Bernhard Kathan
Neue Garteneinträge. Nach Kurt Schwitters (Graberde), Pier Paolo Pasolini
(Lorbeerfrucht), Gabriele Münter (Eicheln), Rudolf Borchardt (Sämereien),
nun E.T.A. Hoffmann (Graberde) und die Brüder Grimm (Unkraut). Neben
Schwitters zählt vor allem E.T.A. Hoffmann zu den wichtigsten Figuren des
HIDDEN MUSEUM. Umso erfreulicher, dass gerade die beiden in homöopathischen
Dosen Eingang gefunden haben, mehr noch, kein Referenzobjekt auf sie zu
verweisen vermag. Das Verhältnis zu den Brüdern Grimm ist vollkommen anders.
Im Gegensatz Hoffmanns Lebenswerk kennt das ihre eine seltsame Biederkeit.
Ihr Eintrag verdankt sich dem Umstand, dass ihr Märchen "Die drei
Feldscherer" lange Zeit wichtigster Bezugspunkt und Deutungsfolie in einem
der Projekte war. Auch hier gilt, dass sich letzten Endes nicht sagen lassen
wird, ob einige der Sämereien überhaupt aufgegangen sind, und wenn ja, um
welche Pflanze es sich handelt. Überhaupt besteht die Absicht all dieser
Einträge mehr darin, Dinge zum Verschwinden zu bringen als sie sichtbar zu
machen. Damit steht der Museumsgarten in einem krassen Widerspruch zu den
meisten Gärten, die gerade das Sichtbare betonen. Manche Einträge ließen
sich zeigen, müssen aber all jenen verschlossen bleiben, welche die damit
verbundene Geschichte nicht kennen. Manches wiederum mag an anderes
erinnern, ist aber Folge eines Zufalls. Mögen auch all die von Hanns Heinz
Ewers in einer seiner Erzählungen erwähnten Giftpflanzen, nämlich
Christrose, Herbstzeitlose, roter Fingerhut, blauer Eisenhut, Wolfsmilch und
so fort vorhanden sein, so verdanken sich diese Pflanzen keiner
diesbezüglichen Absicht.
Ein Garten ist ein gefräßiges Verdauungssystem, ein großer Magen mit vielen
Mündern und Ausscheidungsorganen. Der von ihm verdaute Kompost kann etwa zu
ätherischen Ölen der Minze, des Thymians, des Zitronenthymians, des
Bohnenkrauts, Salbeis, der Melisse, Weinraute und vieler anderer Gewächse
verdaut werden. Diesem Verdauungssystem kann man viel, aber nicht alles
zumuten. Auch Organisches, ist es in seine Betandteile zerlegt, kann ihm
schlecht bekommen, wird es in größeren Mengen eingebracht. Öle und Fette zum
Beispiel. Günter Gstreins Spaziergänger, eine lebensgroße Figur aus
Rindertalg, benötigte mehrere Jahre, bis sie vollkommen abgebaut war. In den
Verdauungsapparat eines Gartens lassen sich dennoch vielfältigste
Materialien einbringen. Asche, Zeitschriften, Gemälde, Bücher. Man kann
Ausgaben der NZZ einfach liegen lassen und beobachten, was geschieht. Die
Kurzlebigkeit heutiger Informationen findet ihre Entsprechung in bedrucktem
Papier, welches sich, zwei drei Wochen der Sonne ausgesetzt, verfärbt und
dem Verfall nähert. Dabei steigt der Informationsgehalt mit dem Abstand zum
Erscheinungstermin. Die Beobachtung, dass Wespen die NZZ für ihren Nestbau
gegenüber anderen Zeitschriften bevorzugen, war für mich eine aufregende
Erfahrung. Wespen kennen andere Lesarten. Sie unterscheiden nicht zwischen
Börsenberichten, Werbung oder politischer Berichterstattung. Das Feuilleton
lässt sie kalt. Wespen schneiden aus, manchmal von den Rändern, dann aber
wieder in der Mitte beginnend. Sie produzieren Reststücke und Leerstellen.
