten Masse auf. Heutige Rinder werden in
Zahlen beschrieben, sie sind in Zahlen definiert und werden von
Rechenprogrammen bewirtschaftet. Die meisten Kühe tragen zwar immer noch
Namen wie "Berta", "Alma" oder "Rötel". Aber je größer der Tierbestand, je
höher der Automatisierungsgrad und die Fluktuationsrate, je kürzer die
Lebenserwartung von Kühen, umso mehr verlieren Namen an Bedeutung. Wer in
einem Melkstand Kühen nur noch Melkzeuge anlegt, der sieht keine Kühe mehr,
der sieht nur noch Euter. Laut britischen Agronomen sollen Kühe, die einen
Namen tragen, entspannter sein und mehr Milch geben, etwa 250 Liter auf das
Jahr gerechnet. Freilich verdankt sich dies nicht dem Namen, sondern einer
besseren Betreuung oder dem persönlichen Kontakt, den der Bauer zu seinen
Kühen aufbaut. Doch Namen kann man sich nur von einer überschaubaren Anzahl
von Kühen merken, wie man auch nur zu einer begrenzten Anzahl von Kühen
einen persönlichen Kontakt aufbauen kann.
Nehmen wir einmal an, der Besucher versteht den Stuhl als Einladung und
setzt sich an den Tisch, auf dem unter einer Glasplatte Gerhard Langs
Separatum seiner Arbeit "Die typische Befleckung der Kuhherde des Bauern
Jenni im Schöntal" zu sehen ist: "Wenn wir eine Kuhherde auf der Weide
beobachten, drängen sich immer wieder folgende Fragen auf: Liegt der
Kuhbefleckung ein Konzept zugrunde? Warum hat die Kuh direkt vor mir eine
andere Fleckenkombination als die Kuh weiter hinten? Warum sind alle Kühe
unterschiedlich befleckt? Auf den ersten Blick ist keine Regel erkennbar,
ja, es besteht bei der Kuh sogar der Verdacht der Willkür. Doch wenn wir
eine Kuh aus dem Kopf zeichnen, trauen wir unserem Entwurf nicht: So ist
keine Kuh befleckt! Die beiden Tupfer auf der rechten Seite nehmen wir der
Zeichnung nicht ab, die der Kuh auf der Weide überzeugen uns alle. Hat
demnach das scheinbar Regellose eine Regel, die uns unbekannt ist? Könnte es
sein, dass das aus dem Kopf gezeichnete Bild den Stempel unseres Konzeptes
trägt, aber nicht den der Kuh?"
1994 photographierte Gerhard Lang die linken und rechten Befleckungen der
Kühe des Bauern Jenni im Schöntal. Danach wurden alle Befleckungen mit der
Methode der Composite Photography übereinanderbelichtet, um die typische
Kuhbefleckung der Herde zu ermitteln. Gerhard Lang bedient sich in seiner
künstlerischen Arbeit wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden, kommt
aber zu Fragen, die der heutigen Wissenschaft fremd sind, die den Betrachter
einladen, neugierig weiterzudenken. Diese Arbeit hat nicht zuletzt
Durchschnittswerte und daraus abgeleitete Schlussfolgerungen zum Gegenstand.
Die heutige Rinderhaltung wäre undenkbar ohne zahllose errechnete und auch
dargestellte Durchschnittswerte: 10 - 45 Atemzüge pro Minute. Ein Atemzug
enthält 3 - 4 Liter Luft. Pro Minute trinkt eine Kuh höchstens 20 Liter.
Milchkühe benötigen 50 - 70 Liter Wasser pro Tag. Bei Rindern sind es im
Mittel 20 - 30 Liter (ein Teil des Wassers wird durch die Pflanzen
aufgenommen). Eine 600 kg schwere Milchkuh muss täglich 50 - 80 kg Gras
fressen, um die zur Sättigung nötigen 15 kg Trockensubstanz aufzunehmen.
Durchschnittliche Futtermenge pro Biss: 0,5 g Trockensubstanz;
Bisshäufigkeit: 60 Bisse pro Minute; Fressgeschwindigkeit: 30 g
Trockensubstanz pro Minute; Wiederkäuen: pro Tag bis zu 20 000
Kaubewegungen. Und so fort. Die heutige Rinderhaltung kennt zahllose Norm-
und Mittelwerte, angefangen von der Keimzahl in der Milch über den
Fettgehalt, optimale Lauf- und Liegeflächen bis hin zur Lebenserwartung.
Kein Lebewesen, ob Mensch oder Tier, wird je einem Normwert entsprechen.
Alles Leben bedeutet letztlich eine Abweichung von der (vorgegebenen) Norm.
In einer schönen Brechung stellt Gerhard Lang folgende Fragen: "Haben die
Befleckungen der Kühe eine Botschaft? Sagen sie etwas über ihre Träger aus?
