Fukushima ist überall.
Der Naive wird davor warnen, sich auf derartige "dürstende Waren"
einzulassen - aber das ist natürlich lächerlich, da es nichtdürstende Waren
nicht gibt.
Und zwar gibt es diese deshalb nicht, weil es gar nicht das
einzelne Stück Ware ist, das dürstet; sondern das Warenuniversum als ganzes;
weil, was wir den "Durst der Dinge" nennen, nichts anderes ist als die
Interdependenz der Produktion, also die Tatsache, dass sich alle Produkte
auf einander beziehen und auf einander angewiesen sind.
Sich aus diesem Waren- und Produktionskosmos herauszuhalten, ist natürlich undurchführbar,
genau so undurchführbar, wie es der Versuch wäre, sich aus der Welt
herauszuhalten:
also zwar zu sein, aber nicht in der Welt zu sein.
Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen |
Mag die Katastrophe auch ihren Ort kennen, die Reaktoren in Fukushima lassen
sich nicht isolieren, nicht isoliert betrachten. Nicht das Einzelne, das
Ganze ist das Wahre. Die Reaktoren von Fukushima begegnen uns in all den
Geräten, die uns umgeben, in jedem Hundespielzeug, in jeder Plastiktüte, bei
jedem Google-Mausklick. Unser Leben ist durchdrungen von technologischen
Systemen, von denen viele längst ein Eigenleben führen, welches letztlich
niemand mehr zu beherrschen vermag. Man braucht nicht paranoid sein, um
festzustellen, dass all diese Systeme zu einer Magamaschine verschmolzen
sind. Bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts notierte Joseph Conrad:
Diese Maschine habe sich "aus einem Chaos von Eisenschrott entwickelt, und
siehe da! - sie strickt. Ich bin entsetzt und erschreckt über die
fürchterliche Arbeit. Ich bin der Ansicht, dass sie sticken sollte, aber sie
strickt weiter ... Und der wirklich bestürzende Gedanke ist, dass das
abscheuliche Ding sich selbst gemacht hat, ohne Plan, ohne Augen, ohne Herz.
Ein tragischer Zufall - und er ist geschehen. Man kann sich nicht
einmischen. Der letzte Tropfen Bitterkeit ist der Verdacht, dass man die
Maschine nicht einmal zerschlagen kann .... Sie strickt uns ein, und sie
strickt uns aus. Sie hat Zeit, Raum, Schmerz, Tod, Verderbnis, Verzweiflung
und alle Illusionen gestrickt - und nichts ist wichtig. Aber ich gebe zu,
dass es bisweilen amüsant ist, dem erbarmungslosen Prozess zuzuschauen."
Havarierte Atomreaktoren lassen sich tatsächlich nicht mehr abschalten. Sie
leben weiter, allen Versprechungen ihrer Beherrschbarkeit zum Trotz. Zwar
hat man es mit einer komplizierten Apparatur zu tun, aber im Unglücksfall
kommen einfachste Mittel zur Anwendung, Planen und Gartenschläuche, die man
sich in jedem Baumarkt kaufen kann, auch Babywindeln, um radioktiv
verseuchtes Wasser aufzusaugen, welches aus einem geborstenen Reaktor
austritt, gefärbtes Badesalz, um lecke Stellen zu finden. Als der Versuch
scheiterte, das Leck mit Beton oder Kunstharz abzudichten, versuchte man es
mit Sägespänen und Zeitungspapier. Erst Wasserglas, früher zum Einlegen von
Eiern verwendet, brachte den gewünschten Erfolg. Nicht Roboter, Menschen
kamen und kommen zum Einsatz. Fukushima, so traurig das Ereignis für die
Betroffenen auch sein mag, ist freilich nicht mehr als ein Bild, eine
Metapher einer monströsen und wahnwitzigen Ökomomie, die zweifellos viel
verheerendere Folgen haben wird als jene, die in Fukushima absehbar sind.
