Den Tod, die Toten abgeschafft






Könnt Ihr Euch denn, bei Eurer Seele, etwas Grausigeres vorstellen als einen Kadaver inmitten von Würmern, von denen er überquillt, den Kröten preisgegeben, die ihm die Wangen zerfressen, kurz, die Pest im Gewand eines Menschenkörpers? Großer Gott! Allein die Vorstellung, selbst wenn man tot ist, das Gesicht in ein Laken gewickelt zu haben und auf dem Mund eine Pikenlänge Erde, verschafft mir schon Atembeschwerden! [...] Mit Ausnahme von Verbrechern wird jedermann verbrannt, was auch ein ehrbarer und äußerst vernünftiger Brauch ist, weil wir glauben, dass das Feuer, wenn es Reines von Unreinem geschieden und durch Sympathie die natürliche Hitze angesammelt hat, die die Seele ausmachte, dieser die Kraft gibt, sich weiter und weiter zu erheben und bis zu einem Stern aufzusteigen, dem Erdkreis gewisser Völker, die körperloser und geistiger als wir, da ihr Wesen entsprechend teilhaben muss an der Reinheit des Planeten, den sie bewohnen, und daß diese Ursprungsflamme, sich noch läuternd durch durch die Feinheit der Elemente der dortigen Welt, einen der Bürger dieses flammenden Landes hervorbringt.“ Cyrano de Bergerac, Reise zum Mond und zur Sonne

„Ein modernes Gotteshaus? Eine Verbrennungsanlage? Eine hygienische Sache? Eine Notwendigkeit? [...] Wir besichtigen eine der beiden Einäscherungsanlagen in Innsbruck: das Krematorium der Innsbrucker Kommunal Betriebe. Das Krematorium Innsbruck wurde von den IKB mit einem großen Kostenaufwand errichtet und am 18. August 1999 in Betrieb genommen. Die reinigende Kraft des Feuers ist im Krematorium Innsbruck nicht nur Symbol für den unabänderlichen Erneuerungsprozess der Natur, sondern auch technische Realität. Eine hochwertige Filteranlage garantiert, dass selbst die europaweit strengsten Immissionsschutzwerte noch deutlich unterschritten werden.“
Haus der Begegnung, Programmheft, Frühjahr 2012

Die Trobriander pflegten ihre Leichen zu waschen, zu salben und mit Schmuck zu bedecken. Dann verstopften sie die Körperöffnungen mit Kokosnussfasern, verschnürten die Beine und banden die Arme seitlich fest. Der Leichnam wurde auf die Knie genommen, liebkost, gestreichelt, man drückte ihn mit wertvollen Gegenständen im Rhythmus unaufhörlichen Klagegesangs. Jemand hatte dabei den Kopf in der richtigen Position zu halten. Schließlich wurde die Leiche begraben, um bereits kurze Zeit später wieder exhumiert zu werden. Nach einer eingehenden Untersuchung auf Zeichen schwarzer Magie war es Aufgabe der Söhne des Verstorbenen, bestimmte Knochen aus der verfaulenden Leiche zu lösen und etwa durch das Aussaugen von Röhrenknochen zu reinigen. Dabei galt es den empfundenen Ekel zu überwinden: „Ich habe die Radius-Knochen meines Vaters abgesaugt; ich musste mich erbrechen; ich bin wiedergekommen und habe weitergesaugt.“ Die Knochen wurden als Reliquien betrachtet, sie dienten aber auch praktischen Zwecken oder als Schmuckgegenstände, der Schädel als Kalkgefäß, die Kinnlade als Halsschmuck, aus Knochen wurden Kalkspachtel gefertigt. Es ließen sich, betrachtet man die Kulturgeschichte, absonderlichste Praktiken im Umgang mit Toten nennen, angefangen vom Verzehr bis hin zu vielfältigsten Formen der Konservierung. Besonders ausführlich beschrieb Bronislaw Malinowski den Umgang der Trobriander mit ihren Toten. Auf einer seiner Aufnahmen ist ein junger Mann zu sehen, der die Leiche seiner Frau zärtlich auf seinen Knien wiegt.

