"Fahren, saufen, kotzen, schlafen"
Die Wehrmacht als Reiseunternehmen und die Abschaffung des Mitgefühls
Drei Männer unterhalten sich an einem See. Abendstimmung. Eine geradezu
idyllische Szene. Die Aufnahme entstand um 1980. Derselbe See, dieselbe
Gegend, vierzig Jahre früher. Zwischen zerstörtem Kriegsgerät in Gräben
Pferdekadaver und Tote. Eine große Gruppe russischer Kriegsgefangener.
Einige von ihnen tragen notdürftige Verbände. Sie wirken alle sehr
erschöpft, apathisch. Einzig im Vordergrund kümmert sich einer der
Gefangenen um das Bein eines seiner Kameraden. Im Hintergrund, in deutlicher
Distanz, Soldaten der Wehrmacht.
Die drei abgebildeten Männer, ehemalige Wehrmachtsangehörige, befinden sich
auf einer Veteranenreise durch Finnland. Im Nachlass des Mannes mit den
grauen Haaren, nennen wir ihn Walter Gruber, fanden sich etwa 300 Farbdias,
die während es Zweiten Weltkrieges in Finnland aufgenommen wurden,
Kriegstagebücher und Feldpostbriefe, mehrere Filmrollen, die seine Reisen an
die ehemaligen Kriegsschauplätze dokumentieren.
Fotos gelten als objektive Dokumente. Sie können es sein, aber letztlich
sagen die meisten während des Krieges aufgenommen Fotos wenig. Dies gilt
etwa für viele der Landschaftsaufnahmen, die sich im Nachlass fanden, sich
nun aber nicht mehr zuordnen lassen, oder für Aufnahmen von Appellen. Solche
Appelle fanden überall auf recht ähnliche Weise statt. Man fragt refelxartig
nach dem, was nicht fotografiert wurde. Etwas ähnliches lässt sich auch über
Feldpostbriefe oder Kriegstagebücher sagen, allerdings mit einem wichtigen
Unterschied. Im Gegensatz zu Fotos geben Tagebücher Auskunft über
Befindlichkeiten. Sind sie mit Orts- und Zeitangaben versehen, dann sind sie
beredt selbst hinsichtlich von Dingen, die nicht erwähnt, womöglich bewusst
ausgeblendet bleiben. Mehr noch, gerade weil Erfahrungen, insbesondere dann,
wenn sie schuldhaftes Verhalten tangieren, in der zeitlichen Distanz zu
Geschichten gerinnen, in denen Konflikte und Widersprüche weitgehend
aufgehoben sind, bilden Kriegstagebücher wie Feldpostbriefe ein wichtiges
Korrektiv der Erinnerung.
Am 30.7.1944 notiert Gruber: "In die Kaserne gehen, ärgern wegen
verschlafen, Rest verpacken, Marschverpflegung einpacken, Gepäck verladen,
zum Bahnhof marschieren, einsteigen, 13h Abfahrt über St. Veit (Aufenthalt,
Bier, Speci), dann Knittelfeld, Aufenthalt, dann Bruck, ausgehen, in 3
Cafés, blödeln bis 12h, dann schlafen, weiterfahren bis Wiener Neustadt
(grosse Zerstörung) dann weiter nach Stadlau (ein Tagebuch gekauft) dann
weiterfahren, nach Strasshof, Tagebuchschreiben, essen, weiterfahren nach
Katowitz, das Volk jubelt uns zu, alles winkt und schreit, Ankunft in
Katowitz, schlafen, abends debatiert, morgens aufstehen in Tarnowitz, den
ganzen Tag stehen, 14h30 Abfahrt in Tarnowitz, ausserhalb von Tarnowitz
stehen, Wasser holen mit Karli, dann raufen, weiterfahren über Bromberg
(schlafen) nach Praust und Pelplin, blödeln." Gruber hat einen Marschbefehl
in der Tasche. Er ist auf dem Weg nach Finnland. Im Gegensatz zu den meisten
Fotos aus seinem Nachlass lässt sich zu dieser Tagebucheintragung einiges
sagen. Es lässt sich etwa entnehmen, dass die Bahnverbindungen bereits im
Sommer 1944 nur noch eingeschränkt funktionierten. Immerhin dauerte die
Fahrt von St. Veit an der Glan bis nach Danzig vier volle Tage. Und legt man
Daten und Orte übereinander, dann bedarf es keiner langen Recherchen, um zu
wissen, dass nur kurz zuvor hunderttausende ungarischer Juden, zum Teil auf
denselben Schienensträngen, nach Auschwitz deportiert worden waren, in
geschlossenen Waggons, ohne Trinkwasser, zumeist der letzten Habseligkeiten
beraubt.
