Familien unterwegs
29/09/15 Lieber Franz, deine Heilige Familie wird also auf Reisen gehen. Die
Vorstellung, dass sie im Volkskunstmuseum zur Ruhe kommen wird, gefällt mir,
auch der Gedanke, dass dies mit einer Schenkung verbunden ist. Im Depot wird
sie vor unsachlicher Handhabung, vor allzu großen Temperaturunterschieden
geschützt, das Wachs nicht direktem Sonnenlicht ausgesetzt sein. Die Heilige
Familie wird zumeist ein Dasein im Dunkeln führen, nur hin und wieder ans
Licht gebracht werden. Der göttliche Knabe, Josef und Maria werden nicht auf
den Sklavenmarkt des Antiquitätenhandels kommen. Und dann denke ich an die
seltsamen Nachbarschaften, in die diese drei Figuren geraten werden. Aber
vielleicht hängt doch alles mehr zusammen, als es scheint. Bis zur Übergabe
an das Volkskunstmuseum bleibt uns noch Zeit, um unsere Unterhaltung über
die Heilige Familie fortzuführen. Eine wechselseitige Kette kleinster
Bemerkungen. Mit herzlichen Grüßen
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05/10/15 Lieber Bernhard, immer wieder kommt mir diese eigenartige
Illumination in den Sinn, die ich in einem Stundenbuch aus dem Jahre 1475
entdeckte, das sich in der Bibliothèque royale de Belgique befindet. (Flucht
nach Ägypten, Stundenbuch um 1475. Le Maître du Livre de prières de Dresde,
Bruxelles, KBR, ms. IV 315, f. 105 vo-106.) Es zeigt die Flucht nach Ägypten
mit dem bekannten Personal: Maria auf dem Esel, Josef zu Fuß, das Jesuskind,
den Esel. Die Reisegruppe scheint nicht in Eile zu sein, das Wetter ist
schön, der Fluss fließt ruhig, das Land ist begrünt und im Hintergrund
verabschiedet sich Betlehem als mittelalterliches Städtchen. Welch
friedliche, erstaunlich unaufgeregte pastorale Szene!
Allerdings: Der kleine Jesus sitzt nicht etwa auf Marias Schoß, sondern wird
vom graubärtigen Josef getragen, der neben dem Esel hergeht. Weshalb das?
Für den betagten Josef ist die Reise doch ohnehin schon beschwerlich genug.
Weshalb muss er noch das Kind tragen? Erkennen wir hier eine Frühform
gemeinsamen Sorgerechts? Nutzt Maria ihre Sonderstellung, um
emanzipatorische Ansprüche durchzusetzen? Eine Erklärung ergibt sich, wenn
man genauer hinsieht, was Maria auf dem Esel tut: Sie liest! Josef trägt
also das Kind, weil Maria beschlossen hat, sich der Lektüre zu widmen. Das
ist erstaunlich: Konnte die junge Frau aus Nazareth überhaupt lesen? Woher
hat sie das Buch? (Bücher konnten sich doch nur Wohlhabende leisten.) Stammt
das Buch aus der Bibliothek in Bethlehem und wird vermutlich nicht
fristgerecht retourniert? Handelte es sich um einen Reiseführer Ägyptens?
Ein Bilderbuch ist es nicht, sonst hätte Maria Jesus bei sich auf dem Schoß
behalten. - Was lernen wir aus diesem Bild? Frauen lesen mehr als Männer,
was hinlänglich bekannt ist. Männer erkennen offenbar (mit Unbehagen?), dass
einer lesekundigen Frau besser nicht widersprochen wird. Oder will der
mittelalterliche Maler Frauen einfach zum Lesen aufmuntern? Man kommt aus
dem Sinnen nicht heraus. Was mich aber wirklich interessiert ist: Was hat
sich der Esel dabei gedacht, als ihn der Maler in ein so unübliches
Bildmotiv versetzte?
Für "meine" Heilige Familie werde ich jetzt mal eine geeignete Schachtel
suchen, in der sie die Reise nach Innsbruck unversehrt überstehen könnte.
Eigentlich ein interessantes Projekt, denn so werden sich die Spuren
zumindest dieser Flucht im Dunkel einer Kartonschachtel verlieren. Es nähme
mich auch wunder, wie mein Großvater, kurz nach oder noch während dem 1.
Weltkrieg diese zerbrechliche Installation von Kempten nach Bern gebracht
hat.
Ich müsste jetzt also ein wenig Ahnenforschung betreiben. (Ich habe noch
eine Schachtel voller Briefe etc.) Mit herzlichen Grüßen
09/10/15 Lieber Franz, Ägypten als Fluchtpunkt. Aber ist die Heilige Familie
je in Ägypten angekommen? Das ist nicht wichtig. Nicht der Ort ist von
Bedeutung, es ist die Zeit, die Latenzzeit, während der der Gottesknabe zu
reifen hat. Aber kann ein Gottesknabe reifen?
09/10/15 Lieber Bernhard, das mit der Reifung siehst du sicher richtig. Die
Kopten, die ja behaupten als erste durch den Apostel Markus bekehrt worden
zu sein, legen zum Beweis dieser Reifung (aber eben auf ihrem Gebiet) ein
geographisch präzises Itinerar vor, wollen auch wissen, wo der kleine Jesus
schreiben gelernt habe (wahrscheinlich ohne Lehrer; er hat einfach begonnen
zu lesen und zu schreiben). etc.
Vielleicht ist es ein bißchen verwegen hier (weil ich mich gerade ein wenig
mit ihr beschäftige) Hannah Arendt ins Spiel zu bringen mit ihren
erhellenden Gedanken zur Nativität, die das zirkuläre, naturhafte
durchbricht und einen (politisch-)philosophischen Neuanfang denkbar macht.
Dann wäre diese Reise also schon deshalb notwendig, um in Bewegung zu
setzen, was mit der Geburt angelegt wurde. (Der Kindermord in Bethlehem
würde dann dem Holocaust im 20. Jh. entsprechen: ist ein Neuanfang nach dem
absolut und zugleich "banalen" Bösen möglich? Ja, durch die Tatsache der
Geburt.) Bedenke, lieber Bernhard, die Laienhaftigkeit dieser Gedanken.
Irgendwie hat es etwas Stimmiges, den Weg dieses Neuen durch eine der
ältesten damals bekannten Kulturen beginnen zu lassen. Die Kopten haben das
ja auch mythologisch sofort verschmolzen: Isis mit dem Horusknaben wurde
Mara lactans, Seth, der immer wieder die sonnenbedrohende Schlange Apophis
töten muss, wird im Heiligen George weiter verehrt.
18/10/15 Lieber Franz! Hab in den letzten Tagen wiederholt an deine
Bemerkung zum Kindermord in Bethlehem bzw. zum Holocaust nachgedacht. In mir
sträubt sich etwas gegen diese Überlegung. Die Hitlerei bediente sich
ausgiebig im vorhandenen Bildervorrat. Hitler stilisierte sich ja geradezu
als Gottgesandten, aber ich sehe kein stellvertretendes Opfer, sondern nur
ein großes Rauben und Morden. Hitlers Ende (wie das vieler anderer
Nationalsozialisten) belegt das Verfehlen des Narrativs. Da denke ich lieber
an Astyages, an seine Tochter Mandane und an Harpagos. Du kennst die
Geschichte. Im Traum sieht der Astyages seine Tochter Mandane Wasser lassen.
Nicht nur die Stadt, ganz Asien wird überschwemmt. Auch sieht er einen
Weinstock (!) aus ihrem Schoß wachsen, der Asien überwuchert. Für die
Traumdeuter kann dies nur heißen, dass der Knabe, mit dem Astyages' Tochter
schwanger geht, ihn als König stürzen wird. Gleich nach der Geburt des
Kindes befiehlt Astyages seinem Vertrauten Harpagos, dieses zu töten.
