"Die zweieinhalb Stunden - draußen ein Sommertag von mehr als 30 Grad -
wurden mir fast zu kurz in der sarkophagischen Kühle der abgedunkelten
Räume. Sie inszenieren eine Gruftästhetik, das könnte zugleich eine fatale
Botschaft sein; junge Leute, vom Deutschlehrer nach Marbach geführt, stutzen
kurz, verstummen und suchen schnell wieder den Weg ins Freie. // Dein
Gedanke im letzten Brief, dass Dauerausstellungen als Mausoleum wirken. Sie
werden es, kann man hinzufügen, auch bleiben, wenn allerlei elektronischer
Schnickschnack installiert wird. Auch Endlosfilme, sich wiederholende
akustische Konserven wirken dem nicht entgegen. // Die Marbacher Ästhetik
der Gruft lässt andererseits das Papier und die Schrift hervorragend wirken,
in den Vitrinen gibt es sogar schwache Spots, die noch zusätzliche Effekte,
etwa auf halb aufgeschlagenen Büchern bewirken. Studierte also - neben den
Inhalten (ein Raum für Unselds verlegerischen Feldzug zur Entdeckung der
lateinamerikanischen Literatur; ein Raum für den Deutschen Geist und
Amerika, also das Amerikabild der deutschsprachigen Autoren sowie die
Aufnahme ebensolcher anderer Autoren in USA --- interessiert mich ja, weil
wir die inneren Bilder von der Mongolei am Beispiel FM zeigen wollen ----) -
studierte also vor allem Ausstellungstechniken, die Beschriftungen auf den
breiten Rändern der Vitrinen entlasten das Gezeigte; die unterschiedlichen
Dokumentarten, die Präsentation auf dunklem Hintergrund mit Draufsicht,
Verhältnis von Fotos zu Texten, Verhältnis von Originalen und Faksimile,
letztere mit oft kitschig übertreibenden Verstärkungen der Brauntönungen und
Altersspuren des originalen Papiers - man sah dort beides. Und so weiter.
Ich war fast allein, vielleicht ein halbes Dutzend Erwachsener, alle über
60, 70, 80."
Ekkehard Faude aus Marbach, 2010
In Adolfo Bioy Casares Roman Morels Erfindung verschlägt es einen unschuldig
zum Tode verurteilten politischen Dissidenten auf eine einsam gelegene
Pazifikinsel. Eines Tages stellt er angesichts einer geselligen
Menschengruppe fest, dass er nicht allein auf dieser Insel lebt. Allerdings
muss der Tagebuchschreiber die Erfahrung machen, dass es unmöglich ist, mit
all diesen Figuren, insbesondere mit Faustine, in die er sich verliebt, in
Beziehung zu treten. Jeden Abend betrachtet sie auf einer Klippe sitzend den
Sonnenuntergang, ihre Hände auf einem Knie gefaltet. All seine Versuche, ihr
seine Liebe zu gestehen, scheitern. Sie reagiert nicht auf ihn, "kein
Blinzeln, nicht einmal ein leichtes Zucken" lässt auf Anteilnahme schließen.
Ihm scheint, als posierte sie für einen unsichtbaren Fotografen, als dienten
ihre Augen nicht zum Sehen, ihre Ohren nicht zum Hören. Faustine lebt wie
die anderen Inselbewohner in einer rätselhaften Selbstbezogenheit, mehr
noch, es ist, als gehorchte sie in ihrem Verhalten und ihren Bewegungen
einer vorgegebenen, sinnlosen Choreographie. Wie sie sind auch die anderen
Akteure in einer Endlosschleife gefangen und wie Sisyphos dazu verdammt, die
einmal festgelegten Bewegungen zu wiederholen. Wie in einem Theater
wiederholt sich das Stück mit seinen Szenen. Immer wieder sind die beiden
Nummern Valencia und Tea for Two zu hören. Eines Tages hört er, wie Morel,
ein verrückter Wissenschaftler, der sich ebenfalls um Faustine bemüht,
seinen Freunden eröffnet, er habe die Zeit ihres Zusammenseins auf der Insel
benutzt, um sie in ihrem "Privatparadies" zu verewigen. Während der Woche
ihres Zusammenseins habe er jede ihrer Handlungen festgehalten und mit Hilfe
der von ihm erfundenen Apparate virtuelle Kopien angefertigt. Diese Woche
wiederhole sich nun bis in alle Zeiten. Das unwirkliche Leben verdankt sich
den immer wiederkehrenden Gezeiten, welche die Apparatur in Gang halten.