Wenige Tage nach dem Beginn des Warschauer Aufstandes befindet sich Gruber
auf der Durchreise: "Die Fahrt war ganz schön. Heute ist besonders schönes
Wetter. In Danzig wollen wir baden gehen. So komme ich durch das Paras zum
3. Meer." Die Ereignisse in Warschau, undenkbar, dass er nichts davon
mitbekommen hat, erwähnt Gruber mit keinem Wort. Er freut sich auf das Meer,
denkt ans Baden. Tatsächlich geht Gruber in Danzig baden, er geht ins Kino,
schaut sich Sehenswürdigkeiten an, sitzt in Cafés, flirtet mit Mädchen,
unternimmt mit einem Mädchen eine Dampferfahrt, ganz wie im Urlaub, der nur
kurze Zeit durch englische Flugzeuge gestört wird, die Bomben auf den
Danziger Hafen werfen. Das Bombardement findet Gruber bestenfalls als
lästig. Die Urlaubsstimmung wird durch anderes getrübt: "Ein schlechtes Volk
hier in Danzig. Huren auf Schritt und Tritt." Dass sich wohl manche dieser
Frauen auf der Flucht befanden, das sieht Gruber nicht, zumindest erwähnt er
es nicht. Blättert man im Tagebuch nur einige Seiten zurück, dann findet
sich folgender Eintrag, den Gruber nach einem Abend in einem Café in Triest
notiert hat: "Geile Jazz Sängerin, fesch, gute Stimme und Gestalt, wenn man
nur Lire hätte."
Wenige Tage vor der erwähnten Fahrt, vielleicht waren es zwei Wochen früher,
wurde der vierzehnjährige Imre Kertész nach Auschwitz deportiert. Später, er
hatte eben Luise Jodls Autobiographie gelesen, stellt er sich die Frage, was
denn die deutsche Bevölkerung gewusst haben könnte. Er kommt zum Schluss,
solange es die Norm sei, dass man Menschen enteigne, terrorisiere, zu
Soldaten mache, ins Gefängnis stecke, ihren Konsum beschränke, ihnen nichts
zu essen gäbe und ihre Häuser bombardiere, "kurzum, solange das ganze Leben
unnormal ist, solange fügen sich unnormale Erscheinungen ohne weiteres ein
in die natürliche Ordnung des Unnormalen." In einer solchen Ordnung gerät
Schwerwiegendes schnell mit völlig Banalem durcheinander: "Nie viel los.
Wenig Soldaten, öfters Alarm. Am Samstag 54 Schuss verfehlt auf 3 Banditen.
Den Stützpunkt in Casari zum 3. Mal ausgehoben. Donnerstag Marketenderware
bekommen, kein Geld mehr. Pistole gekauft, mit Fritz und Hauptfeldwebel am
Samstag etwas feiern, bis ˝ 1h. Am Sonntag zum Fussball zuschauen. Postunia
gegen II. Bataillon 2 : 6. Dann heim, zu Fritz, schlafen."
Grubers Tagebücher zeugen von einem zunehmenden Wirklichkeitsverlust,
genaugenommen von einer Wirklichkeitsverzerrung. Noch im Spätherbst des
Jahres 1944 glaubt er an den baldigen Endsieg. Dabei war er bereits durch
zerstörte Städte gefahren, hatte er manchen Fliegerangriff, und zwar nicht
nur an der Front, erlebt, "1100km Rückmarsch" in Finnland hinter sich. Das
Haus seiner Eltern in Klagenfurt war längst durch einen Bombentreffer
beschädigt, und in den Räumen, die sich noch belegen ließen, waren
"Bombenfrischler" einquartiert.