Harpagos lässt das Kind von einem Rinderhirten im Gebirge aussetzen. Von
seiner Frau, sie wird "Hündin" genannt, dazu überredet, vertauscht der Hirt
den Knaben mit dem von ihr eben totgeborenen Kind. Er legt dem eigenen toten
Kind die kostbaren königlichen Gewänder an und trägt den kleinen Körper ins
Gebirge. Nach drei Tagen holt er das blutverschmierte Gewand und bringt es
dem Harpagos. Dieser lässt die Reste bestatten. Gerade zehn Jahre alt
geworden, wird Kyros als Sohn der Mandane erkannt. Der König bestraft
Harpagos wegen der Missachtung seines Befehls. Er lädt ihn zu einem Mahl, wo
er ihm, während die anderen das Fleisch von Schafen und Ziegen verzehren,
dessen Sohn als Gericht vorsetzt. Wir haben es weniger mit einem
historischen Ereignis als mit einer mythologischen Erzählung zu tun, die
zahllose Varianten kennt. Durch den Tod des einen wird Platz für einen
anderen gemacht. Der Sohn des Hirten macht Platz für das Königskind. Nicht
Kyros, der Sohn des Harpagos wird getötet. Erst durch dieses Opfer kann
Kyros König werden. Es sind Stellvertretergeschichten. Johannes muss
sterben, damit Jesus seinen Platz einnehmen kann. Auch der Kindesmord in
Bethlehem kennt diese Bedeutung. In solchen Erzählungen ist alles
referenziell. Wir haben es mit einem Symbolsystem zu tun, in dem alle
Elemente, die Geschichte forterzählend, wechselseitig Bezug nehmen, mit
einer Narration, die letztlich weder Anfang noch Ende kennt. In der
Märchenliteratur finden sich viele Varianten. Schneewittchens böse
Stiefmutter befiehlt einem Jäger das Mädchen zu töten. Dieser jedoch bringt
es nicht übers Herz. Er tötet einen Frischling und bringt der Königin als
Wahrzeichen die Eingeweide. In anderen Varianten erlegen Jäger, Köche oder
andere Gewährsleute der Stiefmutter Wild, nicht selten eine Hirschkuh.
Auffallenderweise haben wir es nahezu durchgehend mit unvollständigen
Familien zu tun, mit Stiefmüttern, Stiefvätern, echten und unechten
Töchtern. Die heilige Familie wird als geschlossene Einheit gedacht,
zumindest in der volkstümlichen Erzählung. Dabei ist Jesus ein
außereheliches Kind, Joseph nicht der wirkliche Vater.
Die Flucht nach Ägypten hab ich mir immer als ländliche Reise vorgestellt,
durch begrüntes Land, und wie du schreibst, durch friedliche, erstaunlich
unaufgeregte pastorale Szenen. Es finden sich aber auch Darstellungen, die
die Heilige Familie mit dem Esel in einem Boot, also auf einer Überfahrt
zeigen, so etwa bei Giambattista Tiepolo. Die Bootsfahrt, sie lässt an den
Styx denken, markiert jenen Übergang, den die Flucht nach Ägypten bedeutet,
eben wesentlich besser als jede Fortbewegung auf dem Land. Mit herzlichen
Grüßen
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Lugnorre, 21/10/15 Lieber Bernhard, natürlich hast du recht, wenn sich in
dir etwas gegen den Vergleich des Kindermords in Bethlehem mit dem Holocaust
sträubt. Ich würde das als Vergleich auch nie so unkommentiert stehen
lassen. Mich hat fasziniert, wie Hannah Arendt versucht hat, das Undenkbare
politisch (!) denkbar zu machen (weil es - so war sie überzeugt - anders gar
nicht zu bewältigen sei). Und da griff sie eben ziemlich unkontrolliert zu
dieser Metapher der Nativität (die sie übrigens u. a. von Augustinus
herleitete, der sich seinerseits gegen zyklische Vorstellungen des
menschlichen Lebens wandte). Und da wollte ich die Geburt Jesu auch mal
unter diesem Aspekt wieder in den Blick nehmen: Als eine Ermöglichung, das
Böse, dem er ja dann bis hin zu seinem Tode nicht ausgewichen ist, mit einem
alles durchbrechenden Neueinsatz zu begegnen. Ich finde eben auch
Weihnachten immer ein wesentlicheres Fest und Zeichen als Ostern. Wozu
eigentlich Auferstehung? Wozu nochmals (wenn auch in einem andern Zustand
und an anderem Ort, denn eigentliche Reinkarnationsvorstellungen sind
biblisch kaum auszumachen) beginnen? Die (das ist aber nur eine vieler
möglichen) Samenkorn-Interpretation des Todes von Jesus speist sich ja nun
gerade aus einer zyklischen Metaphorik. Wobei es ja nicht um das
Wiederkommen des Gleichen geht, sondern um die Notwendigkeit des Durchgangs
durch den Tod. Weihnachten gefällt mir, weil hier im Unscheinbarsten, im
Geringsten, das unvorstellbar Neue einsetzt, dass hier das Göttliche einen
Anfang setzt, der von unabschätzbaren Folgen sein könnte, obwohl auch hier
der Tod ikonographisch oft schon angedeutet wird.
Hab Dank für das Nacherzählen der Herodot-Erzählung von Astyages. Ich kannte
die Geschichte, hatte sie aber nicht mehr präsent. Stellvertretergeschichten
erwähnst du. Das narrative Vergegenwärtigen der Notwendigkeit, Platz zu
machen für den Anderen,Besseren (?), für das Neue, das ist interessant. Aber das erklärt noch
nicht, weshalb dies stets (?) durch Gewalt geschehen soll. Da müsste man
jetzt vielleicht Rene Girard mit seiner Mimesis- und "Sündenbock"-Theorie
heranziehen. Da spielt ja die Stellvertretung auch die maßgebliche Rolle,
aber eben auch die Gewalt, ohne die das Opfer später nicht in die Stellung
des Heiligen gerückt werden kann, die man ihm zusprechen will. Wobei Girard
in seiner Interpretation mit Blick auf Jesus Christus meint, dass gerade
dieses Beispiel (in den evangelischen Berichten) zeige, wie sinnlos dieses
Ritual eigentlich sei.
Man müsste noch genauer darüber nachdenken.
Was die heilige Familie betrifft, so kann ich hier im Augenblick nur einen
eher skurrilen Hinweis anfügen: In der Stadtkirche Bern wurde letzten
Sonntag ein Priester verabschiedet, der als Pater einige Jahre in der
Pfarrei tätig gewesen war. Er gehört zu den Missionaren der Heiligen Familie
(http://www.missionare.org). Ich fand dann heraus, dass es nicht wenige
Kongregationen gibt, die sich mit der heiligen Familie abgeben:
Kongregation der Heiligen Familie von Bergamo,Kongregation der Heiligen Familie (engl.: Congregation of the Holy Family,
Ordenskürzel: CHF; ein Frauenorden in der römisch-katholischen Kirche,
Die Kongregation der Heiligen Familie von Nazareth
etc.
Es wäre vielleicht nicht uninteressant, zu wissen, was diese Ordensleute
unter Familie und deren Förderung genau verstehen. Darüber wird ja jetzt
auch in Rom nachgedacht - was ja dringend nötig ist!
Wenn man an Familie im Hinblick auf die Kinder (und besonders das kleine
Kind) denkt, kann und soll man es vielleicht auch nicht vermeiden, an etwas
Stimmiges, Ganzheitliches und Heiles zu denken. Die Familie als Schutzzelle
für das hilflose Kind, eben auch mit dem Bild der Flucht. (Hab Dank für den
langen Artikel zu den Bildern von Tiepolo!
Später mag man dann (und das ist noch ein gelinder Ausdruck dafür) an das
Wort von Walter Benjamin denken (das ich leider nicht wortgetreu zitieren
kann), der sagt, die Familie sei vor allem eine Störung des Privatlebens.
23/10/2015 Lieber Franz! Die heilige Familie. Du wirst ja mit ihr auf Reisen
gehen. Das gefällt mir. Wir unterhielten uns während unseres letzten
Spaziergangs über Erfahrungen von Wehrmachtsangehörigen, über
Feldpostbriefe. Auch hier hat man es oft mit unvollständigen, fragmentierten
Familien oder Beziehungen zu tun. Nicht zufällig wird die Familie
idealisiert, als geschlossen behauptet. Dass dieselben oft tatkräftig an der
Zerstörung anderer Familien beteiligt waren steht dazu in keinem
Widerspruch, im Gegenteil. Etwas ähnliches gilt auch für die Idealisierung
der Frau. Einige Anreden aus einem Konvolut eines Wehrmachtsangehörigen:
Meine liebe Maria! Meine liebe Maria! Meine liebe Frau! Liebe Maria! Meine
liebe Maria! Maria, Geliebte, Frau! Liebe Maria! Liebe Maria! Maria!
