Engel sind keine Liebhaber
 |
|
 |
Flügelaltäre lassen an miniaturisierte Häuser oder an Schreine denken. Sie
organisieren die Bildabfolgen in einem architektonischen System. Jedes
sichtbare Bild verweist auf andere Bilder, und dies auch dann, sind diese im
Augenblick verborgen. Die einzelnen Abbildungen lassen sich - je nach Anlaß
und dem Kirchenkalender entsprechend - öffnen oder schließen. Während die
Flügelaltäre in den Kirchen ihren natürlichen Ort hatten, befinden sie sich,
einmal ins Museum gebracht, an einem Ort, für den sie nicht gemacht sind und
an dem sie nicht länger funktionieren können. In das Museum darf die äußere
Welt nicht hereinreichen. Die eigentlichen Fenster des Museums sind
verdunkelt, die Wände weiß, das Licht soll von der Decke kommen. Um die
Objekte und Bilder zur Geltung zu bringen, um ja nicht davon abzulenken, ist
alles Umfeld neutral; selbst die Fußböden. Die Bilder sollen die
eigentlichen Fenster des Museums sein. Es stellt sich allerdings die Frage,
ob sie in dieser gereinigten Umgebung nicht blind werden.
In vielen Museen finden sich spätmittelalterliche
Verkündigungsdarstellungen. Nicht wenige von ihnen sind als Relikte eines
ehemaligen Flügelaltares zu erkennen. Im Innsbrucker Ferdinandeum ist eine
dieser Verkündigungsdarstellungen zu sehen, welche durch die Art der Hängung
den Bruch zwischen dem ursprünglichem Kontext und dem heutigen Umfeld auf
frappierende Weise deutlich macht. Es handelt sich um eine zweiteilige
Verkündigungsszene aus dem Jahre 1510. Sie wird Nikolaus von Brixen
zugeschrieben. Bei den beiden Bildtafeln handelt es sich um Relikte eines
Flügelaltares. Die Verkündigungsszene war nur sichtbar, waren die Flügel des
Altares geschlossen. In der Ordnung des Museums hängen diese beiden Tafeln
zwar richtig, sie hängen aber falsch, geht man vom Bildinhalt und den
Lösungen des Künstlers aus. Um zu verstehen, weshalb dieses Bild falsch
hängt, ist es notwendig, die Raumgeschichte dieses Gemäldes genauer
betrachten.
Die Verkündigung gehört zu den bekanntesten und beliebtesten Motiven des
Spätmittelalters. Es wird eine Geschichte erzählt, die damals den meisten
Menschen sehr vertraut war. Die Protagonisten, der Engel, Maria und der
Heilige Geist - meist in Form einer von oben herabschwebenden Taube - sind
bekannt. Die Geschichte hat einen Anfang und ein Ende, die Bewegungsrichtung
ist eindeutig. Innerhalb dieses festgefügten Rasters aber tun sich
zahlreiche Möglichkeiten auf, die Geschichte zu erzählen, nicht zuletzt mit
Hilfe des dargestellten, des der Erzählung unterlegten architektonischen
Raumes. Das verwundert nicht, bildet die Szene der Verkündigung doch eine
Schwellenszene: sie vermittelt Innen und Außen, sie bringt Geben und
Empfangen in ein räumliches Verhältnis. Nahezu immer ist auf diesen
Abbildungen Maria in einem Innenraum zu sehen, zumindest aber einem Haus
zugeordnet. Ebenso wie ihr Körper ein Gefäß bildet, nimmt auch das Haus sie
auf.