Und doch scheint für alle politischen Parteien, ganz gleich, ob sie für oder
gegen Atomkraftwerke sind, die Rettung der Welt einzig im
Wirtschaftswachstum zu liegen. Zyklisch organisierten Gesellschaften war die
Vorstellung fremd, die "Wirtschaft" könne wachsen, mochten sich einzelne im
Gegensatz zu anderen auch einen gewissen Reichtum aneignen. Gemeinwesen
funktionierten dann, war die Ernte gesichert. Moderne Gesellschaften kennen
dagegen die Vorstellung, dem Einzelnen wie der Gesellschaft ginge es nur
dann gut, würde die Wirtschaft wachsen, dies selbst dann, wächst die
Bevölkerung nicht. Im Augenblick wächst die Wirtschaft noch, sei es, weil
neue Bedürfnisse geweckt werden, weil die Lebensdauer vieler Produkte
abnimmt, viele Bereiche, die noch vor kurzem abseits des Marktes organisiert
waren, in die Kapitalwirtschaft gezwungen werden. Noch ist es mit Hilfe
zahlloser Direktiven in Sachen Wettbewerb, Umweltschutz, Tierschutz,
Soziales und so fort möglich, gebundene Gelder abzuschöpfen und in den
Kapitalmarkt zu schleusen. Es wird nur eine Frage weniger Jahre sein, um die
diesbezüglichen Grenzen deutlicher zu sehen. Auffallenderweise verdankt sich
das heutige Wirtschaftswachstum nicht zuletzt der Entsorgung, wobei zu
dieser Entsorgung neben Mull auch Menschen zu zählen sind, die es unter dem
Versprechen bestmöglicher Betreuung ökonomisch zu bewirtschaften gilt, um es
mit Günther Anders zu sagen, "dass alles und jedes, je nach
Wirtschaftssituation, zu solchem Unwert, also dazu verurteilt werden kann,
eine Liquidationsschlacke zu werden: Menschen nicht anders als
radiumverseuchter Atommüll, beweist ja unsere Epoche mit ausreichender
Deutlichkeit." Heute gälte es, in allen Lebensbereichen das Recht auf
Selbstbestimmung, jene Ressourcen wieder einzufordern, die längst dem
Wirtschaftswachstum geopfert wurden. Man könnte mit einem Leben belohnt
werden, welches Würde kennt und nicht aus einer Abfolge von Konsumakten wie
der Bewirtschaftung durch Experten besteht. Zu fürchten ist allerdings, dass
wir in einer Gesellschaft leben, der zehn Diebe lieber sind als ein Asket.
Man muss sich mit medial konstruierter Wirklichkeit beschäftigen, vom
Einzelnen absehen und Strukturen herausarbeiten. Tut man das nicht, tappt
man einzig von einer Katastrophe in die nächste, ist man zur steten
Wiederholung gezwungen. Die Katastrophe (gr. Καταστροφη,
Wendepunkt der Handlung in einer Tragödie, Wendepunkt nach unten) verdoppelt sich in der
Medienberichterstattung, auch längst ein unkontrollierbarer Selbstläufer,
die davon lebt, was sie zu beklagen vorgibt. Deshalb seien einfachste Mittel
und Geräte empfohlen: Buntstifte, billigste Kameras, billigste Drucker.
Einer Ökonomie, die von Abfällen lebt, die sie produziert (Plutonium ist
diesbezüglich ein sehr schönes Beispiel), kann man nur mit trash begegnen.
Übt man sich darin, so wird einem nur allzu schnell bewusst, dass zwischen
einer Misswahl, einem Supermarkt, einem Krankenhausaufenthalt, einem Krieg
und einem Atomreaktor kein großer Unterschied besteht. Überall haben wir es
mit Abfall zu tun, angefangen von trivialsten Konsumgegenständen bis hin zu
Menschen, menschlichen Körpern, menschlichen Erfahrungen. Die Welt, in der
wir heute leben, hat sich buchstäblich in Abfällen eingerichtet. Auch mit
ein Grund, warum alles so sauber sein soll und eine Hygienevorschrift die
andere jagt. Zu sehen sind Trashaufnahmen, die im Gegensatz zur heutigen
Medienwirklichkeit Räume zu öffnen vermögen, die das Allgemeine vor das
Konkrete stellen. Und betrachtet man diese Aufnahmen, so fallen alle
Katastrophen in eins. Fukushima ist überall.
Bernhard Kathan, 2011