Geliebte Frau! Meine geliebte Frau! Geliebte! Liebe Frau! Liebe Frau! Maria,
Frau, Geliebte, Gefährtin! Meine Maria!! Meine geliebte Immerschöne,
Immergute! Liebe Maria! Maria; Geliebte, immer Gute, immer Schöne! Meine
Maria! Geliebte, wunderbare Frau! Geliebte Frau! Meine viel geliebte Frau!
Meine geliebte Frau! Meine liebe Frau! Meine Geliebte! Meine geliebte Maria!
Meine liebe Maria! Geliebte schöne, immer gute Frau! Meine Geliebte! Maria,
meine geliebte, immerschöne, immergute Frau! Maria, meine liebste Frau!
Meine geliebte, immer schöne, immer gute Frau! Meine innig geliebte Frau!
Meine schöne, gute, geliebte Frau! Maria, meine Liebe! Maria, Maria! meine
liebe, liebe! Liebe Frau, meine Maria, Schutzgeist meiner Ängste, Königin
meiner Träume! Meine liebste und beste Frau! Geliebte! Geliebte! Meine liebe
Frau! Meine liebe Frau Maria! Meine liebe Frau! Meine liebe, liebe Frau!
Vielgeliebte Frau! Maria, meine schöne, gute Frau! Maria, meine geliebte
Freundin! Meine süße Freundin! Meine liebste Frau! Maria, geliebte Seele!
Liebe Freundin, schöne, blonde Geliebte! Meine liebe Frau! Meine liebe, gute
Frau, meine schöne Geliebte! Liebe Frau, Maria! Meine liebe Frau, schöne
edle Dame! Maria, meine vielgeliebte Frau! Maria, Frau, kleine Heilige!
Geliebte! Maria, mein viel geliebte Frau! Maria, Frau, kleine Heilige. Meine
liebe Frau! Geliebte, meine schöne gute Frau! - Lässt mich an die
lauretanische Litanei denken. Ich mag solche Auflistungen. - Am Nebentisch
saß gestern eine junge Frau und unterhielt sich mit zwei Burschen. Sie
möchte ein Nagelstudio aufmachen. Ihr Aussehen war madonnenhaft. Nein, diese
Frau könnte ich mir als Maria nicht vorstellen. Aber womöglich heißt sie
Maria. Einen Tisch weiter saß eine Lehrerin, die sich furchtbar betrinken
kann. Sie rief die Kellnerin und sagte: "Maria, ich hätt noch gern ..." Die
Kellnerin, sie arbeitet neuerdings in einem Frauenhaus: "Ich heiße Anna ..."
Mit lieben Grüßen
25/10/15 Lieber Franz, Sündenbock und stellvertretender Tod, das eine
überlappt sich mit dem anderen, wobei der Stellvertreter im Gegensatz zum
Sündenbock oft in seinen Tod einwilligt (Jesus etwa). Für die neugeborenen
Knaben in Bethlehem wie auf den Hirtenknaben in der Kyros-Geschichte trifft
dies freilich nicht zu, für Johannes vielleicht. Aber ist Jesus als
Stellvertreter zu betrachten? Er nimmt zwar im Kreuzestod alle Schuld auf
sich, aber Stellvertreter ist er nicht.
Ruth hat sich in Wien einen Film über die aus Galizien nach Israel
emigrierte Autorin Ilana Shmueli angeschaut, die mit Celan, Kokoschka und
anderen befreundet war. Sie starb in einem Hospiz mit dem Namen: "Zur
Heiligen Familie". Wäre wirklich interessant wie solche Einrichtungen zu
solchen Namen kommen. Vermutlich verlangen Sterbende, Findelkinder,
Fürsorgezöglinge nach einem Gegenbild. Heilig = heil = ganz. Eine Familie
kann man sich ja nur als etwas Geschlossenes vorstellen, obwohl unsere
Erfahrungen zeigen, dass dieses Bild trügerisch ist. Verwandt: "Zum guten
Hirten", oder auch Bethel-Einrichtungen, die sich früh in der Hospizbewegung
engagierten. Bethel, so las ich eben, heiße Haus Gottes. In der Bibel sei
Bethel ein Ort, an dem Menschen die Anwesenheit Gottes besonders bewusst
geworden sei. Sterben stell ich mir eher als einen Vorgang vor, in dem man
sich der Verlassenheit von Gott besonders bewusst wird. Möglicherweise
dachten die Namensgeber doch an die ermordeten Kinder von Bethlehem.
Sonst fallen mir im Augenblick zur Heiligen Familie nur Lokalgeschichten
ein. Sie schleichen sich manchmal auch in meine Träume. Vor einigen Tagen
saß am Nebentisch eine junge Psychologiestudentin, die Psychotherapeutin
werden möchte. Sie werde sich für die Existenzanalyse entscheiden. Kaum
Wartezeiten, finanzierbar. Da musste ich an die Heilige Familie denken. Was
wäre, hätten sich Josef, Maria und Jesus einer Existenzanalyse unterzogen?
Eine interessante Frage? Es gäbe weniger Bilder, weniger Erzählungen. Im
Augenblick sitzt am Nebentisch eine hochschwangere junge Frau. Die Art und
Weise wie sie über Bauch und Brüste streift, sehr madonnenhaft. Ohne jeden
Zweifel kannten schwangere Frauen im Mittelalter all diese Gesten. Aber nur
ein Blick genügt, um zu wissen, dass wir in einer anderen Zeit leben. An der
Bar sitzt ein weibliches Liebespaar. Kategorien wie Geschlecht werden
unscharf, natürlich auch Vorstellungen, die bislang für die Familie galten.
Mit lieben Grüßen
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Innsbruck, 27/10/15 Lieber Franz, oben Ruth vor der Eingangstüre eines
Internats, indem sie als Kind einige Zeit untergebracht war. Warum die
Englischen Fräulein auf den Josef gekommen sind? Der Heilige Josef hatte
seine Hochkonjunktur im neunzehnten Jahrhundert, als es darum ging, den
Abfall der Arbeiterklasse vom wahren Glauben einzudämmen. Josef, der
Zimmermann als Vorbild der Arbeiter, ein großes Missverständnis. Die Masse
der Arbeiter führte in den Fabriken unter dem Lärm von Maschinen
gleichbleibende Bewegungen aus. Josef als idealer Ehemann, auch ein
Missverständnis. Die Englischen Fräulein gibt es hier nicht mehr. Ich hätte
mir gern die Kapelle angeschaut, den Josefsaltar. Die wenigsten Josefsältäre
des neunzehnten Jahrhunderts verdankten sich dem Handwerk. Dem Zierrat
solcher Altäre sieht man die Schablonen an, die maschinelle Fertigung. Beim
Anblick muss ich an abgetrennte Finger denken. Schutzblechen oder anderen
Sicherheitsvorkehrungen wurde damals noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Ohne industrielle Fertigung, also ohne Abschaffung des Handwerks, hätten
sich arme Gemeinden solche Altäre nicht leisten können. Wie müsste man sich
einen von Josef selbst gefertigten Josefsaltar vorstellen? Mittelalterliche
Altäre geben davon eine Ahnung davon.
