Den Tod, die Toten abgeschafft
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Könnt Ihr Euch denn, bei Eurer Seele, etwas Grausigeres vorstellen als einen
Kadaver inmitten von Würmern, von denen er überquillt, den Kröten
preisgegeben, die ihm die Wangen zerfressen, kurz, die Pest im Gewand eines
Menschenkörpers? Großer Gott! Allein die Vorstellung, selbst wenn man tot
ist, das Gesicht in ein Laken gewickelt zu haben und auf dem Mund eine
Pikenlänge Erde, verschafft mir schon Atembeschwerden! [...] Mit Ausnahme
von Verbrechern wird jedermann verbrannt, was auch ein ehrbarer und äußerst
vernünftiger Brauch ist, weil wir glauben, dass das Feuer, wenn es Reines
von Unreinem geschieden und durch Sympathie die natürliche Hitze angesammelt
hat, die die Seele ausmachte, dieser die Kraft gibt, sich weiter und weiter
zu erheben und bis zu einem Stern aufzusteigen, dem Erdkreis gewisser
Völker, die körperloser und geistiger als wir, da ihr Wesen entsprechend
teilhaben muss an der Reinheit des Planeten, den sie bewohnen, und daß diese
Ursprungsflamme, sich noch läuternd durch durch die Feinheit der Elemente
der dortigen Welt, einen der Bürger dieses flammenden Landes hervorbringt.“
Cyrano de Bergerac, Reise zum Mond und zur Sonne
„Ein modernes Gotteshaus? Eine Verbrennungsanlage? Eine hygienische Sache?
Eine Notwendigkeit? [...] Wir besichtigen eine der beiden
Einäscherungsanlagen in Innsbruck: das Krematorium der Innsbrucker Kommunal
Betriebe. Das Krematorium Innsbruck wurde von den IKB mit einem großen
Kostenaufwand errichtet und am 18. August 1999 in Betrieb genommen. Die
reinigende Kraft des Feuers ist im Krematorium Innsbruck nicht nur Symbol
für den unabänderlichen Erneuerungsprozess der Natur, sondern auch
technische Realität. Eine hochwertige Filteranlage garantiert, dass selbst
die europaweit strengsten Immissionsschutzwerte noch deutlich unterschritten
werden.“
Haus der Begegnung, Programmheft, Frühjahr 2012
Die Trobriander pflegten ihre Leichen zu waschen, zu salben und mit Schmuck
zu bedecken. Dann verstopften sie die Körperöffnungen mit Kokosnussfasern,
verschnürten die Beine und banden die Arme seitlich fest. Der Leichnam wurde
auf die Knie genommen, liebkost, gestreichelt, man drückte ihn mit
wertvollen Gegenständen im Rhythmus unaufhörlichen Klagegesangs. Jemand
hatte dabei den Kopf in der richtigen Position zu halten. Schließlich wurde
die Leiche begraben, um bereits kurze Zeit später wieder exhumiert zu
werden. Nach einer eingehenden Untersuchung auf Zeichen schwarzer Magie war
es Aufgabe der Söhne des Verstorbenen, bestimmte Knochen aus der
verfaulenden Leiche zu lösen und etwa durch das Aussaugen von Röhrenknochen
zu reinigen. Dabei galt es den empfundenen Ekel zu überwinden: „Ich habe die
Radius-Knochen meines Vaters abgesaugt; ich musste mich erbrechen; ich bin
wiedergekommen und habe weitergesaugt.“ Die Knochen wurden als Reliquien
betrachtet, sie dienten aber auch praktischen Zwecken oder als
Schmuckgegenstände, der Schädel als Kalkgefäß, die Kinnlade als Halsschmuck,
aus Knochen wurden Kalkspachtel gefertigt. Es ließen sich, betrachtet man
die Kulturgeschichte, absonderlichste Praktiken im Umgang mit Toten nennen,
angefangen vom Verzehr bis hin zu vielfältigsten Formen der Konservierung.
Besonders ausführlich beschrieb Bronislaw Malinowski den Umgang der
Trobriander mit ihren Toten. Auf einer seiner Aufnahmen ist ein junger Mann
zu sehen, der die Leiche seiner Frau zärtlich auf seinen Knien wiegt.