In der Regel tritt der Erzengel Gabriel von links nach rechts ins Bild (die
Verkündigungsdarstellungen von El Greco wie jene des Isenheimer Altares
seien als Ausnahmen genannt). Bezeichnet die linke Seite das Verborgene, so
bewegt sich der Engel aus der Welt des Verborgenen in die Welt des
Sichtbaren. Entscheidender dürfte aber die abendländische Schrift und somit
die Lesart von links nach rechts sein. Maria ist Produkt des Wortes, der
Schrift, was nicht nur die vielen Bezüge auf das alte Testament belegen,
sondern auch Schriftbänder deutlich machen, die auf manchen
mittelalterlichen Darstellungen zu sehen sind. Nicht zufällig ist Maria oft
als Lesende, zumindest mit einem Buch abgebildet. Im Idealfall liest Maria
genau jene Stelle aus Jesaja, die sich wörtlich bei Matthäus, bei Lukas als
Verweis findet: "Ecce virgo concipiet et pariet Filium et vocabitur nomen
eius Emmanuel. Butyrum et mel comedet ut sciat reprobare malum et eligere
bonum.» ["Seht, das junge Mädchen wird empfangen und einen Sohn gebären und
seinen Namen Immanuel nennen. Von Dickmilch und Honig wird er sich nähren,
bis er versteht, das Böse zu verwerfen und das Gute zu wählen."]
Selbst dann, wenn Gabriel die Schwelle übertreten hat, nie kommt es zu einer
Berührung, nie ist der Engel Gast, nie wird er Teil des Hauses. Maria ist
passiv, sie blickt zu Boden oder in ein Buch, in ihrer Haltung ist sie
buchstäblich empfangend. Sie blickt bestenfalls in Richtung des Engels,
nicht selten in einen indifferenten Raum. (Wirkliche Zwiesprache zwischen
den beiden taucht erst während des Barock auf, so wie die Betonung ihres
Unterleibes, damit die Deutung des Geschehens als biologisches.)
Entscheidend ist das Ohr. In früheren Jahrhunderten haben sich die Menschen
diese Empfängnis durch das Ohr sehr bildlich vorgestellt, was selbst in die
Vorstellung münden konnte, Jesus sei durch das Ohr geboren worden. Die
Blicke der beiden begegnen sich nicht. Ein Engel ist kein Liebhaber. Er
bringt die Botschaft, er ist nichts als Botschaft. Ist die Botschaft
ausgesprochen, gibt es ihn nicht mehr. Zwischen beiden Figuren bleibt einen
tiefe, unüberbrückbare Kluft bestehen. Auch hier bedient sich die
symbolische Umsetzung sehr oft eines architektonischen Elements, nämlich der
Säule. Sie lässt das Bild nicht nur in zwei Felder zerfallen, sondern bildet
zugleich ein verbindendes Scharnier. Über diese Schwelle hinweg ereignet
sich Unvorstellbares. Eine Frau wird schwanger, obwohl sie mit keinem Mann
geschlafen hat. Die Säule kaschiert den Schnitt, sie wird zur
architektonischen Metapher einer Trennung.
Auch in der Verkündigung im Innsbrucker Ferdinandeum ist eine "Säule" von
Bedeutung. Die beiden Tafeln sind schmal, auf den ersten Blick unscheinbar
gerahmt. Beide Tafeln sind etwa 5 cm voneinander entfernt an der weißen Wand
des Museums gehängt. Auf der linken Tafel ist der Erzengel Gabriel zu sehen.
Er steht im Zwischenbereich zwischen Innen und Außen. Maria hingegen
befindet sich im Hausinneren, im Zentrum der rechten Tafel. Die Leserichtung
- von links nach rechts - angedeutet auch in der Schleife mit dem Schriftzug
im linken Bild, setzt die beiden Figuren zueinander in Beziehung. Der eben
eingetretene Engel, der Überbringer der Botschaft, spielt den aktiven,
Maria, Empfängerin der Botschaft, des Kindes, den passiven Part. Der Engel
schlägt die Augen auf, Maria schlägt sie nieder. Die Architektur des Hauses
vermittelt zwischen beiden Figuren. Die Musterung des Fußbodens setzt sich
von einem Bild ins andere fort. Beide Figuren stehen auf demselben Boden,
oder anders ausgedrückt: beide Figuren sind durch ein räumliches Kontinuum
in dieselbe Handlung eingebunden. Fast könnnte es scheinen, als ob beide
Figuren im selben Raum stünden. Dennoch zerfällt der Gesamtraum in zwei
gegensätzliche Räume. Dem Engel ist eine Tür, Maria ein Fenster zugeordnet.