Morel lud seine Freunde, wohl wissend, dass sein Aufnahmeverfahren seinen
wie ihren Tod bedeutet. Während das Abbild zu leben beginnt, fallen dem
Original Nägel und Haare aus, seine Haut beginnt sich abzuschälen.
Endlosschleifen, auf denen Autoren oder Autorinnen beim Lesen von Gedichten
oder Erzählungen zu hören und zu sehen sind, lassen tatsächlich an Morels
Erfindung denken. Auch hier scheint alles Leben abgeschält zu sein, die Zeit
still zu stehen. Zeit wird am ehesten dort erfahrbar, wo das Mobiliar aus
der Mode gekommen ist, die Präsentationsformen als verstaubt wahrgenommen
werden. Literaturmuseen wirken wie Mausoleen. Dies liegt zum einen im
Schreiben selbst begründet. Literatur beschäftigt sich mit den Bruchlinien
menschlichen Lebens, nicht zuletzt mit Krankheit, Sterben und Tod. Anders
als bei Filmemachern wird bei Autoren eine Korrespondenz von Leben und Werk
angenommen, mag dies auch oft genug nicht stimmen, mehr noch, setzt
Literatur doch Distanz zu eigenem Erleben voraus. Die Identifikation von
Lesern (und zu diesen zählen nicht zuletzt Autoren) mit literarischen
Figuren führt nicht selten zu einer Identifikation mit dem jeweiligen Autor,
der jeweiligen Autorin. Da sich diese mit zahllosen Projektionen aufladen
lassen, können sie gleichsam als Wahlverwandte adoptiert werden. Verehrer
von Robert Walser werden jene Stelle im Gelände aufsuchen, an der man den
Dichter tot im Schnee liegend fand (heute eine Schafweide). Der Robert
Musil-Literaturweg, der an dieser Stelle vorbei führt, negiert den Ort.
Gräber von Autoren oder Autorinnen werden aufgesucht. Manche nehmen etwas
Erde mit, vielleicht ein Blatt eines auf dem Grab gepflanzten Lorbeerbaumes.
Man kann auch eine Blume aufs Grab legen.
Wir haben es mit Aufladungen zu tun, die insbesondere dann auffallen, werden
triviale Objekte gezeigt, Objekte, die tausendfach hergestellt wurden. Heute
erinnern eine Reihe von Orten an das Leben der Simone Weil. Straßen wurden
nach ihr benannt. Man kann ihr Grab besuchen. Erst 1958 wurde ein schlichter
Grabstein errichtet. Im Rathaus der Stadt Ashford, also jenem Ort, an dem
sie starb, kann man den Sommerhut besichtigen, den Simone Weil als
Weinleserin im Jahr 1941 trug. Der Hut wird wie die Devotionalie einer
Heiligen gezeigt. Er ist also mit Bedeutungen aufgeladen, die er, ließe er
sich nicht mit Simone Weil assoziieren, nie hätte. Simone Weil hätte sich
wohl kaum vorstellen können, dass eine Stadt diesen ihren Hut einmal zu
Werbezwecken verwenden würde.
Auratisch aufgeladene Gegenstände verweisen auf den nicht mehr anwesenden
Schriftsteller, seltener, die nicht mehr anwesende Schriftstellerin.
Literaturmuseen sind oft um den Tod herum organisiert. Oft genug erfahren
wir über die Umstände des Todes. Was Aufladung und Rezeption betrifft, ist
es bedauerlich, dass die meisten Autoren eines recht banalen Todes sterben.
Der dramatische Tod ist die Ausnahme. So vorhanden, wird eine Totenmaske
gezeigt, nicht selten als Höhepunkt einer auf den Tod hin zulaufenden
Ausstellungs-Dramaturgie.