Erst wenige Tage vor dem Zusammenbruch notiert Gruber, "die Kriegslage ist
verheerend". Der hier angesprochene Wirklichkeitsverlust verdankt sich nicht
zuletzt einer systematischen Desinformation, in der das Kino eine wichtige
Rolle spielt. In den letzten Kriegsmonaten erwähnt Gruber über dreißig
Kinofilme, durchwegs Komödien, etwa Willi Forsts "Frauen sind keine Engel"
aus dem Jahr 1943. Nicht selten lesen sich die Filmtitel, denken wir an das
Kriegsgeschehen, als geradezu grotesk. Am 29.3.1945 besucht Gruber einen
"Heldenfriedhof" und geht dann ins Kino, um sich den Film "Vom Schicksal
verweht" anzuschauen. Andere Filmtitel: "Der dunkle Tag", "Die große Liebe",
"Seine beste Rolle", "Leichte Muse", "Ein Mann auf Abwegen", "Frau meiner
Träume", "Die keusche Geliebte", "Liebespremiere", "Männerwirtschaft".
Obwohl immer wieder von vermissten oder gefallenen Kameraden die Rede ist,
findet sich in den Tagebüchern kaum ein Tag ohne "blödeln", so als gälte es,
die nüchterne Wirklichkeit von sich fern zu halten. Es wird viel Alkohol
getrunken. Tage können mit der Eintragung enden: "Saufen, kotzen, schlafen."
Aber immerhin erwähnt Gruber das Gefühl zunehmender Dumpfheit: "Ein Sonntag
matter wie der andere, man lebt so dahin."
Gruber befindet sich im Krieg, seine Tagebücher lassen aber eher an
Reiseliteratur denken: "Laibach ist eine herrliche Stadt. Irrsinnig fesche
Mädchen [...] Einer deutschen Frau würden die Augen übergehen und sie müsste
vor Sehnsucht sterben, wenn sie die vielen schönen Sachen sehen würde
(Pelzmäntel 10.000 Lire, Kleider, Schuhe etc.)." / "So schauen wir uns jeden
Tag was an und sparen so unser Geld, morgen werde ich ja wieder viel sehen,
so lerne ich langsam den neuen Staat hier kennen. Im Juni geht es nach
Norden, so war ich bald in allen Ecken in Europa wo ich als Zivilist wohl
schwer hingekommen wäre." / "Sind jetzt in Oulu am bottnischen Meerbusen.
Schöne Stadt, viel Wald, eine Ebene, Kinos, Kaffees, wie in Mitteleuropa!!"
Als ich Grubers Tagebücher las, erstaunte mich nicht zuletzt die viele Zeit,
die er, wie die meisten anderen Wehrmachtsangehörigen, in Zügen verbracht
hat. Dem Krieg geht eine "Mobilisierung", eine "Mobilmachung" voran.
Tatsächlich haben moderne Kriege eine permanente Mobilisierung zur Folge.
Die Wehrmacht war nicht zuletzt ein großes Reiseunternehmen, welches
diesbezüglich über eine komplexe Infrastruktur und Logistik verfügte. Die
meiste Zeit seines Kriegseinsatzes war Gruber unterwegs, zu Fuß, mit dem
Auto, auf LKWs, mit der Bahn, auf Schiffen, ja selbst im Flugzeug. Die
"natürliche Ordnung des Unnormalen", von der Kertész spricht, der Mangel an
Empathie, verdankt sich nicht zuletzt den Perspektiven, mit denen die Welt
wahrgenommen wird. Und hier ist die Mobilität, das ständige Unterwegssein,
von entscheidender Bedeutung.