Italienische Friedhöfe kennen mehrstöckige Gebäude, die an Wohnblocks denken lassen. Warum sollten Menschen, die in großen Wohnblocks dicht gedrängt, aber anonym nebeneinander leben, nach ihrem Tod nicht in ähnlicher Weise organisiert sein. Jede Gesellschaft hat ihren eigenen Umgang mit den Toten und darin spiegelt sich stets das Weltverständnis der Lebenden. Dank Kremierung lässt sich die Hochhausbestattung optimieren, die Nischentiefe auf 60 oder noch weniger Zentimeter reduzieren. Heute setzt sich die Urnenbestattung auch in dörflichen Gemeinden, die nach wie vor katholisch geprägt sind, zunehmend durch. Eine kostengünstige Bestattungsform, vor allem, was die Erhaltungskosten betrifft. Die zunehmende Beliebtheit der Urnenbestattung verdankt sich auch anderen Gründen. Lässt sich der Körper eines Toten innerhalb kürzester Zeit auf einen befriedeten, also symbolischen Rest verdichten, so hat dies auf mögliche Trauergefühle eine dämpfende Wirkung. Es ist ein großer Unterschied, ob man einen Sarg oder eine Urne auf den Friedhof trägt. In einem Sarg liegt immer noch der Körper eines Toten, eine Urne dagegen dient als Behältnis einer Substanz, die bestenfalls auf den Körper eines Menschen verweist. Von „sterblichen Überresten“ kann keine Rede sein.

Zur Kremierung fügen sich heute andere Technologien, etwa die Gefriertrocknung, ein Verfahren, bei dem der Leichnam in flüssigem Stickstoff schockgefroren und anschließend zu Pulver zerkleinert wird. Zweckmäßig, platzsparend, ohne „schädliche Emissionen“, ohne jede Belastung des Grundwassers, hygienisch eben. Die neue Methode wurde bereits an Schweinen und Kühen getestet. Den in flüssigem Stickstoff tiefgefrorenen Kadavern wurde mittels Vakuum das Wasser entzogen: „Übrig bleibt ein geruchloses Pulver.“ Paolo Mantegazza phantasierte in seinem 1897 erschienenen Zukunftsroman „Das Jahr 3000“ eine Kremierung mit Hilfe von elektrischem Strom: „Der Leichnam wird nackt in eine Urne aus Platina gesteckt, die der Form des menschlichen Körpers entspricht. Wenn die Urne geschlossen ist, werden am Kopf- und Fußende zwei Drähte angebracht, die einen Strom von so außerordentlicher Hitze durch die Urne leiten, dass der Körper in fünf oder sechs Minuten in Asche verwandelt ist. Wenn die Urne abgekühlt ist, nimmt man die Asche heraus, die dann den Angehörigen übergeben oder im Hause der Toten aufbewahrt wird, je nach dem testamentarischen Wunsche des Verstorbenen.“ Während manche wünschten, ihre Asche solle in einen Fluss oder ins Meer geschüttet werden, so zögen es andere vor, diene ihre Asche als Dünger für Blumenbeete oder Felder.

Wollen heute manche ihre Asche auf einer Wiese, einer Alm, auf einem Berg oder im „Wald der Ewigkeit“ verstreut wissen, so taucht die „reine“ Natur als Gegenbild zu einer technisierten und immer unüberschaubareren Welt auf. Was zählt da schon, dass es sich bei der Verbrennung wie sie heute in Krematorien praktiziert wird, nicht um einen natürlichen, sondern um einen technischen, nicht um einen persönlichen, sondern rein sachlichen Vorgang handelt. Um das zu begreifen, muss man nur den Plan eines modernen Krematoriums zur Hand nehmen und die Bezeichnungen der einzelnen Teile der Anlage lesen: „Einführmaschine, Elektroeinäscherungsofen, Steuerpult, Aschenentnahme, Verbrennungsluft-Gebläse, Rohgasleitung mit Grauwertmessung, Wärmetauscher; Kühlung der Rohgase von ca 800° C auf 180° C, Gewebefilter; Ausscheidung von Staubpartikeln, Festbettabsorber; Ausscheidung gasförmiger Schadstoffe, Absaggebläse, Kamin, Druckluftstation, Außenkühler, Klappe, Schaltschrank, Staubabsaugung.“ Als Betrieb unterscheidet sich ein Krematorium nicht von anderen Betrieben, sieht man einmal davon ab, dass hier nicht Brote gebacken oder Schuhe hergestellt, sondern Tote verbrannt werden. Wie in jedem Unternehmen wird auch hier im Idealfall seriell gearbeitet, werden Maschinen bedient, Formulare ausgefüllt. Wir haben es gleichermaßen mit einer industriellen Anlage wie mit einer Bürokratie zu tun, mit einer Organisationsform, deren Merkmale Max Weber mit den Begriffen Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Diskretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten, Arbeitsteiligkeit nach rein sachlichen Gesichtspunkten zusammengefasst hat. Technik und spezialisierte Dienstleistungen garantieren eine nahezu vollkommene Befriedung der Toten.