Als Gotthold Ephraim Lessings 1781 starb, wurde eine Totenmaske angefertigt,
um die Erinnerung an den Toten zu bewahren. Ernst Benkhard, dessen Buch Das
ewige Antlitz 1927 erschien, spricht in geradezu schwärmerischer Weise von
jenen dem Autor nahe stehenden Menschen, die die Anfertigung der Totenmaske
in die Wege leiteten: "Es [waren] Freunde, welche sie von seinen verklärten
Zügen abnehmen ließen, einzig aus dem Wunsch heraus, irgendwie noch
teilzuhaben an dem Letzten, was der Liebe möglich war, von dem Verewigten
festzuhalten. So wird die Totenmaske ein Symbol dafür, dass der Tod zwar die
Menschen trennt, aber ihre innere Verbundenheit niemals lösen kann. Befreit
von Aberglauben, Bildzauber und Magie - denn dies alles verbirgt sich in der
Erscheinung und Erhaltung der Effigies - erblicken wir in dem Toten den
Bruder, befreundet sich unsere Klarheit mit dem Rätsel seiner Züge und
begrüßt in ihm das eherne Gesetz von Stirb und Werde."
1927 erschien auch Richard Langers Buch Totenmasken. In einem darin
enthaltenen Text des Psychiaters Hans W. Gruhle wird hinsichtlich der
Bedeutung des Gesichtsausdruckes eine vollkommen andere Position bezogen:
"Man hat es oft ausgesprochen, dass der Tod auf dem Antlitz alles Zufällige
tilge, alle Verstellungen beseitige und nur die ‚reine Form' bestehen lasse.
Und der Arzt hat in der Tat oft Gelegenheit zu beobachten, wie sich ein
unbedeutendes Gesicht im Tode seltsam verklärt und Gehalt gewinnt. So liegt
dem Menschenfreund der Gedanke nahe, erst der letzte Atemzug enthülle die
wahre Gestalt. Aber auch diesen Glauben muss die Skepsis der
wissenschaftlichen Betrachtung zerstören. Auch der Verbrecher wird schön im
Tode, auch des Idioten Antlitz erhält nicht selten Bedeutung. Romantische
Weltbetrachtung fände hier einen trefflichen Gegenstand. Sie würde
ausführen, dass der Verbrecher eigentlich kein Verbrecher war, dass widrige
Lebensumstände in traurige Bahn zwangen und erst der Tod auf seinem Antlitz
des wahren Wesens Kern neu schuf."
Man kann nicht über Totenmasken schreiben, ohne Alfred Döblins großartiges
Vorwort zu August Sanders Antlitz der Zeit aus dem Jahr 1929 zu erwähnen.
August Sander fotografierte keine Totenmasken, sondern lebende Menschen.
Aber er zeigt nicht ihre Individualität, sondern ihre Verflachung durch
Gesellschaft und Klasse. Dies lässt Döblin an Totenmasken denken: "Es ist
etwas Negatives allen diesen Gesichtern gemeinsam: es ist von allen diesen
Menschen etwas weggenommen. Sie haben nicht nur die Augen geschlossen, und
dies gibt ihnen das Bild von Nichtlebenden, vielleicht bloß von Schlafenden.
Es ist die ganze Unmasse des Momentanen, Beweglichen auf diesen Gesichtern
wegradiert. [...] Jetzt fördert oder hindert sie nichts mehr, diese Augen
sind mit Recht geschlossen, denn nichts mehr strömt von diesen Menschen aus.
Und man fühlt vor diesen Toten, sie sind nicht nur stumm und in sich
geschlossen, nein, sie sind weniger, sie sind Gegenstände in anderen Händen.
Sie hatten gehandelt, und das hat ihr Gesicht geformt. Jetzt erleiden sie
etwas, sie sind passiv, sie werden abgeformt. Der Tod als Positives." Statt
in der Totenmaske eine Verdichtung des Individuellen zu sehen, erkennt
Döblin deren Verflachung und Gleichförmigkeit. Um es mit seinen Worten zu
sagen: "Der Tod hat eine massive Retusche vorgenommen."