Vor dem Lokalfenster laufen im 20minuten-Takt abwechselnd chinesische, dann
indische Touristenscharen vorbei. Sie laufen Richtung Busparkplatz. Was für
ein Unterschied im Gang. Ich bevorzuge die Chinesen. Der Gang der
Inderinnen, so im Überblick betrachtet, wirkt ungelenk, müde. Im Gegensatz
zu den Chinesen unterhalten sich indische Paare kaum. Und dann ihre
Kleidung, zumeist ohne Stil. Entweder eine seltsame Mischung aus indischer
Kleidung und westlicher Billigware oder westliche Billigware in seltsamster
Mischung. Da lief letzthin in so einer Gruppe von Indern ein Mädchen vorbei,
es war vielleicht sechzehn Jahre alt. Das Mädchen, es trug einen Minirock,
war ziemlich dick. Nun gibt es auch bei uns Menschen, die sich nicht zu
kleiden wissen, also auch dicke Mädchen in Miniröcken. Die Irritation
verdanke sich weniger dem Umstand, dass das Mädchen dick war und einen
Minirock trug, als der Tatsache, dass seine Art sich zu bewegen, nicht zu
einem Minirock passte. Das Mädchen tat mir leid. Übrigens scheinen die
Chinesen um einiges neugieriger. Es fällt im Hofgarten auf: Chinesen schauen
sich immer wieder Sträucher und Bäume an, und zwar nicht nur aus der Ferne.
Sie gehen hin, berühren. Natürlich ist es blöd, von "den" Chinesen, "den"
Indern zu sprechen, aber ich denke schon, dass etwa von Kind an eingeübte
Sitzhaltungen ihren Niederschlag finden. Bei uns hat etwa IKEA auf das
Durchschnittsverhalten abgefärbt. Als ich das dicke Mädchen mit dem Minirock
sah, musste ich an eine junge Studentin denken, die einige Tage zuvor an der
Bar saß. Auf einem Barhocker. Asiatisches Aussehen, aber wohl nicht aus
China oder Japan stammend. Die Studentin hatte ein Bein untergeschlagen, und
zwar in einer Art und Weise, wie das in unserer Gesellschaft kaum eine junge
Frau zustande brächte. Die Sitzhaltung wirkte auf mich ganz natürlich,
ungezwungen, ohne jede Anstrengung. Die Studentin trug hell leuchtende weiße
Turnschuhe. Der Fuß des untergeschlagenen Beines machte Bewegungen, die mich
an den Schwanz einer Katze denken ließen. Er schien größtes Wohlbehagen
auszudrücken, drehte sich einmal in diese, dann in jene Richtung, krümmte
und streckte sich, so als würde er ein Eigenleben führen. Ich habe keinen
Zweifel: Die junge Frau war sich der Bewegungen ihres Fußes keinesfalls
bewusst. Auch da musste ich an Maria denken. Was wäre, hätte Maria andere
Kleidung getragen (welche sie trug, wissen wir nicht), hätte es noch keine
Sessel gegeben? Welche Theologie hätte sich daraus ergeben? Gauguin
verpflanzte Maria in die Südsee. Er dachte wohl an das Paradies (er fand es
auch dort nicht), womit er Maria in die Nähe der Eva rückte. Unter seinen
Südseebildern findet sich mindestens eine "Vertreibung aus dem Paradies".
Die Vertreibung Evas aus dem Paradies steht in einem gewissen Naheverhältnis
zur Flucht nach Ägypten. Um wieder auf Kleidung und Bewegung zurückzukommen:
Gauguins Südseemaria hätte zwar Gott gebären können, aber das hätte keine
Theologie im christlichen Sinn zur Folge gehabt. Jede Theologie verdankt
sich nicht zuletzt der Art und Weise, wie Menschen sitzen, sich kleiden,
sich bewegen, wie sie essen. So ist die feministische Theologie ohne Fast
Food nicht denkbar. Gauguin hat sich diesbezüglich wohl keine Gedanken
gemacht. Sein Tagebuch führt denn auch in eine ganz andere Richtung. Er
stellt eugenische Überlegungen an, was seltsamer Weise wieder zu Josef und
Maria bzw. zur jungfräulichen Empfängnis zurückführt. Mit lieben Grüßen
01/11/15 Lieber Franz, gehe mit dem Windelhosenkönig spazieren. Gestern
waren wir im Wald und fanden noch einige sehr schöne Pfifferlinge. Ich
spiele weniger den Josef als den abwesenden Vater. Natürlich nicht Gott,
wobei ich an Gott in seiner Ohnmacht manchmal denken muss. Auf dem Rückweg
bewegte ich mich lange rückwärts schreitend. Irgendwann bemerkte David
meinen seltsamen Gang. Und nun schritt auch er sehr lange rückwärts. Da er
immer wieder getragen werden will, müssen wir uns etwas einfallen lassen. Er
ist inzwischen ziemlich schwer, auf jeden Fall zu schwer für mich. Ich kann
ihn nicht mehr lange tragen. Gestern war ich mit ihm im Hofgarten. Schon
beim Weggehen wollte er getragen werden. Es ließ sich folgendermaßen lösen.
Wir hatten Papierflieger dabei. Ich ließ die Flieger stets in Richtung
Hofgarten segeln. Und wie es halt so ist, läuft das Kind den Fliegern nach
und befördert sie weiter. Er war damit so beschäftigt, dass er ganz darauf
vergaß, getragen zu werden. Und schon waren wir im Hofgarten. Die beiden
Stacheldrahtbäume ließ ich links liegen. Ich sammelte mit David stattdessen
Früchte des Los-, also Schicksalbaumes (drückt er sie im Waschbecken für
meine Sammlung aus, hat dann türkisfarbene Finger). Dann gingen wir rüber
zum Trompetenbaum, der für David ein Dinosaurier ist, und auf diesem Tier
kletterte er herum, und da im Stamm ein Loch ist, vermutete er darin noch
einen kleinen Dinosaurier. Alles Stochern half nichts. Dann noch rüber zum
Taschentuchbaum, der ja wichtig ist, geht es um das Weinen und Nasenbluten.
Inzwischen waren die Papierflieger schon ziemlich zerfleddert. Auf dem
Rückweg musste ich mir ein neues Spiel einfallen lassen. Da kamen mir die
geparkten Autos zu Hilfe. Der Windelhosenkönig kennt ja alle Marken. Auf
jeden Fall fielen ihm ausgehend von Automarken seltsamste Wortspiele wie "VW
Popo VW Popo" ein und ich half das weiterspielen. Wir waren wieder zu Hause.
Er ging also immerhin eine Strecke von zwei Kilometern. Er meinte dann noch:
"Das ist Phantasiesprache. Die verstehen nur ich und du." Was die Sprache
betrifft, muss man genau sein. Der Windelhosenkönig versteht nur zu gut,
dass irgendwelche Laut- oder Buchstabenkombinationen noch lange keine Worte
sind, noch keine Sprache bedeuten. Wir können uns damit spielen, übertreiben
darf man es nicht. In solcher Häuslichkeit muss ich an Josef, den
Zimmermann, denken. Eine Säge, ein Brett. Einzelanfertigung, ganz im
Widerspruch zu den seriell gefertigten Josefsaltären des neunzehnten
Jahrhunderts, im Widerspruch zu den Arbeitern, von denen sie gefertigt
wurden. Erziehung ist Handwerk, Einzelfertigung, wobei das Werkstück einiges
mitzureden hat und sich durchaus widerspenstig zeigen kann. Auf meinem
Morgenspaziergang durch den Hofgarten fallen mir Mütter, vereinzelt auch
junge Männer auf, die Säuglinge umgeschnürt tragen oder vor sich
herschieben. Mir gefällt solche Innigkeit. Und all das verdankt sich nicht
zuletzt den Bäumen mit ihrem ausladenden Laub- und Astwerk. Da sind die
Bäume noch Madonnen, Schutzmantelmadonnen. Sollte mal einmal einige Fotos
machen. Und wo ließe sich in einer Stadt wie Innbruck ein Kind besser an die
frische Luft bringen? Da fällt mir ein, dass ich selbst mit Iris, als sie
ein Kleinkind war, fast täglich im Hofgarten war. Das ist schon lange her.
Las damals Tolkiens "Herr der Ringe". Unvorstellbar. Der Einband der drei
Bände war in einer grünen Farbe gehalten. Väter waren damals noch sehr
selten mit Kleinkindern unterwegs. Ich saß da immer unter Müttern, die sich
über das Stillen, Babynahrung und so fort unterhielten. Es war grauenhaft.
Nicht eine von diesen Müttern ist mir in Erinnerung geblieben. Aber ich kann
mich an ein kleines Mädchen erinnern, welches auf einem Turngerüst
herumkletterte, plötzlich ausrutschte und zwischen den Eisenstäben des
Klettergerüsts durchfiel, mit dem Kinn auf einer der Sprossen aufschlug und
sich die Zungenspitze abbiss. Mit lieben Grüßen
03/11/15 Lieber Bernhard, da finde ich zu Hause gleich drei Schreiben von
dir! Hab Dank!