Er durchschreitet eine Tür, sie blickt bestenfalls hinaus.
Die Rahmung von Flügelaltären stellt dann eine grundlegende Schwierigkeit
dar, wenn der Rahmen mehr als Umrandung sein soll, sondern Übergang von
einem Bild zum anderen. Auch Comics kennen keine schweren Rahmen,
erschwerste dies doch den Sprung von Bild zu Bild. Im Comic wird mit Hilfe
von Linien gerahmt. Sie schaffen Ausschnitte und organisieren das
dargestellte Geschehen als Ablauf. So wie der Schnitt im Film bleibt die
Rahmung, obwohl ihr eine wichtige Funktion zukommen, für das lesende Auge
nahezu unsichtbar. Die letzte Schausseite, die dann zu sehen ist, sind die
Flügel des Altares geschlossen, ist in der Regel durch die in der Mitte
vertikal verlaufenden und sich überlagernden Rahmenleisten durchbrochen.
Dies ist unproblematisch, sind auf den beiden Tafeln etwa zwei
Heiligenfiguren abgebildet. Ganz anders verält es sich, dienen die beiden
Tafeln zur Darstellung einer Szene.
Nikolaus von Brixen war sicher so sehr dem Handwerk verpflichtet, dass er
sich die Umsetzung auch von einer sehr pragmatischen Seite vorstellte.
Vermutlich überlegte er sich, wie sich auf der äußersten Schauseite trotz
des in der Mitte vertikal verlaufenden Rahmens eine einheitliche Szene
darstellen lässt. Seine Lösung ist überzeugend. Das technische Problem deckt
sich in idealer Weise mit der inhaltlichen Struktur der Szene. Das vertikale
Rahmenelement ersetzt die Säule, ist also inhaltlich in das Bild selbst
integriert. Wir haben zwar zwei getrennte Bildfelder, dargestellt ist aber
eine in sich geschlossene Szene. Wohl kein zweites Motiv hätte sich
angeboten, dieses Problem so elegant zu lösen. Diese Lösung machte
erzähltechnisch wie theologisch Sinn, ist doch die Verkündigung als Prätext
zu sehen, sei es des letzten Abendmahles, der Kreuzigung wie der
Auferstehung. Im Pseudoevangelium des Jakobus fällt Maria die Aufgabe zu,
mit sieben anderen Jungfrauen einen neuen Tempelvorhang zu nähen. Durch
einen Losentscheid werden ihr Purpur und Scharlach zugeordnet. So ist
bereits das Leiden und Sterben Christi vorweggenommen, zerreißt doch der
Vorhang des Tempels in dem Augenblick, in dem Jesus am Kreuz stirbt. Die
Vertikale findet sich auch in der Kreuzigung, in der Auferstehung, vor allem
aber im Baum des Sündenfalls, auf den in Verkündigungsdarstellungen explizit
Bezug genommen werden kann. Maria als neue, als zweite Eva.
Vom erwähnten Flügelaltar sind nur diese beiden Tafeln im Innsbrucker
Ferdinandeum zu sehen. Sie hängen, getrennt durch einen weißen Spalt,
nebeneinander. Da sie sich nicht wie ursprünglich überlappen, wird der
mittlere Teil des Rahmens in seiner Funktion als Säule, die einen Raum in
zwei Bereiche trennt, nicht erkennbar. Wer immer diese beiden Tafeln so
gehängt hat, dachte wohl nur an die korrekte historische Zuordnung, an die
Wirkung im Museum. Da benötigen Bilder Abstand. Aber das Spannende dieser
Arbeit ist so nicht mehr zu erkennen. Wir haben es nur noch mit zwei
Bildtafeln zu tun, die bestenfalls der Kunstinteressierte zuzuordnen weiß.