Italienische Friedhöfe kennen mehrstöckige Gebäude, die an Wohnblocks denken
lassen. Warum sollten Menschen, die in großen Wohnblocks dicht gedrängt,
aber anonym nebeneinander leben, nach ihrem Tod nicht in ähnlicher Weise
organisiert sein. Jede Gesellschaft hat ihren eigenen Umgang mit den Toten
und darin spiegelt sich stets das Weltverständnis der Lebenden. Dank
Kremierung lässt sich die Hochhausbestattung optimieren, die Nischentiefe
auf 60 oder noch weniger Zentimeter reduzieren. Heute setzt sich die
Urnenbestattung auch in dörflichen Gemeinden, die nach wie vor katholisch
geprägt sind, zunehmend durch. Eine kostengünstige Bestattungsform, vor
allem, was die Erhaltungskosten betrifft. Die zunehmende Beliebtheit der
Urnenbestattung verdankt sich auch anderen Gründen. Lässt sich der Körper
eines Toten innerhalb kürzester Zeit auf einen befriedeten, also
symbolischen Rest verdichten, so hat dies auf mögliche Trauergefühle eine
dämpfende Wirkung. Es ist ein großer Unterschied, ob man einen Sarg oder
eine Urne auf den Friedhof trägt. In einem Sarg liegt immer noch der Körper
eines Toten, eine Urne dagegen dient als Behältnis einer Substanz, die
bestenfalls auf den Körper eines Menschen verweist. Von „sterblichen
Überresten“ kann keine Rede sein.
Zur Kremierung fügen sich heute andere Technologien, etwa die
Gefriertrocknung, ein Verfahren, bei dem der Leichnam in flüssigem
Stickstoff schockgefroren und anschließend zu Pulver zerkleinert wird.
Zweckmäßig, platzsparend, ohne „schädliche Emissionen“, ohne jede Belastung
des Grundwassers, hygienisch eben. Die neue Methode wurde bereits an
Schweinen und Kühen getestet. Den in flüssigem Stickstoff tiefgefrorenen
Kadavern wurde mittels Vakuum das Wasser entzogen: „Übrig bleibt ein
geruchloses Pulver.“ Paolo Mantegazza phantasierte in seinem 1897
erschienenen Zukunftsroman „Das Jahr 3000“ eine Kremierung mit Hilfe von
elektrischem Strom: „Der Leichnam wird nackt in eine Urne aus Platina
gesteckt, die der Form des menschlichen Körpers entspricht. Wenn die Urne
geschlossen ist, werden am Kopf- und Fußende zwei Drähte angebracht, die
einen Strom von so außerordentlicher Hitze durch die Urne leiten, dass der
Körper in fünf oder sechs Minuten in Asche verwandelt ist. Wenn die Urne
abgekühlt ist, nimmt man die Asche heraus, die dann den Angehörigen
übergeben oder im Hause der Toten aufbewahrt wird, je nach dem
testamentarischen Wunsche des Verstorbenen.“ Während manche wünschten, ihre
Asche solle in einen Fluss oder ins Meer geschüttet werden, so zögen es
andere vor, diene ihre Asche als Dünger für Blumenbeete oder Felder.
Wollen heute manche ihre Asche auf einer Wiese, einer Alm, auf einem Berg
oder im „Wald der Ewigkeit“ verstreut wissen, so taucht die „reine“ Natur
als Gegenbild zu einer technisierten und immer unüberschaubareren Welt auf.
Was zählt da schon, dass es sich bei der Verbrennung wie sie heute in
Krematorien praktiziert wird, nicht um einen natürlichen, sondern um einen
technischen, nicht um einen persönlichen, sondern rein sachlichen Vorgang
handelt. Um das zu begreifen, muss man nur den Plan eines modernen
Krematoriums zur Hand nehmen und die Bezeichnungen der einzelnen Teile der
Anlage lesen: „Einführmaschine, Elektroeinäscherungsofen, Steuerpult,
Aschenentnahme, Verbrennungsluft-Gebläse, Rohgasleitung mit Grauwertmessung,
Wärmetauscher; Kühlung der Rohgase von ca 800° C auf 180° C, Gewebefilter;
Ausscheidung von Staubpartikeln, Festbettabsorber; Ausscheidung gasförmiger
Schadstoffe, Absaggebläse, Kamin, Druckluftstation, Außenkühler, Klappe,
Schaltschrank, Staubabsaugung.“ Als Betrieb unterscheidet sich ein
Krematorium nicht von anderen Betrieben, sieht man einmal davon ab, dass
hier nicht Brote gebacken oder Schuhe hergestellt, sondern Tote verbrannt
werden. Wie in jedem Unternehmen wird auch hier im Idealfall seriell
gearbeitet, werden Maschinen bedient, Formulare ausgefüllt. Wir haben es
gleichermaßen mit einer industriellen Anlage wie mit einer Bürokratie zu
tun, mit einer Organisationsform, deren Merkmale Max Weber mit den Begriffen
Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit,
Kontinuierlichkeit, Diskretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung,
Ersparnisse an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten,
Arbeitsteiligkeit nach rein sachlichen Gesichtspunkten zusammengefasst hat.