Betrachtet man Krematoriumsbauten, die in jüngster Zeit errichtet wurden, dann fällt der extreme Gegensatz zwischen Trauer und Technik, symbolschwangeren Aufladungen im Vordergrund und völlig sachlicher Funktionsweise im Inneren, also jenen Bereichen solcher Anlagen auf, die den Trauernden nicht zugänglich sind. Die technischen Einrichtungen befinden sich nahezu immer in Untergeschoßen. Die Reihenfolge der Einäscherungen verdankt sich einem Computerprogramm. Roboter bewegen die Särge zu den Verbrennungsöfen. In krassem Widerspruch dazu wird im Vordergrund mit einer Zeichensprache operiert, in welcher der Tod in einen indifferenten Rahmen von Ewigkeit und Wiedergeburt gestellt wird. Die Zeichensprache kann sich einer Tür, einer Schwelle, eines Kreises, des Lichtes etc. bedienen. Dabei notierte der rumänische Schriftsteller Tudor Arghezi vor nun bald hundert Jahren: „Der Ort, an dem die Leichenverbrennung vollzogen wird, ist ein Tempel ohne Glaubensbekenntnis. Er hat seine Ästhetik von Bahnhöfen, Straßenlaternen, von den Petroleumdepots, ein bisschen auch vom Stieltopf und von der Essigkanne bezogen ... Wenn er beim Altstoffhandel verkauft wird, kann er zerlegt, demontiert und an einem anderen Platz zu verschiedenen Zwecken neu installiert werden.“

Bis in das 2. Jahrhundert wurden Tote auch im Raum des heutigen Österreich zumeist verbrannt. Warum sich die Erdbestattung durchsetzte und die Feuerbestattung schließlich verboten wurde, ist nicht einfach zu erklären. Manche machen frühe Einflüsse östlicher Erlösungsreligionen geltend, in denen wie später im Christentum das Verbrennen Toter abgelehnt wurde, andere verweisen auf die großen Holzmengen. Beide Erklärungen überzeugen nur bedingt. In einer historisch-anthropologischen Lesart ist eher zu vermuten, dass sich die Erdbestattung deshalb durchsetzte, weil sie der Abkühlung diente. Den Toten wurde auf Friedhöfen ein eigener Raum zugewiesen, ein Raum, der eine Vielzahl von Tabus kannte. Stets handelte es sich um einen Bereich, der strikt von den bewirtschaftbaren Flächen wie vom öffentlichen Raum getrennt war. Ketzer- und Hexenverbrennungen fanden dagegen noch lange später im öffentlichen Raum statt, nicht zufällig, dienten solche Hinrichtungen doch der Kanalisierung von Affekten. Die Geschichte des Todes liest sich denn auch als Geschichte des öffentlichen Raumes, aus dem der Tod, sei es der von Menschen oder von Tieren, zunehmend verbannt wurde. Der Tod und somit auch die Toten wurden aus dem Dorf an die Peripherie, nach Baudrillard in ein Nirgendwo verdrängt. Heute dient die Feuerbestattung der Abkühlung. Die Verbrennung der Leichen geschieht höchst diskret. Die Toten werden im Verborgenen verbrannt, nicht im öffentlichen Raum. Nicht länger schichtet der Trauernde Brennholz auf. Man legt nicht selbst Feuer an, hört weder Holz, noch Fett knistern. Es ist nichts zu riechen, wiewohl Anrainer immer wieder befürchten, wird ein Krematorium errichtet, sie könnten unter Geruchsbelästigung leiden. Produziert wird Asche, ein Material also, dem nur noch symbolische Funktion zukommt.

