Arbeiten für unser künftiges Museumspublikum







„Es war in etwa im Jahr zweiundfünfzig oder dreiundfünfzig, die Firma Pumpen Bauer in Voitsberg hatte gerade ihre revolutionären Pump- und Rohrsysteme für Gülle auf den Markt gebracht, da ersetzte mein Onkel Isidor die alte Mistlacke und den Misthaufen, das Häusl, das auf Stelzen über dem Abgrund stand durch einen Neubau: Die Jauche verschwand im betonierten Untergrund, der Misthaufen dampfte nun darüber, ein gemauertes Pumpenhaus entstand und ebenso ein neues Klo. Die Dächer dieser Baulichkeiten gehörten zu meinen und meines Bruders Lieblingsorten, man hatte von dort oben einen guten Ausblick hinunter auf die Sautratte und auf die Streuobstwiesen zum Nachbarn hin – man überblickte die ganze Gegend. Bei einem dieser Aufenthalte sahen wir, jenseits von Zäunen und Sträuchern, verschwommen und undeutlich, die Sonne stand schon tief – einen Löwen. Solch ein Tier hatten wir tags zuvor bei einem kleinen Wanderzirkus im Ort zum ersten Mal erblickt. Es war uns völlig klar, dass die gefährliche Bestie entkommen war und sich jetzt zwischen dem Kalcherbauern und vulgo Stöckl herumtrieb – in der Hoffnung auf Beute, und diese sollten sicher wir sein. Ziemlich erfroren und mitgenommen holte uns nach langer Zeit eine Rettungsexpedition, bestehend aus dem Onkel und unserem Vater, vom Häusldach. Und die Anwesenheit des Raubtieres erklärte sich auch: Der Strommerwirt, ein großer Säufer vor dem Herrn und unverbesserlicher Scherzbold, hatte seine riesige Bernhardinermischung geschoren, bis auf die ‚Löwenmähne’.“
Wolfgang Straßnig

Ein Haifisch ist ein Haifisch, ein Hund ein Hund, ein Löwe ein Löwe. Heute weiß jedes Kind mit zwei Jahren zwischen einem Kamel und einem Schwein zu unterscheiden. Und dabei haben sie in ihrem Leben womöglich ein Kamel, aber noch nie ein lebendiges Schwein gesehen. Zeichnet man Tiere, so relativieren sich die Unterschiede. Man muss die Linien nur da und dort etwas verschieben, wichtig sind ja die Gesichter der Tiere, und schon wird aus dem Gesicht eines Haifisches ein Hund, und spielt man es nur etwas weiter, dann ein Mensch, nicht viel anders als in Lavaters Metamorphosen, in denen sich aus dem Schädel eines Frosches allmählich ein menschlicher Kopf entwickelt. Nur nebenbei bemerkt. Lavater polemisierte in seiner Physiognomik gegen allzu leichtfertige Mensch-Tier-Gleichsetzungen. Er hielt nichts davon, einem Menschen mit gekrümmter Nase die Eigenschaften eines Raubvogels zuzuschreiben, nur weil die gekrümmte Nase an einen gekrümmten Schnabel erinnert.

Ob Oper, Museum oder Schifahren, inzwischen gilt es mit jungem, ja jüngstem Publikum zu arbeiten. Man kann nicht früh genug damit beginnen. Womöglich wird es in absehbarer Zeit vorgeburtliche Einübungsprogramme geben. Uterine Museumspädagogik. Ich bin nur OPA und Museumspädagogik liegt mir nicht. David ist einundzwanzig Monate alt. Kinder in diesem Alter sind noch sehr verletzlich. In manchem aber ist mir David, nicht nur mir, überlegen. Seine Fähigkeit, Dinge, die er nur einmal gesehen hat, zu benennen, ist bemerkenswert. Inzwischen weiß er eine beachtliche Anzahl von Tieren namentlich zu unterscheiden, wobei er Tiere auch mit Lautäußerungen bezeichnen kann: „muh“, „Kuh“, „wau“, „Hund“, „miau“, „Katze“ etc. Die Differenzierung geschieht bislang einzig mit vorangesetzten Eigenschaftswörter: „großer Hund“, „kleiner Hund“, „schwarzer Hund“. Mit einem gleichaltrigen Kind beobachtete er, vor einem Aquarium stehend, Maulbewegungen von Fischen. Beim Nachahmen dieser Bewegung hatten die beiden ihre Freude an dem Laut, der beim raschen Öffnen der Lippen zu hören ist. Ist beim Betrachten eines Kinderbuches ein Fisch zu sehen, kann an die Stelle des Wortes „Fisch“ die Lippenbewegung mit dem entsprechenden Laut treten.