Die Kritiker der mystischen Verbrämung von Totenmasken erinnerten daran,
dass deren Aussagekraft allein dadurch fraglich sei, da sich ihr Ausdruck je
nach dem Stadium verändere, in dem sie abgenommen werden. Dies macht nicht
nur deutlich, dass der Ausdruck von Totenmasken entscheidend durch den
Zeitpunkt der Abnahme bestimmt wird, sondern dass sie sich als
Projektionsflächen für alle erdenklichen Charaktereigenschaften anbieten. In
den 1920er Jahren erschienen einige Bücher zum Thema Totenmasken. Dass sich
Ideologie und pseudosakrale Inszenierungen des Nationalsozialismus der
Totenmasken bedienten, erstaunt nicht. Verständlicherweise musste deshalb
die Beurteilung der Aussagekraft solcher Masken nach dem Krieg nüchtern
ausfallen. Bei Karl Jaspers, der das Vorwort zu Fritz Eschens 1967
erschienenem Buch Das letzte Porträt schrieb, wird dies besonders
offenkundig: "Der objektive Blick des unbefangenen Menschen, entwickelt im
wissenschaftlich beobachtenden Arzt, sieht den schnellen natürlichen
Wandlungsprozess des Leichnams. Nach einer Weile, in der das Fleisch noch
weich ist, tritt die Totenstarre und dann der Fäulnisprozess ein. [...]
Wahrhaftigkeit verlangt, dass wir uns nicht täuschen lassen und uns nicht
selber täuschen. Aus der Totenmaske auf ein anderes Dasein des Toten zu
schließen, in ihr anschaulich zu sehen, was eine reinere, bessere
Wirklichkeit des Verstorbenen sei, in ihr gar sein ‚ewiges Antlitz' (in
welchem Stadium der Verwandlung?) zu erblicken, das ist Phantastik. [...]
Die Totenmasken sind zweideutig. Wenn wir nicht ohne allen Grund fasziniert
sind, so quälen sie uns doch. Sie scheinen wie die letzte Sprache des
Verstorbenen, aber sie sind nicht mehr Sprache, weil der, der darin sprechen
könnte, nicht mehr ist. Dass diese Totenmasken aus dem Jenseits des Lebens,
aus der Ewigkeit her die geringste Kunde oder Zeichen brächten, ist nicht
nur Täuschung, sondern, wenn es so gesehen wird, ein Verderben für unsere
echte Beziehung zu den Toten." Diese Skepsis kommt in Fritz Eschens
Buchtitel zum Ausdruck, der nicht mehr vom "letzten Gesicht" oder vom
"ewigen Antlitz", sondern vom "letzten Porträt" spricht, also betont, dass
es sich bei dem, was wir sehen, um ein gemachtes Produkt handelt. Wie die
Fotografie kennt auch die Totenmaske die Retusche oder Überarbeitung.
Beispielsweise ließ Friedrich Nietzsches Schwester zehn Jahre nach dem Tod
des Philosophen dessen Totenmaske "überarbeiten" und "rekonstruieren".
Totenmasken stehen zwangsläufig in enger Nähe zum Kitsch. Kitsch ist nicht
nur monologisch, sondern verschmilzt komplexe Realität in ein Bild, in dem
alle Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit gelöscht ist. Kitsch bedeutet
distanzlose Rezeption. Ein besonders schönes Beispiel für die Verhäuslichung
des Todes findet sich in der Totenmaske "L' inconnue de la Seine", welche
Eingang in viele bürgerliche Wohnzimmer fand. Die Maske zeigte das Gesicht
einer namenlosen jungen Frau, welche man tot aus der Seine gezogen haben
soll. Die große Verbreitung dieser Maske lag wohl nicht nur am anmutigen
Lächeln, sondern hing eng mit der Metaphorik von Wasser, Sexualität und Tod
zusammen. Heute wissen wir, dass es sich bei der Totenmaske "L' inconnue de
la Seine" um Kunstfälschung handelt.