Ob König oder Bettler, die Einäscherung geschieht auf ein und dieselbe Weise. Da die Verbrennung technisch und seriell erfolgt, wäre es nur konsequent, würde die Asche in industriell gefertigten Einheitsurnen abgefüllt. Tatsächlich gibt es jedoch ein großes Bedürfnis nach individueller Ausgestaltung: „Geben Sie Ihrer Urne eine persönliche Note!“ Man sucht sich den „richtigen“ Trauerredner, wählt eine Urne nach eigenem Geschmack. Bei genauerer Betrachtung erweist sich das Individuelle nur als Kehrseite einer Medaille, auf deren Rückseite ein vorgegebenes Sortiment zu sehen ist. Auch im Umgang mit Toten sind wir endgültig beim Warenkatalog angelangt. Vom Billig- bis zum Designersarg, jeder nach seinen Wünschen und Vorstellungen. Heute lassen sich manche bereits zu Lebzeiten eine Urne anfertigen, etwa eine Urne, der Barke in Kafkas Erzählung „Der Jäger Gracchus“ nachempfunden. Der Jäger Gracchus ist bei der Gämsenjagd im Schwarzwald verunglückt. Fröhlich wie das Mädchen ins Hochzeitskleid, so schlüpft er ins Totenhemd, streckt sich auf der Barke aus, die ihn ins Jenseits tragen soll. Man braucht die Geschichte gar nicht zu lesen, ist doch eine Barke ein schönes Symbol. Man denkt an eine Todesbarke, die uns hinübergeleitet in eine andere Daseinsform. Nur, in der Erzählung kommt der Jäger Gracchus nicht an, er bleibt in einem schrecklichen Raum zwischen Diesseits und Jenseits gefangen: „Mein Todeskahn verfehlte die Fahrt, eine falsche Drehung des Steuers, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit des Führers, eine Ablenkung durch meine wunderschöne Heimat, ich weiß nicht, was es war, nur das weiß ich, dass ich auf der Erde blieb und dass mein Kahn seither die irdischen Gewässer befährt.“ Eine Urne in Form einer Barke kennt keine Irrfahrt. Urnen werden abgestellt, irgendwann entsorgt. Trotz aller Pietätsbehauptungen heißt es dann: „Ruhezeit abgelaufen!“

Früher erlaubten Tod und Begräbnis nur eine sehr geringe individuelle Ausgestaltung, mochte es auch standesbedingt große Abweichungen geben. Farbe, Kleidung, Haartracht wie vieles andere verdankten sich strikten Regeln. Tod und Begräbnis wurden keineswegs als Privatsache wahrgenommen. 1950 legte ein Wiener Beamte seinem Testament detaillierte „Verhaltensmaßregeln“ für den Fall seines Todes bei. Da ist etwa zu lesen: „1) Ich will ein nicht zu teures, aber unbedingt standesgemäßes Begräbnis nach römisch-katholischem Ritus. 2) Ich will in unserem eigenen Grabe, in dem bereits Annemarie liegt, das ist Zentralfriedhof Gruppe ..., Reihe ..., Nr. ..., beerdigt werden. 3) Wenn möglich Eichensarg. Mich mit dem schlechtesten Zivilanzug bekleiden. ...“ Die gesellschaftliche Stellung war wichtiger als die individuelle Ausgestaltung. Nicht zufällig sind in diesen Verhaltensmaßregeln alle Orden aufgelistet, findet sich in diesen eine lange Liste mit all den Personen, denen die Todesanzeige zugeschickt werden soll. Und es versteht sich von selbst, dass damit die Erwartung verbunden war, dass diese auch zum Begräbnis kommen werden.

Unsere Eltern setzten ein gutes Begräbnis noch mit einer möglichst großen Anzahl von Trauergästen gleich. Hatten nicht alle in der Kirche Platz, dann galt es als besonders gelungen. Wir dagegen wollen auf eine Bestattung im engsten Kreis von Freunden und Angehörigen. Dieser Wandel markiert eine entscheidende Bruchlinie in unserem Lebens- und Gesellschaftsverständnis. Dass früher eine möglichst große Anzahl von Trauergästen von Bedeutung war, das wurde nicht allein als Ehrerweisung den Toten gegenüber verstanden. Vielmehr ging es auch um Verpflichtungen, die sich auf die nachfolgenden Generationen übertrugen. Eine Bestattung im engsten Freundes- oder Familienkreis ist in einer Gesellschaft konsequent, in der die sozialen Bindungen erodieren. Nicht zufällig verliert das allgemeine Totengedenken etwa zu Allerseelen an Bedeutung, der Ort, an dem die Asche Verstorbener deponiert wird, muss nur noch bedingt ein Friedhof sein muss.