Ja, diese Aufzählung ist wunderbar und - wie du zu recht bemerkst -
Aufzählungen sind es grundsätzlich. Ich liebe diese Litaneien, die schnell
in Musik übergehen, die auch immer wieder spannend und irgendwie berauschend
sind. Im Falle des Wehrmachtsangehörigen wirken diese Anreden (wohl
verständlich) wie eine Beschwörung.
Dass du beim Schreiben gleich noch in eine andere Mariengeschichte
verwickelt wirst, ist ja vielleicht auch kein Zufall. Anna Selbdritt ... Das
madonnenhafte Aussehen der Studentin (die ein Nagelstudio aufmachen will)
und deine Beschreibung der hochschwangeren Frau, erinnern mich an eine
Fotoserie der Dorothee Golz, die jetzt auch in Graz gezeigt wird: Junge
Frauen posieren in verschiedenen Lebenslagen, das Gesicht wird ganz leicht
retuschiert und die Betrachter sehen in der Dargestellten sofort eine
Madonna! Eigenartig, wie unser Blick sich dem anpasst, was wir schnell
gewohnt sind zu erkennen!
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Die Namensform Heilige Familie für verschiedene Institutionen ist offenbar
weit verbreitet. Bethlehem heißt übrigens Brothaus (vielleicht eine
Bezeichnung für eine Bäckerei?) Im Berndeutschen, das die sozial niedrig
Gestellten früher sprachen (wir verwendeten es als Buben nur noch
bruchstückhaft), das sogenannte Mattenenglisch (weil man es in der "Matte"
dem Quartier unten an der Aare, wo früher auch der Handel über den Fluss
abgewickelt wurde, sprach) gab es neben einer Menge französischer Wörter
auch viele hebräische Begriffe. So sprachen wir z. B. von einem "Ligu Lehm",
wenn wir ein Stück Brot meinten. (Und siehe da, es gibt sogar einen
Wikipedia-Eintrag: https://de.wikipedia.org/wiki/Mattenenglisch
Beim Bild vom Josefsheim der Englischen Fräulein gefällt mir die Figur im
Fenster rechts. Ist das ein Astronaut? Auf wackeligen Füßen wie die
Inderinnen, die du so genau beobachtet hast? Ich habe übrigens mal einen
langen Bericht über das Gehen afrikanischer Frauen gelesen, das sich, wenn
man es in Zeitlupe aufnimmt, ganz genau studieren lässt und sich sehr von
unserem Gehen unterscheidet. Nur deshalb, so hieß es, sei es ihnen möglich,
die schweren und unmöglichsten Dinge auf dem Kopf zu tragen.
Und wenn du schließlich auf das Sitzen zu sprechen kommst: das interessiert
mich natürlich nach wie vor. (Wunderbar deine Beschreibung des Fußes der
jungen Studentin in der Bar.) Über das Sitzen der Maria wissen wir natürlich
nichts. Ob überhaupt so etwas wie ein Stuhl im Gebrauch einer armen
jüdischen Familie war, weiß ich auch nicht. Ich stelle mir eher vor, dass
sich da (wie heute noch bei den Beduinen) fast alles am Boden abgespielt
hat. Sitzen war in der Antike eigentlich - zumindest wenn es ikonographisch
gezeigt wurde - ein Thronen. Ägyptische Figuren sitzen auf einem Würfel, der
die Ordnung und die Gesetze der Welt symbolisiert. Wer auf einem
Würfel-Thron sitzt, zeichnet für die Ordnung. Die sitzende Maria als
Bildmotiv ergab sich ja über die bekannten Isis Darstellungen, die sie mit
dem Horus-Knaben zeigen, was direkt zum schon erwähnten Maria lactans Motiv
führte. Maria wurde also schon früh in einer quasi göttlichen Stellung
dargestellt. In den orthodoxen Weihnachtsikonen, die einen ganz anderen
Aspekt in den Blick nehmen, liegt sie meistens auf einem antiken roten
(blutigen?) Reisesack, was zeigen soll: Maria ist müde, weil die Geburt
nämlich eine wirkliche Geburt eines wirklichen Kindes war. Josef hingegen
steht ja bekanntlich immer etwas mürrisch abseits, bedrängt vom Teufel
(dargestellt als alter Mann; manchmal mit Bocksfuß), der dem Josef Zweifel
einflüstert bezüglich der Befruchtung Marias durch den Heiligen Geist.
Um zu der Studentin mit dem untergeschlagenen Bein und dem schlängelnden Fuß
zurück zu kommen: Unser Sitzen ist eben kein Thronen mehr, drückt aber
nichts desto trotz etwas aus. Ich habe zum Beispiel auch die Angewohnheit
beim Schreiben unter dem Tisch ein Bein übers andere zu legen, was (unter
dem Tisch!) keineswegs bequem ist. Wenn ich mir jetzt (in Folge deiner
Beobachtungen) überlege, weshalb ich mir diese Unbequemlichkeit eigentlich
antue, kommt es mir vor, als ob ich mich damit sozusagen unten "zuknote";
vielleicht entsteht so "oben" im Kopf (?) dieser "Stau", den ich brauche,
damit die Gedanken den nötigen Druck erhalten, den ich brauche, um sie
aneinander zu reihen und aufzuschreiben. "Interessant" würde Kommissar
Brenner dazu sagen. - Jedenfalls ist auch mein Sitzen offensichtlich weit
entfernt von einem Thronen. Und überhaupt würde ich mich eher in der Nähe
von Josef sehen, jedoch nicht ohne eine gewisse Sehnsucht nach dieser Frau,
die Maria verkörpert.
Für diesmal habe ich die Heilige Familie nicht wirklich zusammengebracht.
Man wird sehen, wie es ihr weiter ergeht. Was ich vermelden kann: Ich habe
eine sehr geeignete Schachtel zu deren Verpackung und Transport gefunden. Es
ist die alte Schachtel des i-Mac. Die Maße passen und ein Griff zum Tragen
gibt es auch. Zu dieser "Installation" käme uns wahrscheinlich auch noch
einiges in den Sinn: statt Computer-Bildschirm eine Heilige Familie. Von
einem Wunder zurück zum andern. Ich grüße euch sehr herzlich
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06/11/15 Lieber Franz, bin eben aus einem tiefen Schlaf, aus einem Traum
aufgewacht. Ein Zigarettenautomat in einer Kirche, er war an einer Säule
neben der letzten Bankreihe befestigt, erschien mir seltsam, zumal ein
Pfarrer gerade damit beschäftigt war, die Mundkommunion auszuteilen. Wie vor
dem Pfarrer hatte sich auch vor dem Zigarettenautomaten eine Schlange
gebildet. Endlich stand ich selbst vor dem Automaten. Mein Blick fiel auf
eine schwarz gekleidete Nonne, die daneben kniete. Als ich einen Geldschein
in den Schlitz steckte, deutete die Nonne mit ihrem sehr langen Zeigefinger
auf ein kleines gerahmtes Schriftbild an der Säule und sagte: "Welche Finger
haben diese schöne Schrift in dieses Haus hinein gestickt?" Ich kam gar
nicht dazu, den Text zu lesen oder über die Bedeutung dessen nachzudenken,
was die Nonne eben gesagt hatte, quoll doch aus dem Schlitz ein Geldschein
nach dem anderen, was mich in große Verlegenheit brachte. Und so weiter und
so fort. Der Traum hatte wohl mit Cordwainer Smith zu tun, den ich vor dem
Einschlafen las, dessen Texte voll von religiösen Bildern sind. Die Heilige
Familie ist mir bei ihm noch nicht untergekommen. Sie kann es auch nicht,
stammt doch alles Leben aus dem Labor. Seine Geschichten spielen etwa um
15000 nach Christi Geburt. Ich lese ihn als Gegenlektüre zur
Wehrmachts-Geschichte, die mir immer wieder Alpträume verursacht. Cordwainer
Smith beschäftigte sich mit totaler Herrschaft, kein Wunder, war er doch
Experte der psychologischen Kriegsführung, als solcher im Beraterstab von
Kennedy. In seinen Texten geht es um eine Sklavenhaltergesellschaft, immer
wieder um das Verhältnis von Herrenmenschen zu Untermenschen, die völlig
rechtlos sind und jederzeit getötet werden können. Dabei gilt seine
Sympathie den Untermenschen. Cordwainer Smith plädiert für das
Unvollkommene, das Leiden, den Tod, natürlich auch für das Opfer, wobei es
sich bei diesem nicht um einen stellvertretenden Tod, sondern um Hingabe
handelt. Cordwainer Smith starb 1966, gerade einmal 53 Jahre alt.