Die Totenmaske der namenlosen Wasserleiche verdankte ihre Berühmtheit nicht
zuletzt ihrer Geschichtslosigkeit. Sie wurde zu einem Spiegel, ohne dass
dies je hätte begriffen werden können. Die Hygienekultur des 19.
Jahrhunderts, eine entscheidende Errungenschaft bürgerlicher Kultur,
versuchte alle Spuren von Sexualität und Tod systematisch zu tilgen, sei es
mit Hilfe der Kanalisation oder der Architektur. In der Totenmaske der
Unbekannten aus der Seine kehrte das Verdrängte gewissermaßen in gereinigter
Form zurück, zwangsläufig über das (fantasierte) Bindeglied der Prosektur,
einem Ort, an dem sich medizinische und kriminologische Praktiken
überlagerten. Ödön von Horváth hat das Motiv in seiner komisch-bösen
Groteske Die Unbekannte aus der Seine verarbeitet. Er schrieb das Stück
vermutlich im Jahr 1933. Horváth: "Das Stück selbst versucht eine
Möglichkeit darzustellen, wie sich das Schicksal der Unbekannten in der
Seine, der Selbstmörderin, deren Totenmaske ja allgemein bekannt ist und von
deren Tragödie man nie etwas erfahren hat, ja deren Name bis heute ein
Geheimnis geblieben ist, abgespielt haben kann. [...] Ich werde keineswegs
verwundert sein, wenn das Publikum bei den erschütterndsten und
tragischesten Stellen in Gelächter ausbricht."
1929 bschäftigte sich Egon Friedell in einem Vorwort mit Totenmasken. Er
zählte zu jenen, die glaubten, Totenmasken lesen zu können, etwa "mit einem
einzigen Blick die verhängnisvolle Infantilität Karls XII" erfassen zu
können. In seinem Arbeitszimmer hing die Totenmaske von Josef Kainz: "Sie
ist so plaziert, dass mein Blick fast jedesmal auf sie fallen muss, wenn ich
ihn erhebe, und so kommt es, dass ich sie wohl mehr als hundertmal im Tage
ansehe; aber jedesmal ist sie anders. Wie das Meer am Schiffskiel sich
unaufhörlich anders färbt, bald orange oder fleischrosa, bald purpurrot oder
glasblau und dann wieder milchweiß, giftgrün, schwefelgelb oder lackschwarz:
so wechselt dieses Antlitz auf geheimnisvolle Weise seinen Ausdruck;
bisweilen sieht es aus wie der Porträtkopf eines römischen Cäsars: listig,
lasterhaft und degeneriert, und gleich darauf wie das Bild eines verzückten
Heiligen, vor dessen entrücktem Blick die Pforten des Paradieses
aufspringen; das einemal zeigt es die stumpfen Züge einer uralten Frau und
ein andermal die wüste Grimasse eines zynischen Komödianten; und dazwischen
ist es ein träumender Dichter, ein grübelnder Philosoph, ein schmerzlich
lächelnder Asket, ein sorglos lachender Knabe, ein still vor sich hin
lächelnder Irrer, ein geil schmunzelnder Faun; hie und da ist auch dies
alles zusammen, seltsam pervers und schillernd gemischt, und in manchen
Augenblicken ist es nichts, gar nichts als eine leere, ausdruckslose
Gipshülle. Und wirklich darf man in diesem eigentümlich vielfältigen
Eindruck, den das Bild des toten Kainz macht, ein Symbol der Wirkung
erblicken, die der lebende Kainz geübt hat." Diese vielen Erscheinungsformen
bedurften nicht allein einer regen Phantasie, sondern waren nicht zuletzt
vom Lichteinfall abhängig. Friedell erwähnt das Licht, meint allerdings das
"Licht von der anderen Seite". Aus einer Totenmaske spreche alles, sie gäbe
deutlich Kunde von Dingen, die dieses All nicht mehr umfasse. Übrigens
findet sich auch bei Alfred Kubin eine Erwähnung der Totenmaske von Josef
Kainz. Möglicherweise besaß er selbst eine Kopie, zumindest jedoch musste er
sie gekannt haben.