Ein relativ frühes Beispiel für die individuelle Ausgestaltung des eigenen Begräbnisses findet sich bei Bertold Brecht. Drei Jahre vor seinem Tod schrieb der Dichter an seine Frau Helene Weigel: „Ich bitte Helli, folgendes zu veranlassen: 1) daß der Tod sichergestellt wird, 2) daß der Sarg aus Stahl oder Eisen ist, 3) daß der Sarg nicht offen ausgestellt wird, 4) daß er, wenn er ausgestellt werden soll, im Probenhaus ausgestellt wird, 5) daß weder am Sarg noch am Grab gesprochen, höchstens das Gedicht An die Nachgeborenen verlesen wird, 6) daß die Totenwache, wenn eine solche gewünscht wird, nur von Schauspielern gehalten wird, 7) daß keine Musik gespielt wird, 8) daß das Grab im Garten in Buckow oder im Friedhof neben meiner Wohnung in der Chausseestraße liegt und nur den Namen Brecht auf einem Stein hat. Danke, Helli! brecht November 1953 Berlin.“

Die Pluralisierung und Partikularisierung der Gesellschaft spiegelt sich in neuen städtischen Friedhofsanlagen, die als Park- bzw. Naturlandschaften erscheinen. Da finden sich Bereiche für totgeborene Kinder, Rasenflächen für anonyme Bestattungen, waldähnliche Landschaften mit Urnengräbern, Gemeinschaftsgrabfelder von Aids-Toten oder einen „Garten der Frauen“ im Geiste der Frauenbewegung. Es entstehen „gruppenspezifische Miniaturlandschaften“, die deutlich machen, dass nicht länger die Familienzugehörigkeit von Bedeutung ist, sondern jene soziale Gemeinschaft, der sich der Verstorbene zu Lebzeiten zugehörig fühlte. Darin spiegelt sich ein grundlegender soziographischer Wandel, der deutlich macht, dass der heutige Mensch seine Identität weniger familiären oder nachbarschaftlichen Beziehungen als subkulturellen Orientierungen verdankt.

Die von Malinowski beschriebenen Trobriander feierten die Rückkehr der Ahnengeister. Diesen bereiteten sie Speisen zu. Hatten die Ahnen nach einer gewissen Zeit den geistigen Gehalt dieser Speisen aufgezehrt, so brachte man das Essen Nachbarn, von denen es tatsächlich gegessen wurde. Die Nachbarn ihrerseits machten es ebenso, so dass jeder, der Totengerichte weiterreichte, selbst solche verzehrte. Es würde hier zu weit führen, die höchst komplizierten Regeln eines solchen Austausches genauer zu beschreiben. Dieses Beispiel bringt jedoch deutlich zum Ausdruck, dass wir es mit mehreren Achsen zu tun haben. Auf einer vertikalen Ebene geht es um das Verhältnis von Lebenden und Toten, auf der horizontalen Ebene um das Verhältnis zwischen Lebenden. Die vertikale Achse bezieht sich zudem noch auf künftige Generationen. In solchen Vorstellungen wirken die Toten, die zumeist als ambivalent betrachtet wurden, unmittelbar in die Welt der Lebenden hinein und müssen deshalb genährt, zumindest befriedet werden. Reste solcher Vorstellungen haben sich bis in die jüngste Vergangenheit auch in heimischen Bräuchen erhalten. So war es mancherorts üblich, Verstorbenen zu Allerseelen Nahrung auf das Fensterbrett zu stellen. Beim oben erwähnten Brauch der Trobriander, Knochen aus der Leiche herauszulösen und auszusaugen, handelte es sich zum einen um eine Verpflichtung dem Toten gegenüber: „Wir saugen seine Knochen aus, hat uns der Vater doch genährt und mit Leckerbissen gefüttert, hat er doch die Hand aufgehalten, um unsere Exkremente aufzufangen, ertrug er es doch, urinierten wir auf seine Knie.“ Aber bereits die Verteilung der Knochen verweist auf Verpflichtungen den Lebenden gegenüber. Die Kinnlade etwa stand der Witwe zu. Dass die Witwe strengsten Tabus unterlag und in ihrem Haus über lange Monate in einen kleinen Käfig auszuharren hatte, nur im Flüsterton sprechen, keine Speisen oder Getränke mit ihren Händen berühren durfte, sei hier nur am Rande erwähnt.