Von Interesse in diesem Zusammenhang sind Verkündigungsdarstellungen, die
als Doppelporträt gestaltet sind, so wie die um 1770 entstandene
Verkündigung des Bartolomeo Altomonte in Stift Wilhering. Zwar eine Szene,
aber zwei gerahmte Bildtafeln, die durch einen Zwischenraum voneinander
getrennt sind. Da im Hintergrund der beiden Protagonisten nur eine Wolke
angedeutet ist, die sich von links nach rechts, also in Richtung Maria zu
schieben scheint, sind die beiden "Personen" in einem gewissen Sinn
freigestellt, herausgelöst aus Raum und Zeit, aus dem Alltag. Die Lilie, die
Gabriel in seiner Rechten hält, ist nichts als Zeichen, welches Marias
Keuschheit und Makellosigkeit bezeichnet. Das gilt auch für das vor Maria
aufgeschlagene Buch. Die Blicke der beiden sind aufeinander bezogen, noch
mehr die Hände. Gabriels Rechte, welche den Lilienstab an Maria heranführt,
findet ihr Gegenstück in deren rechter Hand, mit der sie auf ihr Herz, auf
sich selbst verweist. Die beiden linken Hände sind dagegen geöffnet und
treten in eine Art Zwiesprache, die an ein mesmersches Experiment denken
lässt. Mühelos kann man sich Strahlen vorstellen, die von der einen Hand
ausstrahlen, von der anderen empfangen, aufgenommen werden. (Auf Abbildungen
von mesmerschen Experimenten, die in dieselbe Zeit fallen, sind die Strahlen
manchmal dargestellt.) Der Abstand zwischen den beiden "Porträts", an den
Bartolomeo Altomonte dachte, ist durch die Linienführung der Wolke im
Hintergrund vorgegeben. Zweifellos dachte er an einen schmalen Zwischenraum.
Eine bemerkenswerte Verkündigungsdarstellung findet sich in der
Porträtsammlung von Schloss Ambras. Das 1605 von Juan Pantoja de la Cruz
geschaffene Gemälde zeigt die Erzherzogin Margarete, Königin von Spanien als
Maria, deren Tochter, die Infantin Anna, als Erzengel Gabriel. In einer Art
Deckgeschichte wird das biblische Motiv aufgegriffen, um die Geburt des
Thronfolgers anzukündigen. Anna verweist mit ihrer rechten Hand auf den
Heiligen Geist, der in Gestalt einer Taube über dem Haupt ihrer Mutter
schwebt. In der rechten oberen Ecke des Gemäldes ist in den Wolken Gott
Vater zu sehen, der das Geschehen zu segnen scheint. Ikonographisch
entspricht diese Verkündigungsdarstellung der Zeit, allerdings bis auf einen
entscheidenden Unterschied: Die Blicke der beiden gelten dem Betrachter des
Bildes. Es finden sich zwar bereits früher Verkündigungsdarstellungen, in
der eine Königin als Maria dargestellt ist, so etwa Anna de Bretagne als
Heilige Maria mit ihrem zweiten Gatten, dem französischen König Ludwig XII.,
als Erzengel Gabriel, aber um Porträts im eigentlichen Sinn handelt es sich
dabei nicht.
Das Museum betont die Rahmung, die durch die weiße Wand noch eine Steigerung
erfährt. Alles, was in solchen Räumen zu sehen ist, wurde vollkommen aus
seinem ursprünglichen Kontext gelöst. Letztlich wird dadurch jedes Bild
selbstreferenziell, es kann nur noch auf sich, bestenfalls auf andere
Bilder, die in einem kunst- bzw. kulturhistorischen Kontext zu deuten sind,
verweisen. Mit Hilfe der weißen Wand hebt sich das Bild von einem scheinbar
absolut neutralen, letztlich hygienischen Umfeld ab. Ähnlich wie in der
Medizin alle Bedrohungen im Umgang mit Krankheit, Sexualität und Tod vor
allem dadurch beherrscht werden, indem das Wahrnehmbare in einen engen
Rahmen gefügt wird, so wird im Museum durch die extreme Rahmung jede
Erinnerung an die eigene lebens- und kulturgeschichtliche Erfahrung, die ein
Geheimnis zulassen könnte, gelöscht. Durch die Rahmung wird das Bild zwar
inszeniert und betont, letztlich droht es gerade dadurch trivial zu werden,
droht sich dadurch sein Inhalt zu verschließen.