Wie Richard Sennett schreibt, vermindert die freie Bewegung "die sinnliche
Wahrnehmung, die Erregung durch Orte oder die Menschen an jenen Orten. Jede
starke körperliche Bindung an die Umgebung droht, das Individuum dort
festzuhalten." Und weiter: Wer sich frei bewege, dürfe nicht allzuviel
fühlen. Zwar bezieht sich Sennett auf den modernen Menschen und dessen
Mobilität, aber dies galt auch für die Soldaten der Wehrmacht, die einmal
da, einmal dort eingesetzt wurden, letztlich ständig unterwegs waren. Es war
Kalkül, jede Bindung an den Ort unmöglich zu machen. Grubers Briefe und
Tagebücher belegen dies eindrücklich. Wo immer er ist, sieht man von einigen
Monaten in Laibach ab, wo er Verwandte hatte, er befindet sich an
Nicht-Orten, in Transiträumen. Nicht-Orte befreien den Menschen von allen
gewöhnlichen Fixierungen. Nicht-Orte, so Marc Augé, schaffen eine gemeinsame
Identität jener, von denen sie frequentiert werden. Nicht der Ort war von
Bedeutung, sondern die Organisation, also die Wehrmacht, mit ihrer
Infrastruktur, ihren Regeln, ihren Identifikationsangeboten.
Auffallenderweise spricht Gruber, kehrt er nach einem Ausgang in eine
Kaserne oder ein Soldatenheim zurück, gleichbleibend von "heimgehen", und
dies auch dann, verbringt er an einem Ort nur eine einzige Nacht.
Vergleicht man Grubers Tagebücher und Feldpostbriefe mit anderen, so finden
sich inhaltlich wie formal zahllose Übereinstimmungen. Man denke an die
stichwortartigen Auflistungen, an Abkürzungen, an die Idealisierung der
Mutter wie auch an die "vielen feschen Mädchen." Natürlich gibt es
Feldpostbriefe bzw. Kriegstagebücher, die sich anders lesen, in denen
Schrecken und Scham zum Ausdruck kommen wie etwa im folgenden Feldpostbrief
eines kleinen Bauern, den er aus Russland an seine Frau geschrieben hat:
"Gestern kam ich nicht zum Schreiben. Um ˝ 7h mußten wir alle [Pferde]
einspannen. Heu und Stroh Requierieren in den Dörfern draußen. Das war eine
Arbeit!?! Schlechte Wege und Dreck zum versinken und weit hinaus zu fahren.
Und dann erst den Bauern überall, die Hälfte von dem bisl Heu, was sie
haben, wecknehmen?!? Sie haben ja im Herbst nicht viel, dann erst im
Frühjahr? 2 Fahrzeuge haben Schweine für die Kompanie auf diesen Weg geholt.
Das möcht ich nicht jeden Tag mitmachen!?! Wie viel Elend und Not hatt
dieser unselige Krieg schon gebracht? Und wie viel wird er noch bringen, biß
zum Ende ? - ? Gebe Gott, daß die Menschen von dieser Vernichtungswut bald
ablassen; und sich die Hände zum Frieden reichen möchten ..." Und weiter
unten: "Zur Osterbeicht gibt es keine Gelegenheit hier. Mußt Du Weibele
meine Sünden auch mitnehmen, gell. Sind nicht - wenig - dafür aber -
schwere.-." An welche schweren Sünden er dachte, wissen wir nicht. Aber aus
diesen Zeilen spricht so etwas wie Empathie. Und es versteht sich von
selbst, dass man die Welt anders sieht, sitzt man auf einem Pferdefuhrwerk
statt auf einem Lastwagen oder gar in einem Panzer, dessen Sehschlitz das
Sichtfeld in extremer Weise verengt.
Beim ersten Hinsehen mag man die vielen Ausblendungen in Grubers Briefen und
Tagebüchern auf die Zensur zurückführen. Diese ist von untergeordneter
Bedeutung, verletzt doch Gruber in den Briefen wiederholt diesbezügliche
Bestimmungen, unter anderem das Verbot, aus der Heimat Devisen und Waren
anzufordern, um mit der Bevölkerung der besetzten Gebiete Handel zu treiben.