Oben Franz von Assisi. Ein Gemälde von Piero Casentini. Eben hat der Heilige
den Jesusknaben einer Schachtel, einem Sarg, einem Schiffchen aus
Schilfrohr, einer Retorte entnommen. Maria und Joseph sind abhanden
gekommen. Auspacken (das Geschenkspapier fehlt), entnehmen, in die Arme
nehmen. Aber das Jesuskind ist kein Säugling mehr. Der Jesusknabe ist
sozusagen bereits halbfertig, halbgar, halbgekocht, ähnlich wie der
Jesusknabe deiner Heiligen Familie. Franz lässt an die Tochter des Pharao
denken, die den nach seiner Geburt auf dem Nil ausgesetzten Moses auffindet.
Wie beim Kindermord in Bethlehem sollen auch hier alle neugeborenen Knaben
getötet, in den Nil geworfen werden. Die Mutter des Moses versteckt den
Knaben nach der Geburt drei Monate lang, "weil sie sah, dass es ein schönes
Kind war." Die Zahl drei ist keinesfalls zufällig. Sie begegnet uns in der
biblischen Erzählung sehr oft. Drei Tage, drei Monate, drei Könige aus dem
Morgenland, Jesus wird mit zwei Schächern gekreuzigt, Anna Selbdritt (hier
wird Geschlossenheit auf einer vertikalen Ebene behauptet) und so weiter.
Und als die Mutter des Moses den Knaben "nicht mehr verborgen halten konnte,
nahm sie ein Binsenkästchen, dichtete es mit Pech und Teer ab, legte den
Knaben hinein und setzte ihn am Nilufer im Schilf aus." Bemerkenswert finde
ich das Binsenkästchen. Insbesondere in der japanischen Märchenliteratur
mangelt es nicht an Geschichten, in denen sich ein Mädchen oder ein Knabe in
eine hölzerne Kiste, einen Sarg aus Stein oder ein Boot legen muss, nicht um
neu geboren, sondern erwachsen zu werden.
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Arbeiten von Dorothee Golz hab ich unlängst in Innsbruck gesehen. Sie haben
mich überhaupt nicht berührt. Solche Photoshop-Arbeiten gibt es tausendfach.
Reinste Werbeästhetik, zutiefst parasitär. Sie sind stets nach dem selben
Muster gestrickt: Man nehme ein bekanntes Gemälde, behalte etwa das Gesicht
und Gestik bei, tausche den Hintergrund aus und schon wird man eine gewisse
Aufmerksamkeit erregen, zumal die Madonna in Unterwäsche zu sehen ist. Eine
mir bekannte Künstlerin hat eine Madonnendarstellung aus dem 15. Jahrhundert
bearbeitet. Aus dem Jesusknaben wurde ein Jesusmädchen. Das göttliche Kind
ist nun mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen ausgestattet. Ich habe einigen
diese Arbeit gezeigt. Kaum war der kleine Unterschied bemerkt, erlosch jedes
Interesse. Und wenn solches noch als Religionskritik daherkommt, wird es
ziemlich flach. Wie wird man solche Bilder betrachten, werden
Madonnendarstellungen nicht mehr zum kollektiven Bildervorrat zählen?
Die Figur im Fenster neben dem Portal des Josefsheimes habe ich gar nicht
bemerkt. Es muss sich wohl um einen Astronauten handeln. Die englischen
Fräulein hätten natürlich auch an ein Sternenkind denken können. Dann würde
sich die Frage nach den Gehbewegungen dieses Kindes stellen. Vermutlich
wären seine Bewegungen maschinenhaft. Da fällt mir noch etwas auf. Ruth
möchte die Tür zu einer Welt öffnen, in der sie sich als Kind verlassen
fühlte. Nun ist die Pforte verschlossen. Auch das Schwimmbecken im Garten
ist verschwunden. Übrigens fuhren wir dann noch rüber nach Altötting und
schauten uns Votivtafeln an. Natürlich ist auf den Tafeln gleichbleibend die
Mutter Gottes, nie aber die Heilige Familie zu sehen. Und doch hat man es
durchwegs mit familialen Bildern zu tun, gleichgültig ob von Rinderseuchen
oder Bombenangriffen erzählt wird.
Ich werde mit dem Volkskunstmuseum Kontakt aufnehmen und unseren Besuch
zwecks Übergabe der Heiligen Familie ankündigen. Freue mich darauf. Mit
herzlichen Grüßen
13/11/15 Lieber Berhard, das Weihnachtsbild von Franziskus ist interessant.
Ich habe ein ganz ähnliches von Giotto gefunden:
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Ob es dazu eine Geschichte gibt? Dass das Jesuskind einem kleinen Sarkophag
entnommen wird, ist wohl direkt (wie zu jener Zeit anderes auch noch) der
ostkirchlichen Ikonographie entnommen. Bei diesen Ikonen liegt das Jesuskind
ja immer in einem kleinen Sarkophag, um schon bei der Geburt an den
künftigen Leidensweg und Tod zu erinnern: nicht das Bildpersonal, sondern
den Betrachter. Die Verbindung mit einem offensichtlich liturgischen
Geschehen ist mir außer über die (fragwürdige) Theorien der Opfertheologie
nicht plausibel. Und welche Rolle Franziskus dabei zu spielen hat, ist mir
auch nicht klar. (Übrigens ist ja jetzt gerade René Girard gestorben, der zu
den Opfergeschichten so viel Kluges festgestellt hat.) Sicher hast du recht,
wenn hier auch der Topos des Kästchens/Körbchens mit evoziert wird, mit dem
Moses seine Lebensreise begann. Diese Mehrfachbezüge wurden ja damals noch
gut erkannt und gelesen. Auf großartige Weise zeigt in Bezug auf Altes und
Neues Testament das der Verduner Altar im Stift Klosterneuburg bei Wien mit
seinen drei Ebenen der Heilsgschichte. Ich habe mir dazu mal ein erklärendes
Buch gekauft. So unverfroren Analogien herzustellen: diese Freiheit
innerhalb eines Geschichtskreises muss lustvoll sein.
Was du zu Dorothee Golz sagst, da bin ich mit dir sehr einverstanden. Mich
hat nur interessiert, wie gut das funktioniert: diese Identifikation mit den
bekannten Mariendarstellungen. (Ein Bildvorrat, der rapide verloren geht.)
Wir sehen uns bald und darauf freue ich mich, herzlich Franz
14/11/15 Lieber Franz, die Übereinstimmung zwischen den beiden Gemälden ist
freilich verblüffend. Bei Giotto scheint mir die Gestik allerdings
doppeldeutig. Franziskus nimmt den göttlichen Knaben zwar aus der Krippe,
aber er könnte ihn genauso gut hineinlegen, also in den Sarkophag.
Tatsächlich wird hier der Leidensweg, der Tod vorweggenommen, freilich auch
die Auferstehung.