Technik und spezialisierte Dienstleistungen garantieren eine nahezu
vollkommene Befriedung der Toten.
Betrachtet man Krematoriumsbauten, die in jüngster Zeit errichtet wurden,
dann fällt der extreme Gegensatz zwischen Trauer und Technik,
symbolschwangeren Aufladungen im Vordergrund und völlig sachlicher
Funktionsweise im Inneren, also jenen Bereichen solcher Anlagen auf, die den
Trauernden nicht zugänglich sind. Die technischen Einrichtungen befinden
sich nahezu immer in Untergeschoßen. Die Reihenfolge der Einäscherungen
verdankt sich einem Computerprogramm. Roboter bewegen die Särge zu den
Verbrennungsöfen. In krassem Widerspruch dazu wird im Vordergrund mit einer
Zeichensprache operiert, in welcher der Tod in einen indifferenten Rahmen
von Ewigkeit und Wiedergeburt gestellt wird. Die Zeichensprache kann sich
einer Tür, einer Schwelle, eines Kreises, des Lichtes etc. bedienen. Dabei
notierte der rumänische Schriftsteller Tudor Arghezi vor nun bald hundert
Jahren: „Der Ort, an dem die Leichenverbrennung vollzogen wird, ist ein
Tempel ohne Glaubensbekenntnis. Er hat seine Ästhetik von Bahnhöfen,
Straßenlaternen, von den Petroleumdepots, ein bisschen auch vom Stieltopf
und von der Essigkanne bezogen ... Wenn er beim Altstoffhandel verkauft
wird, kann er zerlegt, demontiert und an einem anderen Platz zu
verschiedenen Zwecken neu installiert werden.“
Bis in das 2. Jahrhundert wurden Tote auch im Raum des heutigen Österreich
zumeist verbrannt. Warum sich die Erdbestattung durchsetzte und die
Feuerbestattung schließlich verboten wurde, ist nicht einfach zu erklären.
Manche machen frühe Einflüsse östlicher Erlösungsreligionen geltend, in
denen wie später im Christentum das Verbrennen Toter abgelehnt wurde, andere
verweisen auf die großen Holzmengen. Beide Erklärungen überzeugen nur
bedingt. In einer historisch-anthropologischen Lesart ist eher zu vermuten,
dass sich die Erdbestattung deshalb durchsetzte, weil sie der Abkühlung
diente. Den Toten wurde auf Friedhöfen ein eigener Raum zugewiesen, ein
Raum, der eine Vielzahl von Tabus kannte. Stets handelte es sich um einen
Bereich, der strikt von den bewirtschaftbaren Flächen wie vom öffentlichen
Raum getrennt war. Ketzer- und Hexenverbrennungen fanden dagegen noch lange
später im öffentlichen Raum statt, nicht zufällig, dienten solche
Hinrichtungen doch der Kanalisierung von Affekten. Die Geschichte des Todes
liest sich denn auch als Geschichte des öffentlichen Raumes, aus dem der
Tod, sei es der von Menschen oder von Tieren, zunehmend verbannt wurde. Der
Tod und somit auch die Toten wurden aus dem Dorf an die Peripherie, nach
Baudrillard in ein Nirgendwo verdrängt. Heute dient die Feuerbestattung der
Abkühlung. Die Verbrennung der Leichen geschieht höchst diskret. Die Toten
werden im Verborgenen verbrannt, nicht im öffentlichen Raum. Nicht länger
schichtet der Trauernde Brennholz auf. Man legt nicht selbst Feuer an, hört
weder Holz, noch Fett knistern. Es ist nichts zu riechen, wiewohl Anrainer
immer wieder befürchten, wird ein Krematorium errichtet, sie könnten unter
Geruchsbelästigung leiden. Produziert wird Asche, ein Material also, dem nur
noch symbolische Funktion zukommt.