Während seiner Zeit in Slowenien muss Gruber einen regen Kleinhandel
betrieben haben. Übrigens erwähnt er in den Briefen die diesbezüglichen
Bestimmungen und wie sie zu umgehen sind. In den Tagebüchern werden
Einzelheiten zur Dienststelle, Angaben zu Bewaffnung oder Aufenthaltsort wie
anderes angegeben, mehr noch, namentlich genannte Vorgesetzte können höchst
abfällig kommentiert werden. Sowohl in den Briefen wie in den Tagebüchern
findet sich kein einziger Hinweis auf eine Kritik der
nationalsozialistischen Ideologie. Für die Sprachlosigkeit sind andere
Gründe zu nennen. Sie ist Ausdruck einer (sich auch selbst) erzwungenen
Abhärtung. Gruber bemerkt mehrfach, dass er sich wundere, überhaupt noch
einen Brief zustande zu bringen: "Man ist ein geistiger Kleinrentner
geworden wie er im Buche steht."
Kriegstagebücher dienten in der Regel weniger der Reflexion (darin lassen
sie an die Knipserfotos denken) als dazu, Struktur in sich ständig ändernde
Orte und Bedingungen zu bringen. Dies erklärt auch, warum durchwegs auch
völlig banale Dinge wie etwa das Aufstehen und Essen notiert werden.
Feldpostbriefe wie Kriegstagebücher muss man über die Leerstellen lesen,
also über das, was ihn ihnen keine Erwähnung findet. Bei den Leerstellen
können sich solche des Textes mit solchen der Wirklichkeit decken.
Weihnachten 1944 feiert Gruber in einer kleinen Lappenhütte: "Ein kleines
Bäumlein wurde angezündet und das alte schöne Weihnachtslied von der stillen
heiligen Nacht erklang sicher zum ersten Mal in der Lappensiedlung, wo wir
jetzt an Stelle der Lappen hausen." Da fragt man sich wo die Lappen
geblieben sind. Tagebücher dienen auch der Bilanzierung. Am Ende eines
Tagebuches listet Gruber all die Frauen auf, mit denen er während des
betreffenden Zeitraumes ein mehr oder weniger intensives Verhältnis hatte:
"Denke an Grete und an ‚Was man will das kriegt man nicht und was man kriegt
das will man nicht': Grete, Erika, Hilde, Punkti, Martha 1, Martha 2, Elli,
Agi, Herta, Steffi, Käthe 1, Ilse, Käthe 2, Erni, Christl, Liesl."
Nicht die Toten und Vermissten werden aufgelistet. Tote nähren nicht. Man
muss sie hinter sich lassen. Die jungen Frauen stehen für Gelegenheiten, für
die Zukunft. Sexuelle Erfahrungen sind in einer Art Geheimschrift notiert.
Verständlich, schickte Gruber doch seine Tagebücher, hatte er eines
vollgeschrieben, mit der Feldpost an seine Mutter. An einer Stelle schreibt
er, er sei etwas schlecht gestimmt, habe er in letzter Zeit doch "ziemlich
einige Kumpel verloren". Sie bleiben namenlos.
Auf seiner mehr als drei Wochen dauernden Rückreise im April 1945 von Tromsö
nach Klagenfurt, lernt Gruber neben anderen jungen Frauen auch Elsbeth
kennen, mit der er eine Woche seiner Reise verbringt. Von einer "Reise" kann
nicht mehr die Rede sein. Die Fahrt wird nicht nur immer wieder durch
Fliegerangriffe unterbrochen, die Infrastruktur des Reiseunternehmens
Wehrmacht, die der Versorgung von auf Fahrt befindlichen
Wehrmachtsangehörigen diente, ist bereits weitgehend zusammengebrochen.
Selbstorganisation tritt an die Stelle von Versorgung. Gruber muss
wiederholt im Freien schlafen, sich selbst um sein Essen kümmern. Und fahren
Züge noch, dann befinden sich im Zug "Flüchtlinge, Soldaten, alles kreuz und
quer."