War eben in einem Cafè und las die heutige NZZ. Schnee von gestern. Der
Leitartikel: "Zeit für eine Revitalisierungskur." Es geht um das
Erfolgsmodell Schweiz. Nun dreht sich alles um die Terroranschläge der
letzten Nacht in Paris. Die Folgen sind unabsehbar. Da kommt mir unsere
Beschäftigung mit der Heiligen Familie doch etwas weltfremd vor. Aber da
gibt es auch den Kindermord von Bethlehem. Wie auch immer, nachdem die
Übergabe der Heiligen Familie langsam näher rückt, würde mich ihr
Migrantenschicksal noch interessieren. Sie wird ja, dessen musst du dir
bewusst sein, auch quasi sarkophagiert werden, in einem Depot des Museums
landen, allerdings mit der Möglichkeit, hin und wieder aus der Dunkelheit
ans Licht gebracht zu werden. Bis bald und mit herzlichen Grüßen
18/11/15 Lieber Bernhard, die Krippe ist eingepackt und mit Luftpolstern
geschützt. Es bleibt zu hoffen, dass man mich unterwegs nicht anrempelt. Ich
habe die Schachtel mit den unzähligen Dokumenten meines Großvaters (geboren
in Kempten) und Urgroßvaters duchgesehen, aber keine Hinweise auf die Krippe
gefunden. Mein Großvater (1878-1964) kam als Buchhändler 1899 in die
Schweiz, musste dann aber im ersten Weltkrieg in die Deutsche Armee
einrücken (wurde mit dem eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet, das ich
auch gefunden habe), kam nach dem Krieg wieder in die Schweiz, heiratete und
wurde schließlich 1931 für einen schon damals ansehnlichen Betrag (der etwas
1 1/2 Monatsgehältern entsprach) Berner Kantons- und Stadtbürger.
Verschiedentlich reiste er zurück in seine Heimat, und da wird er
wahrscheinlich nach dem Tod seiner Eltern (1917/1919) die Krippe mitgebracht
haben. Nebenbei habe ich auch eine Karte gefunden, auf welcher das
bethlehemische Jesu-Kindlein von Lenzfried bei Kempten abgebildet ist.
Dieses wurde 1756 während der Weihnachtszeit nach Bethlehem gebracht und
dort der Verehrung ausgesetzt (!). Wieder zurück in Lenzfried hat es in der
Pfarrkirche zu St. Mang sicher viel Gutes bewirkt. Zum Glück war das Kind
das Reisen gewohnt ... Ich grüße dich herzlich und freue mich auf Sonntag
(hoffe sehr, dass es mir auf den früheren Zug reicht, fürchte aber eher
nicht)
28/11/15 Lieber Bernhard, ja, die Heimreise ging unbelasteter vor sich als
die Hinreise; wobei, zumindest was die Richtung betrifft, die Hinreise für
die heilige Familie ja eher eine Rückreise war. Was die "Ironie" der
Verpackung betrifft, haben die drei Personen sich nichts anmerken lassen.
Sicher haben sie auch sogleich bemerkt, dass ihr neuer Aufenthaltsort sie
ihrer Stellung gemäß zu berherbergen gedenkt.
Übrigens ist mir noch der berühmte Esel von Maurizuio Cattelan in den Sinn
gekommen, der den Palmsonntag und vielleicht auch die Flucht nach Ägypten in
Erinnerung ruft, indem ein Medium durch ein anderes ersetzt wird.
Schön war der Spaziergang durch den spätherbstlichen Park, wunderbar die
Serviettenknödel, herzlich wiederum das Zusammensein mit euch. Ich danke
euch sehr.
Ich habe übrigens in den Jugend-Aufzeichnungen meines Großvaters
weitergelesen, ohne etwas zur heiligen Familie zu finden. Dafür beschreibt
er ausführlich eine Oster-Performance (um 1885), bei der am Karfreitag vor
dem Altar eine Art Krypta gebaut wurde, eine dunkle Höhle, in der dann von
unten durch einen Mechanismus der Leichnam Christi hineingeschoben wurde.
Auch von sehr ausgeklügelter Beleuchtung mit kleinen Kerzen hinter
Glaskugeln berichtet er. Schon in jungen Jahren spielte er im
Kirchenorchester die 2. Geige und kam praktisch jeden Sonntag zum Einsatz,
ohne das jemand je auf die Idee gekommen wäre, eine "Orchestermesse" vorher
zu proben. Ich wünsche euch ein gutes Wochenende und grüße euch herzlich
29/11/15 Lieber Bernhard, da erhalte ich nach dem Erscheinen des Textes für
die Buchhandlung von einem Künstler (und Psychiater) folgendes Bild:
Man glaubt es nicht! Da gibt es dieses Motiv also tatsächlich noch in
anderem Kontext!
Was muss das für ein Buch gewesen sein, dass Maria reitend las und das sie
dann sogar mit ins Bett nahm! Herzlich grüße ich dich
29/11/15 Lieber Franz, 1. Adventsonntag. Ich komme eben von meinem
Morgenspaziergang zurück. Ruth ging in die Jesuitenkirche, um sich auf die
Ankunft des Erlösers einzustimmen, ich ins Cafè, um Zeitung zu lesen. Es ist
jedes Jahr dasselbe. An den Adventsonntagen ist die ganze Gegend mit Bussen
vollgestellt (darunter selbst Busse aus Bern), die Touristen nach Innsbruck
karren. Ein ziemliches Aufgebot an Securityleuten ist mit dem
Herdenmanagement betraut, also damit, die Menschenströme ohne großen
Reibungsverlust Richtung Christkindlmarkt zu dirigieren. Mir ist das alles
unverständlich. Welchen Reiz könnte es haben, in solchem Gedränge Glühwein
zu trinken? Beim Glühwein, so teuer er auch sein mag, handelt es sich um
billigsten Fusel. Während dieser Zeit meide ich die Altstadt, schon allein
des penetranten Glühweingeruches wegen, auch wegen der klebrigen Straßen,
Folge verschütteten Glühweins. In der Altstadt sind in den frühen
Morgenstunden die Straßenkehrer unterwegs, sagen wir einmal, um den
Schweinestall auszumisten, das Erbrochene und die Glasscherben wegzuräumen.
In unserer Gegend wird das nicht so genau genommen. Da muss man sich an den
Anblick von Erbrochenem gewöhnen. Eben kommt Ruth aus der Messe. Wir
unterhalten uns über das Tagesevangelium. Wirklich passend: "... Wehe aber
den Schwangern und den Säugenden in jenen Tagen ... denn die Kräfte des
Himmels werden in Bewegung geraten ... Habt aber acht auf euch selbst, dass
eure Herzen nicht beschwert werden durch Rausch und Trunkenheit ..."
Schon wieder gibt sich Maria dem Lesen hin, während Josef sich um den
Gottesknaben kümmert, und das auf sehr zärtliche Art und Weise. Maurizio
Cattelan: Der bildschirmtragende Esel lässt tatsächlich an die Flucht nach
Ägypten oder auch an den Palmsonntag denken. Aber wie würde die Arbeit
wirken, hätte es die Flucht nach Ägypten oder den Einzug in Jerusalem nicht
gegeben, wüsste der Betrachter nicht um diese Geschichten? Wir dächten
vermutlich an einen Esel auf einer griechischen Insel. Bilder aus
Kinderbüchern oder Filmen wie Alexis Sorbas. Das wäre furchtbar trivial.
Erinnere mich an ein Kunstprojekt, bei dem ich mit einer Arbeit vertreten
war. Unter den Künstlern auch Maurizio Cattelan, damals noch ziemlich
unbekannt. Er verstand es sehr gut, den medienwirksamsten Platz zu besetzen.
Übrigens bediente er sich eines Bildes, es ging um einen Schriftzug, der in
allen Köpfen verankert ist. Und auch hier stellt sich die Frage, was
geschehen wäre, hätte er sich eines vollkommen unbekannten Schriftzuges
bedient. In den Medien hätte sich kaum ein Foto gefunden.
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Nun noch ein Josef von mir: Robert Campin, Josef in seiner Werkstatt, um
1425. Das Gemälde wurde von Kunsthistorikern gründlich dechiffriert. Was die
Deutung der beiden Mausefallen anlangt, herrscht Uneinigkeit. Nach
Augustinus ist Christus die Mausefalle des Teufels, nach einer anderen
Deutung lenkt Josef als Scheinehemann vom göttlichen Wirken Christi ab. Ich
überlasse dir die Lösung des Rätsels. Womöglich ist alles viel banaler. Für
das Brett, in welches Josef Löcher bohrt, haben Kunsthistoriker noch keine
schlüssigen Erklärungen gefunden. Es könnte sich um ein Beichtgitter handeln
(ferculum: Tragbahre, Speisebrett). Aber was hätte Josef schon zu beichten?