Ob König oder Bettler, die Einäscherung geschieht auf ein und dieselbe
Weise. Da die Verbrennung technisch und seriell erfolgt, wäre es nur
konsequent, würde die Asche in industriell gefertigten Einheitsurnen
abgefüllt. Tatsächlich gibt es jedoch ein großes Bedürfnis nach
individueller Ausgestaltung: „Geben Sie Ihrer Urne eine persönliche Note!“
Man sucht sich den „richtigen“ Trauerredner, wählt eine Urne nach eigenem
Geschmack. Bei genauerer Betrachtung erweist sich das Individuelle nur als
Kehrseite einer Medaille, auf deren Rückseite ein vorgegebenes Sortiment zu
sehen ist. Auch im Umgang mit Toten sind wir endgültig beim Warenkatalog
angelangt. Vom Billig- bis zum Designersarg, jeder nach seinen Wünschen und
Vorstellungen. Heute lassen sich manche bereits zu Lebzeiten eine Urne
anfertigen, etwa eine Urne, der Barke in Kafkas Erzählung „Der Jäger
Gracchus“ nachempfunden. Der Jäger Gracchus ist bei der Gämsenjagd im
Schwarzwald verunglückt. Fröhlich wie das Mädchen ins Hochzeitskleid, so
schlüpft er ins Totenhemd, streckt sich auf der Barke aus, die ihn ins
Jenseits tragen soll. Man braucht die Geschichte gar nicht zu lesen, ist
doch eine Barke ein schönes Symbol. Man denkt an eine Todesbarke, die uns
hinübergeleitet in eine andere Daseinsform. Nur, in der Erzählung kommt der
Jäger Gracchus nicht an, er bleibt in einem schrecklichen Raum zwischen
Diesseits und Jenseits gefangen: „Mein Todeskahn verfehlte die Fahrt, eine
falsche Drehung des Steuers, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit des
Führers, eine Ablenkung durch meine wunderschöne Heimat, ich weiß nicht, was
es war, nur das weiß ich, dass ich auf der Erde blieb und dass mein Kahn
seither die irdischen Gewässer befährt.“ Eine Urne in Form einer Barke kennt
keine Irrfahrt. Urnen werden abgestellt, irgendwann entsorgt. Trotz aller
Pietätsbehauptungen heißt es dann: „Ruhezeit abgelaufen!“
Früher erlaubten Tod und Begräbnis nur eine sehr geringe individuelle
Ausgestaltung, mochte es auch standesbedingt große Abweichungen geben.
Farbe, Kleidung, Haartracht wie vieles andere verdankten sich strikten
Regeln. Tod und Begräbnis wurden keineswegs als Privatsache wahrgenommen.
1950 legte ein Wiener Beamte seinem Testament detaillierte
„Verhaltensmaßregeln“ für den Fall seines Todes bei. Da ist etwa zu lesen:
„1) Ich will ein nicht zu teures, aber unbedingt standesgemäßes Begräbnis
nach römisch-katholischem Ritus. 2) Ich will in unserem eigenen Grabe, in
dem bereits Annemarie liegt, das ist Zentralfriedhof Gruppe ..., Reihe ...,
Nr. ..., beerdigt werden. 3) Wenn möglich Eichensarg. Mich mit dem
schlechtesten Zivilanzug bekleiden. ...“ Die gesellschaftliche Stellung war
wichtiger als die individuelle Ausgestaltung. Nicht zufällig sind in diesen
Verhaltensmaßregeln alle Orden aufgelistet, findet sich in diesen eine lange
Liste mit all den Personen, denen die Todesanzeige zugeschickt werden soll.
Und es versteht sich von selbst, dass damit die Erwartung verbunden war,
dass diese auch zum Begräbnis kommen werden.
Unsere Eltern setzten ein gutes Begräbnis noch mit einer möglichst großen
Anzahl von Trauergästen gleich. Hatten nicht alle in der Kirche Platz, dann
galt es als besonders gelungen. Wir dagegen wollen auf eine Bestattung im
engsten Kreis von Freunden und Angehörigen. Dieser Wandel markiert eine
entscheidende Bruchlinie in unserem Lebens- und Gesellschaftsverständnis.
Dass früher eine möglichst große Anzahl von Trauergästen von Bedeutung war,
das wurde nicht allein als Ehrerweisung den Toten gegenüber verstanden.