Dass der Ausdruck von Totenmasken letztlich alles andere als lebendig ist,
wissen wir von Fotografen, die sich mittels effektvoller Licht- und
Schattenspiele bemühen, das festzuhalten, was sie in den Totenmasken zu
erkennen glauben. In der Lichtdramaturgie der fotografierten Totenmasken
kommt dem Hintergrund eine wichtige Rolle zu. So gut wie nie sehen wir
Totenmasken in Verbindung mit anderen Objekten. Die meisten Abbildungen
zeigen sie auf schwarzem Grund. Oftmals wurden die abgebildeten Gesichter,
was unschwer zu erkennen ist, ausgeschnitten und auf schwarzes Papier
montiert. So scheinen die Gesichter aus dem Dunkel des Todes heraus zu
strahlen. Tatsächlich handelt es sich jedoch um Objekte der Beleuchtung. Der
binären Struktur von Leben und Tod entspricht jene des Inneren und des
Äußeren. Wir sehen zwar nichts als eine bestimmte Oberfläche, glauben aber,
dass in dieser das Innere, also das Seelenleben zum Ausdruck komme. Der
schwarze Grund bildet auch eine Rahmung, der alle Verbindung zur Banalität
der Betrachtung wie des Gebrauchs leugnet. Wenngleich die bürgerliche
Totenmaskenkultur die Rahmung ebenso kennt wie die Positionierung an
prominenter Stelle, so erlaubt erst die Fotografie die effektvolle
Herauslösung. Der schwarze Grund dieser Fotografien wäre so in keiner
Raumsituation denkbar. Eigenartigerweise scheinen Masken, die auf weißem
Grund abgebildet werden, deutlich an fiktiver Lebendigkeit einzubüßen.
In Ödön von Horváths Stück Die Unbekannte aus der Seine tritt auch ein
Gerichtsfotograf auf. Viel spricht er nicht. Aus dem Haus des Mordopfers
kommend, sagt er einzig: "Die besten Würschtel hab ich mal in Lemberg
gegessen." Das traurig-humoreske Stück endet versöhnlich. Albert, der Mörder
des Uhrmachers, hat Irene geheiratet. In den Räumen des ermordeten
Uhrmachers befindet sich nun eine Buchhandlung. Albert und Irene sind
gekommen, um eine Totenmaske der Unbekannten aus der Seine zu kaufen.
Horváth führt, ohne dass er dies explizit formuliert, dem Publikum das
Wesentliche der Totenmaske vor. Statt sich mit dem Tod oder gar mit dem Mord
zu beschäftigen, laben sich die Bedrohten an der Verklärung des Todes. Das
schreckliche Ende des Uhrmachers wird neutralisiert durch die
Geschichtslosigkeit der Unbekannten aus der Seine.
"Lucille: Emil, erklär doch mal bitte den Herrschaften die Geschichte dieser
Totenmaske.
Emil lacht immer wieder dazwischen hinein: Da gibt es keine Geschichten -
man hat sie aus dem Wasser herausgezogen und weiß nichts von ihr. Irgendeine
junge Selbstmörderin, allerdings mit einem verblüffend mysteriösen Lächeln.
- Neulich hat mal wer gesagt, diese arme Seele war wahrscheinlich nur ein
Menschenkind, gut und böse, fromm und verdorben, wie das ewige Leben - aber
meiner Meinung nach ist das ein Engel gewesen, der zur Strafe auf unser
irdisches Jammertal hat hinabmüssen und dann durch den Tod erlöst worden ist.
Lucille: Wie schön er das gesagt hat.
Irene: Für mich ist das auch ein Engel. Zu Albert. Ich möchte es so gern
haben. Für unser Schlafzimmer.
Lucille: Wir haben noch eine zweite Skulptur drinnen -
Emil: Ich hab sie schon eingepackt!