Vor zweitausend Jahren hatten die wenigsten Menschen Schwierigkeiten, sich
eine jungfräuliche Empfängnis vorzustellen. In vielen vorchristlichen
Kulten, deren Bilder auch Eingang in christliche Mythologien gefunden haben,
spielen ähnlich mysteriöse Ereignisse eine große Rolle. Im Zeitalter der
Reproduktionsmedizin wirken solche Vorstellungen befremdend. Im Sinne einer
historischen oder biologischen Wahrheit ist Mariens jungfräuliche Empfängnis
falsch; nicht jedoch, wenn man den metaphorischen Gehalt der biblischen
Überlieferung betrachtet. Im metaphorischen Kern geht es um das
Ineinandergreifen des Menschlichen mit dem Göttlichen, des Verstehbaren mit
dem, was nicht verstanden werden kann. So lassen sich
Verkündigungsdarstellungen als Metaphern für das Museum betrachten. Und dies
nicht, weil Kunst dem Göttlichen zuzuordnen wäre, auch nicht, weil das
Museum Funktionen des Sakralraumes übernommen hat, sondern einzig deshalb,
weil uns jedes Bild, auch dann, wenn es uns berührt, letztlich daran
erinnert, dass uns vieles unverständlich und fremd bleiben muss.
Theologen der Scholastik konnten sich mit der Frage beschäftigen, "quo modo
Maria de Spiritu sancto concepit", also auf welche Art und Weise Maria durch
den Heiligen Geist empfangen konnte. Solche Sophistereien wie Traktate
heutiger Theologen, die aus Verkündigungsdarstellungen, mögen sie auch
betonen, mit Freud und Marx lasse sich das Geheimnis nicht fassen, eine
"knisternde Erotik" herauszulesen meinen, seien der Kulturwissenschaft
überlassen: "Der Blick des Gabriel zeigt dort seine Begierde allzudeutlich,
weil er die junge, dem Flirten durchaus aufgeschlossene Maria förmlich
‚aufsaugt'. Aber auch Maria senkt ihren Blick nicht zurück; im Gegenteil:
geradezu kokett richtet sie ihn auf die Leistengegend des göttlichen Boten!"
Geradezu absurd lesen sich Texte, die allen Ernstes bemüht sind, mit dem
Wissen der Biologie die Möglichkeit einer jungfräulichen Empfängnis in
Abrede zu stellen.
Gleichzeitig lohnt sich die Beschäftigung mit dem Verkündigungsmotiv vor dem
Hintergrund der heutigen Reproduktionsmedizin, die das Wort bzw. Zeichen
buchstäbdlich Fleisch werden lässt, in der Schwangerschaft und Geburt jedes
Mysterium verloren haben, die den Menschen zu einem planbaren Produkt macht,
dessen Existenz sich letztlich der Ökonomie verdankt. Jede Frau, die heute
schwanger wird, ist bereits befleckt. Heute produziert die Medizin Reinheit,
indem sie mögliche Erkrankungen oder Defizite von vornherein auszuschließen
bemüht ist. An die Stelle der Verkündigung sind diagnostische Verfahren
getreten. Was wäre geschehen, wäre der Gottessohn als Krüppel auf die Welt
gekommen, entstellt durch eine Hauterkrankung, geplagt von der Fallsucht
etc. Es würde sich lohnen Verkündigungsdarstellungen vor dem Hintergrund der
heutigen Medizin zu betrachten, die Ausstattung von Räumen, Handbewegungen
und Blicke zu untersuchen. Man denke etwa an Einverständniserklärungen, die
heute angehende Mütter zu unterschreiben haben. Eine jungfräuliche Geburt,
also die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, die Möglichkeit einer
Schwangerschaft, ohne mit einem Mann verkehrt zu haben, ermöglicht die
moderne Reproduktionsmedizin. Was Maria als neue Eva betrifft, sei auf
Villiers de l'Isle-Adams "Edisons Weib der Zukunft" aus dem Jahr 1909
verwiesen. Davon an anderer Stelle.
Bernhard Kathan, 2012