Wie andere der erwähnten Frauen lässt auch Elsbeth an eine
Urlaubsbekanntschaft denken, die keine Bindung kennen wird, und dies trotz
des Umstands, dass die dramatische Rückreise etwas Verbindendes hätte
schaffen können: "17.4.45. Zum Zug Richtung Elsterwerda,
Tieffliegerangriffe, keine Ausfälle, dann Weiterfahren nach Dresden, 2h
Ankunft in Dresden, gleich Alarm, in Keller, Bombenteppiche, 4h Schluss, zu
Fuss durch's brennende Dresden, mit Schwester weiter nach Nieder-Strelitz,
dann mit Bahn nach Pirna, wieder ein Weib, aber Blödsinn, 19h Ankunft in
Pirna, [...] Marschverpflegung, Suppe, dann zurück, Schmuserei mit Elsbeth,
21h Weiterfahrt nach Bodenbach, mit Elsbeth schmusen." Gruber ist auf dem
Weg zu einem anderen Frontabschnitt. Obwohl das Reiseunternehmen nicht mehr
funktioniert und das Kriegsende abzusehen ist, ist er bemüht, sei es zu Fuß
oder per Anhalter, den festgesetzten Termin nicht zu versäumen. Die Geliebte
lässt er zurück.
Gruber muss den Zusammenbruch als massive Kränkung erlebt haben. Im
Nachhinein erweisen sich alle Anstrengungen als sinnlos, mehr noch, alle
Heilsversprechungen platzen wie eine Seifenblase. Gruber versucht mit all
den Widersprüchen umzugehen, indem er - dabei handelt es sich um bekannte
Argumentationsmuster - den Krieg als etwas Naturgeschichtliches betrachtet,
als Ausdruck ständigen Werdens und Vergehens. Alle Schuld liege beim
NS-Regime: "7 Jahre belogen u. betrogen", nicht ohne hinzuzufügen: "Jetzt
geht es wieder gleich weiter, wenn man nur endlich mal seine Ruhe hätte, was
wirklich sehr notwendig wäre". Bitterst beklagt er sich über die Engländer:
"Es ist alles zum Kotzen, was die Verbrecherbande mit uns aufführt." Dabei
war Gruber nie in Kriegsgefangenschaft. Er verbrachte einzig eine Nacht in
einem Anhaltelager in der Nähe von Sillian und wurde tags darauf von einem
englischen Soldaten freundlicherweise auf einem Motorrad nach Lienz
mitgenommen. Nur kurze Zeit war er in seiner Bewegungsfreiheit
eingeschränkt. Gruber ist nicht "vor Kriegsende abgehaut." In den
Tagebüchern liest sich das anders. Die nahe Innichen stationierte Kompanie
löste sich einfach auf.
Die erlebte Kränkung spiegelt sich in einem mehrfach erwähnten Bild. In den
ersten Wochen nach der Befreiung galt eine Ausgangssperre. Abends steht
Gruber hinter einem Fenster und betrachtet Lienzer Mädchen, die mit
englischen Soldaten flirten: "Die Engländer gehen schon mit Lienzer Mädchen
herum, ist ja wie überall dasselbe. [...] Herein gebeten haben wir sie nicht
und angenehm ist es auch nicht gerade, wenn man nach ˝ 9 nicht mehr auf die
Strasse darf, damit sie für die Herren frei ist!! Und wenn man sie so
anschaut und sieht gegen wen wir den Krieg verloren haben. Das MG mit
Wasserschlauch wie 08/15. Es ist zum Lachen und Weinen."
Gruber ist zwar froh, endlich seine Ruhe zu haben, schreibt, "nur gut, dass
ich nicht mitgeschwommen bin, sonst wäre ich ersoffen, aber schon ganz
elendig wie es im Buche steht", aber gleichzeitig muss er nach dem
Waffenstillstand geradezu enttäuscht feststellen, dass niemand daran denkt,
weiterzukämpfen. Er sieht zwar, dass für "1000ende von Leuten, die in K.Z.
lebten oder zwangsverschickt wurden", die Befreiung eine Erleichterung
bedeute, aber die "immer selben K.Z.Witze", er meint die Berichterstattung
über die von Nationalsozialisten begangenen Verbrechen, gehen ihm auf die
Nerven. Dass die Mehrheit der Bevölkerung fortan schlechter leben und es
wieder zu "demselben Willen wie 1938" kommen werde, davon ist er überzeugt.