Die meisten Tiere sind ihm nur durch Abbildungen in Büchern bekannt. Dass solche Abbildungen von naturalistischen bis hin zu comicartigen Darstellungen reichen können, die nur noch wenig mit dem abgebildeten Tier zu tun haben, scheint ihm keine Probleme zu bereiten. Als David vor einigen Monaten abgestillt wurde, sagte er plötzlich statt „Busen essen“ „Buch lesen“. Wie sehr das eine mit dem anderen zu tun hat, macht das Ritual deutlich. Bücher werden im Bett angeschaut. Mit Vorliebe legt er dabei seinen Kopf auf die Brust. Die abhanden gekommene Brust beschäftigt ihn noch immer, etwa beim Betrachten von Spielzeugkühen: „kleiner Busen“. Das Euter einer zwölf Zentimeter langen Spielzeugkuh ist freilich klein, so klein, dass er gerade einmal mit seinem Finger darauf tippen kann. Von Hochleistungskühen, deren Euter ein mehrfaches seines eigenen Körpergewichtes haben, hat er noch keine Vorstellung, auch nicht, dass die Milch, die er trinkt, aus solchen Eutern stammt. Kinder in diesem Alter bewegen sich noch in einer sehr magischen Welt. Tiere, Maschinen wie andere Dinge scheinen oft gleichwertig. Ein Kran, eine Hebebühne oder ein Flugzeug wirken auf ihn nicht weniger lebendig als eine Katze, die ihre Runden auf einem Dach dreht. Eine Katze, die jemand an eine Mauer gesprüht hat, kann für ihn lebendig sein, gleichzeitig ein in seinem Kopf fest verankerter Bezugspunkt. Tiere kann er sehr ambivalent erleben. Einmal kann David neugierig, ohne geringste Scheu auf ein Pferd zugehen, dann sich aber vor einer kleinen Katze fürchten, auch vor Tieren, die in einem Kinderbuch abgebildet sind.

Da ich an einem Ausstellungsprojekt zu Tieren arbeite, lag es auf der Hand, für David ein Tierbuch zu zeichnen. Was immer ich zeichne, die Anregungen verdanken sich David. Oft werde ich mir dessen erst während des Zeichnens oder im Nachhinein bewusst. Bislang hat er jedes Tier erkannt. Insekten wie andere Tiere liegen noch vor mir. Klar ist, dass ich keine „kindergerechten“ Tiere zeichnen will, von denen manche Kinderbücher voll sind, weder Puzzielefanten, noch drollige Augen.