Vielmehr ging es auch um Verpflichtungen, die sich auf die nachfolgenden
Generationen übertrugen. Eine Bestattung im engsten Freundes- oder
Familienkreis ist in einer Gesellschaft konsequent, in der die sozialen
Bindungen erodieren. Nicht zufällig verliert das allgemeine Totengedenken
etwa zu Allerseelen an Bedeutung, der Ort, an dem die Asche Verstorbener
deponiert wird, muss nur noch bedingt ein Friedhof sein muss.
Ein relativ frühes Beispiel für die individuelle Ausgestaltung des eigenen
Begräbnisses findet sich bei Bertold Brecht. Drei Jahre vor seinem Tod
schrieb der Dichter an seine Frau Helene Weigel: „Ich bitte Helli, folgendes
zu veranlassen: 1) daß der Tod sichergestellt wird, 2) daß der Sarg aus
Stahl oder Eisen ist, 3) daß der Sarg nicht offen ausgestellt wird, 4) daß
er, wenn er ausgestellt werden soll, im Probenhaus ausgestellt wird, 5) daß
weder am Sarg noch am Grab gesprochen, höchstens das Gedicht An die
Nachgeborenen verlesen wird, 6) daß die Totenwache, wenn eine solche
gewünscht wird, nur von Schauspielern gehalten wird, 7) daß keine Musik
gespielt wird, 8) daß das Grab im Garten in Buckow oder im Friedhof neben
meiner Wohnung in der Chausseestraße liegt und nur den Namen Brecht auf
einem Stein hat. Danke, Helli! brecht November 1953 Berlin.“
Die Pluralisierung und Partikularisierung der Gesellschaft spiegelt sich in
neuen städtischen Friedhofsanlagen, die als Park- bzw. Naturlandschaften
erscheinen. Da finden sich Bereiche für totgeborene Kinder, Rasenflächen für
anonyme Bestattungen, waldähnliche Landschaften mit Urnengräbern,
Gemeinschaftsgrabfelder von Aids-Toten oder einen „Garten der Frauen“ im
Geiste der Frauenbewegung. Es entstehen „gruppenspezifische
Miniaturlandschaften“, die deutlich machen, dass nicht länger die
Familienzugehörigkeit von Bedeutung ist, sondern jene soziale Gemeinschaft,
der sich der Verstorbene zu Lebzeiten zugehörig fühlte. Darin spiegelt sich
ein grundlegender soziographischer Wandel, der deutlich macht, dass der
heutige Mensch seine Identität weniger familiären oder nachbarschaftlichen
Beziehungen als subkulturellen Orientierungen verdankt.
Die von Malinowski beschriebenen Trobriander feierten die Rückkehr der
Ahnengeister. Diesen bereiteten sie Speisen zu. Hatten die Ahnen nach einer
gewissen Zeit den geistigen Gehalt dieser Speisen aufgezehrt, so brachte man
das Essen Nachbarn, von denen es tatsächlich gegessen wurde. Die Nachbarn
ihrerseits machten es ebenso, so dass jeder, der Totengerichte
weiterreichte, selbst solche verzehrte. Es würde hier zu weit führen, die
höchst komplizierten Regeln eines solchen Austausches genauer zu
beschreiben. Dieses Beispiel bringt jedoch deutlich zum Ausdruck, dass wir
es mit mehreren Achsen zu tun haben. Auf einer vertikalen Ebene geht es um
das Verhältnis von Lebenden und Toten, auf der horizontalen Ebene um das
Verhältnis zwischen Lebenden. Die vertikale Achse bezieht sich zudem noch
auf künftige Generationen. In solchen Vorstellungen wirken die Toten, die
zumeist als ambivalent betrachtet wurden, unmittelbar in die Welt der
Lebenden hinein und müssen deshalb genährt, zumindest befriedet werden.
Reste solcher Vorstellungen haben sich bis in die jüngste Vergangenheit auch
in heimischen Bräuchen erhalten. So war es mancherorts üblich, Verstorbenen
zu Allerseelen Nahrung auf das Fensterbrett zu stellen. Beim oben erwähnten
Brauch der Trobriander, Knochen aus der Leiche herauszulösen und
auszusaugen, handelte es sich zum einen um eine Verpflichtung dem Toten
gegenüber: „Wir saugen seine Knochen aus, hat uns der Vater doch genährt und
mit Leckerbissen gefüttert, hat er doch die Hand aufgehalten, um unsere
Exkremente aufzufangen, ertrug er es doch, urinierten wir auf seine Knie.“
Aber bereits die Verteilung der Knochen verweist auf Verpflichtungen den
Lebenden gegenüber. Die Kinnlade etwa stand der Witwe zu. Dass die Witwe
strengsten Tabus unterlag und in ihrem Haus über lange Monate in einen
kleinen Käfig auszuharren hatte, nur im Flüsterton sprechen, keine Speisen
oder Getränke mit ihren Händen berühren durfte, sei hier nur am Rande
erwähnt.