Alltägliche Erfahrungen stehen dazu im Widerspruch: "Onkel Herbert ist da
mit einem english soldier! Ich rede mit ihm über den war, den great war! Die
waren alle nur kurze Zeit an der Front, dann wurden sie zurückgezogen! Ihnen
ist es in dieser Sache besser gegangen als uns! Wo wir so lange in der
Sch-sse lagen. Politisch sind sie ganz und gar Engländer, wie sie im Buche
stehen, von Ihrer Sache 100% überzeugt. Die brauchen keinen N.S.Unterricht
und brauchen nicht ‚Glaube, Zuversicht, Vertrauen' in Spritzen zu 20cm3 wie
wir, die haben alles."
Bei Kriegsende war Gruber 21 Jahre alt. Seine Tagebücher lesen sich als die
eines Jugendlichen oder Adoleszenten. Sie dokumentieren all die Konflikte
dieses Lebensabschnittes, freilich vor dem Hintergrund massiver
Gewalterfahrungen und Entwurzelung. Grubers Tagebücher lassen nicht nur an
Reiseberichte denken, man kann sie durchaus in einer gewissen Nähe zu
Entwicklungsromanen sehen. Wieder zu Hause schreibt Gruber ins Tagebuch:
"... ich gehe durch alle Zimmer, nehme Abschied von meiner Jugendzeit, sie
ist dahin."
Um beim Bild eines Entwicklungsromanes zu bleiben, dieser biographische
Schnitt, der zeitlich mit dem Ende der NS-Herrschaft zusammenfällt, deutet
sich bereits in den Monaten zuvor an. Noch ein Jahr zuvor lautet das Motto:
"Richtet nicht die Taten / der Soldaten. Lasst sie leben, wie sie wollen /
Weil sie für euch kämpfen sollen. / Lasst sie zechen, lasst sie küssen, /
Wer weiss, wann sie sterben müssen." Plötzlich wird dieses Motto durch ein
Schiller-Zitat ersetzt: "Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel
grösstes ist die Schuld." Geradezu unvermittelt taucht die Frage nach der
Schuld auf. Wir wissen nicht, welchen Umständen sich dies verdankte,
einzelnen Briefen ist aber zu entnehmen, dass die Frage nach der Schuld im
Spätherbst 1944 für Gruber zu einem Thema wird, mag er diese auch negativ
beantworten, was ein Brief an seine Mutter deutlich belegt: "Zwischen Gut u.
Böse hat der Mensch noch Unterscheidungsmöglichkeiten, hier kann man von Gut
und Böse ja nicht sprechen. Sondern eben nur von Pflicht!! Ich hätte in
meiner militärischen Dienstzeit nur durch Nichterfüllen von
selbstverständlichen Pflichtangelegenheiten etwas ändern können, so sehe ich
doch alles bestimmt vor mir und kann nie etwas ändern wozu ich ja auch weder
Lust noch Laune habe. Ich freue mich über alles was ich eben mache, und so
fühle ich mich glücklich und tue mich nie schwer. Wieso soll man sichs
schwerer machen, als es eh schon ist. Wenn mich jetzt das Schicksal woanders
hintreiben sollte als es vorgehabt, wer weiss für was es gut ist."
Die Mobilitätserfahrungen der Kriegszeit brechen sich in Grubers späterem
Reiseverhalten. Als erfolgreicher Arzt konnte er sich ab den 1960er Jahren
ausgedehnte Fernreisen leisten. Mochte er sich in den Arabischen Emiraten,
in Südafrika oder in sonst einem Land befinden, Motive und Motivwahl
unterscheiden sich formal-ästhetisch nicht wesentlich von den Kriegsdias im
Nachlass. An die Stelle von Lappländern in traditioneller Kleidung sind
andere Exoten getreten. Die Knipserfotografie kennt vorgegebene Motive. Der
fotografische Blick ist über all die Jahre derselbe. Nahezu alle
Sehenswürdigkeiten der Welt. Immer wieder Bilder von Hotels, Hotelzimmern
und Swimmingpools. Geknipst wird auf Urlaubsreisen das, was in Prospekten
abgebildet ist, was Reiseführer vorgeben. Auch die Motive der Kriegsfotos
waren weitgehend vorgegeben. Mögen noch so viele Aufnahmen gemacht werden,
wirkliche Neugier ist der Knipserfotografie fremd. Sie dienen nicht der
Erkundung, sondern als Beleg, hier oder dort gewesen zu sein.