In unserer aufgeklärten Welt haben wir dank zahlreicher Dienstleister den Tod zu einem Trauerfall gemacht, der oft nur noch mit einem einzigen Termin verknüpft ist. Dem modernen Menschen ist es gelungen, Sterben und Tod nahezu vollkommen zu befrieden. Wie sehr sich frühere Vorstellungen aufgelöst haben, macht etwa deutlich, dass es heute kein Tabu mehr darstellt, wird in Krematorien die bei der Verbrennung anfallende Abwärme genutzt, etwa für die Beheizung von Verwaltungsgebäuden. Dies wäre noch vor wenigen Jahrzehnten völlig undenkbar gewesen und hätte wohl nicht weniger Abscheu erregt als die Vorstellung, Gemüse zu essen, welches auf einem Totenacker gepflanzt wurde. Wird heute die Abwärme genutzt, die bei der Verbrennung von Leichen in Krematorien anfällt, so wird nicht einverleibt. Es wird nicht verzehrt. Wärme ist neutral, geschichtslos. Verbrennung wird mit Reinigung assoziiert. Darin klingt die alte Vorstellung von der läuternden und verwandelnden Kraft des Feuers an. Die Nutzung der Abwärme von Krematorien ist in einer Zeit konsequent, in der sich die fossilen Energiereserven erschöpfen. Der moderne Mensch, hemmungslos im Umgang mit Ressourcen, übt sich als Abfallvermeider und betrachtet seinen Körper als Recyclingobjekt.

Letztlich ist es uns gelungen, den Tod und die Toten abzuschaffen. Wie kein anderer hat dies Baudrillard auf den Punkt gebracht. Er schreibt, den Toten sei nicht länger ein Ort oder eine Zeit zugewiesen, sie seien unauffindbar, so sehr zusammengedrückt, dass sie sich in Luft auflösen würden: „Wenn der Friedhof nicht mehr existiert, so deshalb, weil die modernen Städte als Ganze diese Funktion übernommen haben: sie sind tote Städte und Städte des Todes. Und wenn die große, operationale Metropole die vollendete Form einer ganzen Kultur ist, so ist die unsere ganz einfach eine Kultur des Todes.“

Während wir die Toten Dienstleistern überlassen, hat die Beschäftigung mit dem Tod Konjunktur, was nicht zuletzt zahllose Publikationen zum Thema belegen. Wie erwähnt, lassen sich manche bereits zu Lebzeiten eine Urne nach ihren Wünschen anfertigen. Eine kräuterkundige Freundin bestellte sich bei einem Tischler einen Sarg, den sie bis zu ihrem Tod als Kräutertruhe nutzen will. Es versteht sich von selbst, dass sie auf Kräutern gebettet begraben werden will. Warum sich nicht zumindest das Totenhemd, das Hemd ohne Kragen, selbst anfertigen, sich mit Leinanbau beschäftigen und aus Flachs ein Gewebe herstellen? Dieses dann selbst zuschneiden, nähen – um für den Tod, für das Krematorium gerüstet zu sein. Allein ein kurzer Blick auf solche Wünsche, die ich in den letzten Jahren erlebte, ist ernüchternd. Da wird das bereitgelegte Totenhemd missachtet, dort fotografiert nicht der bestellte Fotograf, sondern die Polizei den bis in das kleinste Detail durchdachten Selbstmord. Einer meiner Freund hat seinen Körper der Anatomie vermacht. Ein Jahr vor seinem Tod ließ er sich bestens ausgeleuchtet auf einem Sektionstisch liegend ablichten. Ganz anders als er es sich gedacht hatte, verwandelte ihn der Tod in ein namenloses Objekt. Keiner der Medizinstudenten, die sich an seinem Körper üben werden, wird auch nur eine Sekunde an Geschichte und Leistungen dieses Menschen denken.


Photo: Bernhard Kathan

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