In unserer aufgeklärten Welt haben wir dank zahlreicher Dienstleister den
Tod zu einem Trauerfall gemacht, der oft nur noch mit einem einzigen Termin
verknüpft ist. Dem modernen Menschen ist es gelungen, Sterben und Tod nahezu
vollkommen zu befrieden. Wie sehr sich frühere Vorstellungen aufgelöst
haben, macht etwa deutlich, dass es heute kein Tabu mehr darstellt, wird in
Krematorien die bei der Verbrennung anfallende Abwärme genutzt, etwa für die
Beheizung von Verwaltungsgebäuden. Dies wäre noch vor wenigen Jahrzehnten
völlig undenkbar gewesen und hätte wohl nicht weniger Abscheu erregt als die
Vorstellung, Gemüse zu essen, welches auf einem Totenacker gepflanzt wurde.
Wird heute die Abwärme genutzt, die bei der Verbrennung von Leichen in
Krematorien anfällt, so wird nicht einverleibt. Es wird nicht verzehrt.
Wärme ist neutral, geschichtslos. Verbrennung wird mit Reinigung assoziiert.
Darin klingt die alte Vorstellung von der läuternden und verwandelnden Kraft
des Feuers an. Die Nutzung der Abwärme von Krematorien ist in einer Zeit
konsequent, in der sich die fossilen Energiereserven erschöpfen. Der moderne
Mensch, hemmungslos im Umgang mit Ressourcen, übt sich als Abfallvermeider
und betrachtet seinen Körper als Recyclingobjekt.
Letztlich ist es uns gelungen, den Tod und die Toten abzuschaffen. Wie kein
anderer hat dies Baudrillard auf den Punkt gebracht. Er schreibt, den Toten
sei nicht länger ein Ort oder eine Zeit zugewiesen, sie seien unauffindbar,
so sehr zusammengedrückt, dass sie sich in Luft auflösen würden: „Wenn der
Friedhof nicht mehr existiert, so deshalb, weil die modernen Städte als
Ganze diese Funktion übernommen haben: sie sind tote Städte und Städte des
Todes. Und wenn die große, operationale Metropole die vollendete Form einer
ganzen Kultur ist, so ist die unsere ganz einfach eine Kultur des Todes.“
Während wir die Toten Dienstleistern überlassen, hat die Beschäftigung mit
dem Tod Konjunktur, was nicht zuletzt zahllose Publikationen zum Thema
belegen. Wie erwähnt, lassen sich manche bereits zu Lebzeiten eine Urne nach
ihren Wünschen anfertigen. Eine kräuterkundige Freundin bestellte sich bei
einem Tischler einen Sarg, den sie bis zu ihrem Tod als Kräutertruhe nutzen
will. Es versteht sich von selbst, dass sie auf Kräutern gebettet begraben
werden will. Warum sich nicht zumindest das Totenhemd, das Hemd ohne Kragen,
selbst anfertigen, sich mit Leinanbau beschäftigen und aus Flachs ein Gewebe
herstellen? Dieses dann selbst zuschneiden, nähen – um für den Tod, für das
Krematorium gerüstet zu sein. Allein ein kurzer Blick auf solche Wünsche,
die ich in den letzten Jahren erlebte, ist ernüchternd. Da wird das
bereitgelegte Totenhemd missachtet, dort fotografiert nicht der bestellte
Fotograf, sondern die Polizei den bis in das kleinste Detail durchdachten
Selbstmord. Einer meiner Freund hat seinen Körper der Anatomie vermacht. Ein
Jahr vor seinem Tod ließ er sich bestens ausgeleuchtet auf einem
Sektionstisch liegend ablichten. Ganz anders als er es sich gedacht hatte,
verwandelte ihn der Tod in ein namenloses Objekt. Keiner der
Medizinstudenten, die sich an seinem Körper üben werden, wird auch nur eine
Sekunde an Geschichte und Leistungen dieses Menschen denken.
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