Über den Bauern? Wäre das aus kriminalistischer Sicht nicht eine leicht
lesbare Identifizierungsmethode im Hinblick auf die Fahndung nach der
negativ markierten Kuh? Falls dem so ist, was sagt uns die typische
Befleckung der Kuhherde im Schöntal? Könnte das Gestaltungsprinzip Kuh eine
Verschlüsselung von Informationen sein, die, könnte man sie dechiffrieren,
Hinweise auf die Qualitäts- und Charaktereigenschaften der Kuhherde oder des
Ortes liefern? Gibt es eine Fleckenkombination, die ein Indiz für den Faktor
Wahnsinn ist? Anhand der Arbeit mit der Kuhherde des Bauern Jenni wurden
noch unbeantwortete Fragen entwickelt, Fragen, die auch Grundlage für
weitere Forschungen sein könnten. Überlegenswert ist eine
Vergleichsuntersuchung der Individualität der schwarzweißen Befleckung mit
der Einmaligkeit des menschlichen Fingerabdrucks. Interessant wäre auch, den
Anteil von der Dunkel- und Hellmasse des Fleckviehs zu erforschen oder über
die Geographie der Kuhflecken nachzudenken. Zu empfehlen sind vergleichende
Experimente mit anderen Kuhrassen oder mit anderen Tieren wie der Giraffe
oder dem Zebra mit seiner komplizierten Bestreifung."
Die Befleckungen der Kühe verdanken sich dem Zufall. Rinderzüchter denken an
andere Merkmale. Sie wissen um Täuschungen, kennen diesbezügliche Praktiken,
die von Kraftfuttergaben bis hin zu kosmetischen Maßnahmen reichen. Die
Überlegung, die "Individualität der schwarzweißen Befleckung mit der
Einmaligkeit des menschlichen Fingerabdrucks" zu vergleichen, hat wie andere
Überlegungen von Gerhard Lang einiges für sich. Tatsächlich lässt manches in
der heutigen Rinderhaltung an die Organisation der menschlichen Gesellschaft
denken.
Der Blick des am Tisch sitzenden Besuchers kann, so dieser aufschaut, auf
die Tapete an der stirnseitigen Wand fallen, die fast mit dem Raum zu
verschwimmen scheint und, wäre sie nicht dadurch abgehoben, dass sie auf
Holzplatten aufgezogen wurde und so an ein Tafelbild denken lässt, fast so
wirkt, als hinge sie bereits seit Jahrzehnten an dieser Stelle. Tritt der
Besucher näher, so löst das Muster, welches mehr an Pflanzenornamente als an
Animalisches denken lässt, sich auf, werden die rotgrünen Farbtupfer als
Rinderfeten erkenntlich. Dass es sich um Rinderfeten handelt, realisieren
freilich die wenigsten Betrachter, wohl aber, dass es sich um eine
frühfetale Form eines vierbeinigen Tieres handeln muss. Warum manche in
einer Rinderausstellung dabei an Katzen oder Hunde denken, ist mir ein
Rätsel. Die Tapete, eine Arbeit von Günter Gstrein, wurde aus einer einzigen
Abbildung eines Lehrpräparates montiert. Das Konkrete (ob der Fetus einer
Kuh in einem Schlachthof entnommen wurde, ist ohne jede Bedeutung) verweist
einzig auf Allgemeines, womit Mengen und Serien bereits angedeutet sind. Wo
immer Güter industriell produziert werden, haben wir es mit Massen, mit
Stückzahlen, Wiederholungen ein und desselben zu tun. In der heutigen
Rinderhaltung werden die Tiere analog zur industriellen Fertigung von Gütern
als Serien gedacht. Besonders offensichtlich macht dies die
Reproduktionsmedizin. Im Englischen wird etwa von "animal breeding industry"
(Tierzuchtindustrie) oder von "embryo transfer industry"
(Embryonentransferindustrie) gesprochen.
Es galt, das Vertraute als fremd und das Fremde als gar nicht so fremd,
zumindest als vorstellbar zu zeigen. Betrachten wir die Entwicklungen in der
Rinderhaltung auch als Spiegelung von Organisationsformen der menschlichen
Gesellschaft, dann müssen wir im Gegensatz zu Vilém Flusser sagen: "Die
Verkuhung der Welt ist nicht mehr aufzuhalten." Während das Rind in den
letzten Jahrzehnten aus der Welt der Menschen vertrieben wurde, organisiert
sich die Gesellschaft nach den Überlegungen von High-Tech-Rinderställen.
Es galt, Arbeiten von Künstlern, die sich sehr unterschiedlichen Motiven und
Überlegungen verdanken, so anzuordnen, dass sich diese gleichsam wie ein
Puzzle zusammenfügen, zumindest so etwas wie eine Narration ergeben, und das
mit einem so großen Abstand voneinander, dass sich jede dieser Arbeiten als
eigenständige Arbeit zu behaupten vermag.
Bernhard Kathan, September 2010