Bei der Josefsdarstellung handelt es sich um den rechten Flügel eines
Fügelaltares, auf dem auffallend viele Gitter zu sehen sind. In der Mitte
eine Verkündigung. Durch ein vergittertes Fenster fliegt der göttliche
Knabe, er ist auffallend klein und hat das Kreuz geschultert, direkt auf die
Jungfrau Maria zu. Dass sie in ein Buch vertieft ist, versteht sich von
selbst. Aber im Gegensatz zu anderen Verkündigungsdarstellungen verfügt sie
über zwei Bücher. In einem liest sie, das andere liegt aufgeschlagen neben
ihr auf dem Tisch. Das Brett, in welches Josef Löcher bohrt, bezeichnet das
Trennende und Verbindende zwischen Göttlichem und Menschlichem.
Dein Großvater beschreibt ein Heiliges Grab. Ich hab dir sicher schon
geschrieben, dass es im Innsbrucker Raum noch einige sehr beeindruckende
Heilige Gräber gibt, wobei ich sagen muss, dass ich sie nur dann wirklich
beeindruckend finde, sind sie Teil religiöser Praxis. Im Stift Zwettl ist
ein Heiliges Grab ganzjährig zu sehen. Hat mich nicht beeindruckt. Es
braucht eben Gläubige. Die Kerzen dürfen nicht beliebig angezündet werden.
Ich erinnere mich an eine automatisierte Heilige Familie, die ich in einer
Wallfahrtskirche gesehen habe. Warf man eine Münze ein, begann Maria das
Kind in der Krippe zu wiegen, Josef den Ochsen zu füttern, um dann wieder in
die Ruhestellung zurückzukehren. Da ist kein Unterschied mehr zu einer
Spielzeugeisenbahn oder einem Frosch aus Blech, den man aufziehen kann und
der dann eine halbe Minute herumhüpft. Mit herzlichen Grüßen
01/12/15 Lieber Bernhard, zur lesenden Maria: Natürlich (ich habe das nicht
mehr so deutlich im Bewusstsein gehabt) liest Maria fast in allen
Darstellungen der Verkündungsszene. Und da liest sie wohl im Alten Testament
(z.B. Jes 7,14) von der Ankündigung des Emmanuel. Mal abgesehen von der
Frage, ob die historische Maria lesen konnte und ihr Bücher zur Verfügung
standen, was uninteressant ist und niemand wissen kann, lohnt es sich doch
zu fragen, ob die mittelalterlichen Maler, die ja die biblischen und
religiösen Themen stets in ihre aktuelle Umwelt versetzten (siehe die Bilder
von den Wüstenvätern, die sich in mitteleuropäischen Landschaften aufhalten)
mit dieser lesenden Maria vielleicht noch etwas anderes ausdrücken wollten?
Wenn man bedenkt, dass Maria auch als neue Eva (AVE Maria - EVA), wie Jesus
als neuer Adam, interpretiert wurde (was ja auch eine interessante
Geburts-Umkehr bedeuten könnte!), dann wäre hier der verführerische Apfel
durch das Buch ersetzt. Und eine lesende Frau stellte doch damals
ikonographisch sicher eine sehr unerotische Besonderheit dar, so dass das
Buch auch in Indiz wäre für die unsinnliche Jungfräulichkeit der Maria. Und
diese bewahrt sie dann sowohl im Bett (nach der Geburt) wie auch auf der
Reise. Im Weiteren wird damit auch eine Art Distanznahme zum Mutterglück
signalisiert, da es ja Joseph ist, der sich um das Kind kümmern muss. Maria
wird später von Jesus als Mutter zurückgewiesen (Mk 3,31ff.) und sie
verliert ihn endgültig am Kreuz. (Im Übrigen finde ich auch keine Finger
zwischen den Seiten ...
Vielleicht wäre auch dem nachzugehen: Das Buch bei der Verkündung taucht
erst in den mittelalterlichen westlichen Darstellungen auf. Könnte das auch
damit zusammenhängen, dass es besonders in klösterlichen Zusammenhängen
viele kluge Frauen gab, auch Mystikerinnen, die jetzt sehr wohl wahrgenommen
wurden. (Sonst hätte Eckehart seine Predigten nicht in Frauenklöstern
gehalten.) Ich grüße dich herzlich
01/12/15 Lieber Franz, am letzten Sonntag in den frühen Morgenstunden hörte
ich in einer Religionssendung die Moderatorin sagen, Maria sei eine mutige,
moderne Frau gewesen. Mag sich die diesbezügliche Vorstellung auch einer
feministischen Theologie verdanken, so hat sie doch mit Theologie nicht das
geringste zu tun. Ich warte ja noch auf den Augenblick, an dem mir Maria als
Vorreiterin des Tierschutzgedankens entgegentritt. Verhäuslichungen und
Banalisierungen dieser Art, sie sind keineswegs neu, verraten das Mysterium.
Es ist das Wesen jedes Mysteriums, das Wort leitet sich von gr. myo, den
Mund schließen, ab, dass es sich letztlich eben nicht, nie fassen lässt,
auch dann nicht, wird es tausendfach umkreist.
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"Die hl. Anna lehrt die junge Maria das Lesen", um 1430. Mit Schulunterricht
hat das freilich nichts zu tun, nicht das Geringste mit dem Zugang von
Mädchen zu Bildung. Anna und Maria buchstabieren weniger als dass sie
Zeichen deuten, sie weisen auf Zeichen, eben auf das, was geschrieben steht,
auf den göttlichen Plan, in dem Maria später eine wichtige Rolle zukommen
wird. Das Motiv taucht nicht zufällig um 1430, also im Vorfeld der
Reformation auf, also zu einem Zeitpunkt, in dem die Bibel, die Heilige
Schrift als Botschaft betont wird. So betrachtet, geht es nicht allein um
die Maria zugedachte Rolle, sondern auch um den Gläubigen, der die Botschaft
lesen soll. Dass die lesende Maria nichts mit Sinnlichkeit zu tun hat, lässt
sich anhand vieler Verkündigungsdarstellungen bestens belegen. Und ganz
anders als in der höfischen Porträtmalerei des sechzehnten und siebzehnten
Jahrhunderts, in der uns immer wieder Frauen begegnen, deren Zeigefinger der
rechten Hand zwischen den Seiten eines zugeklappten Buches steckt, ist Maria
stets in ein aufgeschlagenes Buch vertieft. Im Gegensatz zu den erwähnten
höfischen Porträts ging es hier nie um die Symbolisierung von
Empfängnisbereitschaft. Wie hätte Gott das auch nötig! es geht um Marias
Einfügung in einen göttlichen Plan: "sie erwägt in ihrem Herzen ..."
Nun, an ein Ende gelangt, die Heilige Familie hat ja ihren Platz gefunden,
könnten wir erst recht beginnen. Es ging mir gestern so durch den Kopf, an
was wir alles nicht dachten.
Mit herzlichen Grüßen
05/12/15 Lieber Bernhard, in der Tat haben wir vieles noch nicht bedacht.
Wenn wir jedoch annehmen, dass unser Gedankenaustausch doch vor allem auch
ein Begleittext zur Reise der Heiligen Familie von Bern nach Innsbruck war
(eine Art flankierende verbale Maßnahme), dann hat unser diesbezügliches
Schreiben seine Aufgabe erfüllt. Was mir bei unserem Gespräch gefällt: dass
wir immer wieder zu den Bildern zurückkehren, also zum "Erscheinen" einer
möglichen Wahrheit, ohne dass wir uns einbilden, dahinter liege mehr als
wieder ein Erscheinen, eine stabilere (rationale?) Wahrheit als das, was
sich uns zu zeigen entschlossen hat. Tiefere Gründe sind ja noch lange keine
Ursachen.
Da kommt mir noch ein Zitat von Robert Walser in den Sinn: "Sind nicht alle
Dinge ineinander verstrickt, verbunden, verworren? Was sind die
Erscheinungen anderes als eine Kette, und was könnte die Welt anderes sein
als ein Verhängnis?"
Unser Gespräch wird nicht abbrechen, und darauf freue ich mich. Herzlich
grüsse ich dich.
© Franz Dodel / Bernhard Kathan 2015