Auf das Gesicht, vor allem auf die Augen kommt es an. Wie Stecknadeln an einer Pinwand bilden die Augen die entscheidenden Punkte, die das abgebildete Tier erst lebendig machen. Natürlich bedarf es einer schematischen Darstellung. Schweine und Elefanten muss man wie andere Tiere mit Augen ausstatten, die sie so nicht haben. Mir gefallen narrative Brechungen, Irritationen. So lässt sich etwa ein abgebildetes Tier mit einem Gegenstand koppeln, der mit diesem nicht das Geringste zu tun hat. Fische interessieren sich nicht für Bananen, Schlangen nicht für Birnen, Schmetterlinge nicht für Steckdosen. Auch Verdoppelungen haben ihren Reiz, etwa dann, setzt sich der Rücken eines Kamels in den Formen der Landschaft fort. Dann das Spiel mit Größenverhältnissen. Ein Hahn stolziert durch ein Dorf, dessen Häuser so klein sind, dass es nur eines einzigen Schnabelhiebes bedürfte, um eines zu zerstören. Und da wir es ja mit Kunst zu tun haben, spiele ich, und das ohne jede Anstrengung, mit Zitaten aus der Kultur- und Kunstgeschichte. Freilich muss das auf eine sehr subtile Art und Weise geschehen. Ich möchte den Benennungswahn heutiger Bildungsvorstellungen nicht noch weitertreiben, also keine Pferde in der Manier eines Franz Marc oder Kühe wie Kirchner zeichnen, in der Absicht, ein Kind dazu zu bringen, noch bevor es ein Tier angeschaut hat, Marc, Picasso, Bonnard oder sonst einen Künstler zu nennen. Ich kann bestenfalls Fährten legen. Und dann muss es mir selbst Spaß machen. Und das macht es, lasse ich etwa einen Haifisch aus dem Wasser springen, um die Sonne zu fressen, sitzen OMA und OPA (Ruth und ich) in Hühnergestalt in einer Wolke, die über einem Dorf schwebt. Und das macht es auch, lasse ich mir ein Kinderbuch vorlesen: „Die Füchse mögen Opas Hühner. Deshalb gräbt er den Hühnerzaun auch tief in die Erde ein: Da kommt kein Fuchs mehr drunter durch. Aber wenn er irgendwo im Wald ihre Fuchsjungen entdeckt, darf ich kommen und sie anschauen. Dann sagt er: ‚Pssssst! Wir dürfen sie nicht stören.’ Mein Opa ist der Vater der Füchse. Der Füchse und der Hühner.“ (Edward van de Vendel, Grossvater, Kleinvater)

David mag unsere Tierunterhaltungen. Übertreiben darf man es aber nicht. Das Benennen, ich fördere es nicht, ist kein Problem. Etwas anderes ist es, ahmt man Laute oder Bewegungen eines Tieres im Spiel nach. Bei den Rufen einer Eule kann er einen lustvollen Schauer erleben. Kinder in diesem Alter sehen in einem wirklich einen Bären, oder einen Hund, oder einen Wolf. Wird es ihm zu gefährlich, dann sagt David NEIN und macht mich wieder zum OPA. Aber ganz OPA wird man nicht mehr so schnell. Für das Kind bleibt man noch längere Zeit ein bisschen Bär oder Elefant. Womöglich das längst verschüttete Wissen, dass wir Ahnen in Tiergestalt hatten.

Neben der Frage, wie man für Kinder im Alter von zwei Jahren Tiere zeichnen soll, beschäftigt mich noch etwas anderes. In welche Welt wächst ein Kind wie David hinein? Ich fürchte, all das Benennen, an Vorlagen fehlt es nicht (auch ich produziere Vorlagen), wird schlussendlich zum Tastendrücken in vorgegebenen Menüs. David wird als Kind wohl nie auf das Dach eines Häusls flüchten müssen. Er wird nie einen kahlrasierten Hund mit einem Löwen verwechseln. Er wird nie eine Kuhmutter haben, bei der er sich ausweinen kann (Nietzsche suchte dem militärischen Drill zu entgehen, indem er sich im Stall unter Pferden versteckte. Geborgenheit fand er keine. Deshalb konnte er nur rufen: „Schopenhauer hilf!“ Doch davon später.). David wird in eine Welt hineinwachsen, die aller Tierliebe zum Trotz Tiere in Masse und Ware verwandelt hat. Vielleicht wird er Börsenmakler, vielleicht Veganer. Das eine schließt das andere nicht aus.

Bernhard Kathan, 2014


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