Irene: Sehr zuvorkommend! Und dann möcht ich bitte nur noch das Kochbuch - "
Die vielen Totenmasken in Literaturmuseen geben zu denken. Offensichtlich
bedarf es bei dieser Art Aneignung von Literatur des Todes des Autors. Dies
wird deutlich, ist etwa eine nach biographischen Gesichtspunkten gegliederte
Ausstellung einem lebenden Autor gewidmet. Fehlt nur noch der Tod, die
ultimative Voraussetzung für eine auratische Aufladung. Dies gilt etwa für
die Handke-Ausstellung im Stift Griffen. Da wird eine ganze Lebensgeschichte
erzählt, nur, der Autor lebt noch. Zum Glück kennt diese Ausstellung ihre
Brüche. Der ehemalige Innenhof des Klosterareals wird heute als Friedhof
genutzt. Es kann vorkommen, dass in einem der Ausstellungsräume für
Wallfahrer Tee oder Suppe aufgewärmt, dass die Ausstellungsarchitektur zu
Ablagezwecken benutzt wird. Da können Plastiktaschen etwa auf jenem
Stellelement abgelegt werden, welches Handkes Internatszeit gilt: "Die fünf
Jahre im Internat sind eine Erzählung nicht wert ..." Solche Besucher
interessieren sich nicht für Handke, sie haben gar keinen Blick für das
Gezeigte. Für sie ist das Ausgestellte nicht auratisch aufgeladen. Eine
auratische Aufladung setzte Originale, eben Authentisches voraus, etwa einen
Bleistift, den Handke tatsächlich verwendet hat, um Randnotizen in einem
Buch zu machen oder eine Einkaufsliste zu schreiben. Verständlicherweise
verzichten die meisten Museen, die sich der Arbeit eines lebenden
Schriftstellers oder einer Schriftstellerin widmen, deshalb weitgehend auf
biographische Inszenierungen und auratische Aufladungen. Es ist interessant
zu erfahren, wie solche von Gesten des Bedeutens entschlackte Ausstellungen
Bedeutungsspielräume öffnen können.
Literaturmuseen sind auch dort dem Tod verbunden, wo in ihnen alle Zeit
still zu stehen scheint. Noch mehr gilt dies für Dichterzimmer, etwa jenes,
in dem Annette von Droste-Hülshoff starb. Hier scheint alles eingefroren,
die Gegenstände stumme Reliquien vergangener Tage. Wie in sakralen Räumen
herrscht Berührungsverbot, herrscht andächtige Stille. Die inszenierte
Ordnung darf nicht gestört, nicht durcheinander gebracht werden. Depots des
Todes. Es ist, als hätten sich solche Museen ein wichtiges Motiv der
Literaturgeschichte zum Vorbild genommen. Oft genug hat in der Literatur die
Anfertigung einer Kopie den Tod des Originals zur Folge. Die junge Frau, die
porträtiert wird, verfällt mit jedem Pinselstrich, der ihr Abbild
lebensähnlicher werden lässt. Bleibt nur noch ein Strich über die Lippen,
ein letzter Glanz über dem Auge - die Seele der jungen Frau flackert noch
einmal auf wie eine verglimmende Lampe. Und in dem Augenblick, in dem der
Künstler ausruft: "Das ist ja das Leben selbst!", ist die Porträtierte tot.
Lebendige Museen setzen vor allem eine kontinuierliche inhaltliche
Auseinandersetzung voraus. Literatur-Ausstellungen sind allemal als
Übersetzungsleistungen zu betrachten. Nur dann, wenn man sich dessen bewusst
ist, weiß, dass nicht Wirklichkeit gezeigt wird, sondern das, was man im
Augenblick für die Wirklichkeit hält, wird man ein Museum als permanenten
Prozess verstehen. Ob Totenmasken, Brillen, Typoskripte oder vieles andere:
Nicht die scheinbar originalen Objekte sind von Bedeutung, sondern der
Blick, den wir darauf werfen. Moderne Literaturmuseen tragen dem Rechnung,
indem sie weniger das Exponat selbst, als die Prozesse der Aneignung und der
sich verändernden Lektüren anschaulich machen und thematisieren. Simone Weil
lässt sich nur aus dem Blickwinkel unserer Zeit lesen. Ihr Sommerhut mag als
Betrachtungshilfe dienen, aber wir verstehen nichts von ihr, wissen wir,
dass sie diesen Hut während der Weinlese getragen hat.
Iris Kathan / Bernhard Kathan 2010