Unter den Kriegsdias finden sich immer wieder Anspielungen auf das Reisen:
Ein Pfahl in einsamer Landschaft mit Wegweisern: "KIRKENES. Narvik 1012km.
Oslo 2496km. Berlin 3881km. Wien 4912km. Innsbruck 4705km. Bregenz 4746km."
Scherzwegweiser: "Zur EDELWEISSHÜTTE 50m / herrliche Lage / schöne Betten /
frisches Wasser / gemütliche Räume / gut bürgerliche Küche / erstklassige
Unterhaltung." Oder: "Heimat. 1000km Viehwaggon ..." Fotografierte
Landkarten, Wegweiser mit Entfernungsangaben finden sich auch unter den viel
später gemachten Aufnahmen. Wehrmachtssoldaten hatten nicht selten
Reiseführer bei sich, oft ließen sie sich vor prominenten Bauwerken
ablichten, sie brachten Souvenirs mit. Da wie dort finden sich
Sonnenuntergänge wie andere Stimmungsbilder. Der während des
"Wirtschaftswunders" aufkommende Reiseboom verdankt sich nicht zuletzt den
Mobilitätserfahrungen des Zweiten Weltkrieges. Uwe Timm wie andere haben
darauf hingewiesen.
Wie bereits erwähnt, besuchte Gruber um 1980 als Tourist, durchwegs als
Teilnehmer einer Reisegruppe, mehrmals die ehemaligen Kriegsschauplätze.
Ehemalige Soldaten, nun Veteranen, manche von ihnen in Begleitung ihrer
Frauen, traten nun als Touristen auf. Der Krieg zerfällt in eine Reihe von
Schauplätzen, die es abzufahren gilt, Punkte im ehemaligen Frontverlauf,
immer wieder Soldatenfriedhöfe, Denkmäler, das Grabmal von Mannerheim in
Helsinki. Abends gemütliches Beisammensitzen vor offenem Kamin. Gegenwart
und Vergangenheit überlagern sich, fallen aber gleichzeitig auseinander. Am
Ufer eines Sees zwischen Bäumen Mitglieder der Reisegruppe, unter den
älteren Männern drei Frauen. Eine der Frauen sitzt auf einer umgekippten
Bierkiste. Neben einer einfachen Feuerstelle aus Steinen ein auf einem Stein
sitzender Mann mit Gitarre. Teilnehmer der Reisegruppe betreiben auf einem
Platz vor einem Hotel Frühsport. Nordkap. Im Bildvordergrund an einer
Felskante, die ins Meer abfällt, ein älterer Mann. Auf den glatt
geschliffenen Felsflächen sind mehrere zumeist allein herumwandernde
Personen zu erkennen, was die Aufnahme surreal erscheinen lässt.
Beim Betrachten der Filmaufnahmen fällt auf, dass der größte Teil durch
Fenster fahrender Fahrzeuge gemacht wurde, etwa aus Bussen. Wie die
vorbeiziehende Landschaft verwischt, so gleichsam auch die Vergangenheit. Es
ist nicht anzunehmen, dass Gruber auf diesen Reisen aus seinen
Kriegstagebüchern vorgelesen hat. Hätte er es gemacht, dann hätte sich die
von Kertész gestellte Frage nach dem Wissen von selbst beantwortet, wäre
deutlich geworden, wie sehr frühere und spätere, an geänderte Gegebenheiten
adaptierte Sichtweisen auseinanderklaffen: "Im Lichte der gewandelten
Erinnerung wandelt sich das Wissen. So wird es möglich, daß der Mensch von
nichts etwas wußte. Und er lügt vielleicht noch nicht einmal: Er wägt
einfach ab - was er in den entsprechenden Zeiten nicht getan hat, nicht tun
konnte, weil sein Bewußtsein damals ein anderes war und damit auch sein
Wissen."
Bernhard Kathan, 2015