Das Bild gefällt mir, behaupten Medien doch stringente Darstellungen, obwohl
sie bei genauerer Betrachtung ähnliche Bruchstücke und Leerstellen
produzieren. Wespen kauen für ihren Nestbau Pflanzenteile (oder auch
Zeitungspapier), wodurch ein reichlich mit chitinhaltigem Speichel
durchsetzter Brei entsteht. Aufgrund ihres Baumaterials werden die uns
bekannten Wespen auch Papierwespen genannt. Mit den Wespen ist auch der
Garten angesprochen. Ein Garten ist gesprächig, Identität kennt er jedoch
nicht. Er kennt nicht einmal Grenzen. Seine Grenzen verdanken sich einzig
menschlichen Vorstellungen. Wespen zählen wie Bienen, Wildbienen und eine
Vielzahl anderer Insekten, Kleinsäugern, Vögeln und Mikroorganismen zu
seinem Verdauungssystem. Die Verdauung der Einträge bedarf vielfältigster
Lebewesen, zu denen auch Pflanzen zählen. Ihre Wurzeln nehmen nicht viel
anders als Darmzoten von Mikroorganismen aufgeschlüsselte Nährstoffe auf.
Den größten Teil ihres Nährstoffbedarfs, sieht man einmal vom Wasser ab,
atmen sie ein. Sie ernähren sich also nicht viel anders als Cyrano de
Bergeracs Mondbewohner. Wir haben es mit einer Unzahl von Grenzgängern zu
tun. Die Pfefferminze wird wie nahezu alle Gewächse versuchen, die von
Menschen festgelegten Gartengrenzen zu überwinden. Sie bedient sich ihres
Wurzelwerks, welches, sich ausbreitend, an anderen Stellen Schösslinge aus
dem Boden treiben lässt. Andere Pflanzen haben raffiniertere Techniken
entwickelt, sei es, dass sie ihre Samen mit Hilfe von Sprengeffekten, mit
Hilfe von Tieren oder durch den Wind verbreiten lassen.
Die blassrote Stockrose, so viel sei preisgegeben, gedeiht auf dem Kopf
eines Wildschweines, der an eben dieser Stelle vergraben wurde. Wer es weiß,
für den verweist die Stockrose auf den Wildschweinskopf, dieser wiederum auf
Gottfried Keller und Katharina Prato, eine der erfolgreichsten
Kochbuchautorinnen um 1900. Bei Keller finden sich mehrfach Geschichten von
Totenschädeln. Die Knochen sind freigelegt. Darunterliegendes ist sichtbar
geworden. Katharina Prato dagegen bringt in Köpfen- und Häuten zum
Verschwinden, macht unsichtbar, während sie gleichzeitig die Oberfläche, das
Schaustück betont. Warum nicht die beiden zu einem fiktiven Mahl laden?
Aufgetragen wird der gefüllte Kopf eines Wildschweins, allerdings heutigen
Geschmacks- und Formvorstellungen entsprechend zubereitet. Pratos Rezeptur:
"Schweinskopf: Der Kopf von einem jungen Schwein mit einem Stück Hals daran
wird abgeschnitten, rein geputzt, gesengt und auf der untern Seite
aufgeschnitten, worauf man ihn so auslöst, daß an der Haut nur eine
fingerdicke Fleischschicht bleibt, welche man dann mit Salz und Pfeffer
bestreut. Das herausgegenommene, von den Beinen gelöste Fleisch und noch
einmal so viel Fleisch von den Schultern oder Kalbfleisch und frischer Speck
wird feingeschnitten, mit Salz und Gewürz gemischt und gestoßen. Dann
schneidet man geräucherte, nur halbgekochte Zunge in daumendicke Streifen,
geräucherten Speck in kleinfingerdicke Streifen und Gansleber und überkochte
Ohren zu Nudeln. Man belegt nun die Haut auf der Fleischseite mit Schichten
von Fasch, legt zwischen diese das geschnittene Fleisch ein, wobei man mit
den Farben abwechselt, näht dann die Haut mit Spagat zusammen, näht auch
Augen und Schnauze zu und heftet über den Halsschnitt ein rundes Stück Haut
von der Schulter. Dann wickelt man den Kopf fest in ein Tuch, kocht ihn
wenigstens zwei Stunden mit gesalzenem Wasser, Wurzeln, Gewürzen, Knochen
und Scheins- und Kalbsfüßen, läßt ihn im Sude erkalten, nimmt ihn sodann
heraus und schwert ihn ein wenig ein. Der Sud wird geklärt und gesulzt.
Hierauf löst man den Kopf aus dem Tuche, trocknet ihn ab, schneidet am Halse
eine Scheibe weg, bestreicht die Kopfhaut mit Fleischglace, legt den Kopf
auf eine Schüssel, ziert ihn mit Rosetten von Aspik und gibt das übrige
Aspik herum. Man serviert eine kalte Senfsauce mit Kräutern und Kapern
dazu." Was aber, wenn der Schuss des Jägers die Haut unbrauchbar macht, der
Jäger, in Unkenntnis vergangener Traditionen, Wangenfleisch und Zunge
entfernt, den Kopf dicht am Schädel abtrennt, der Topf zu kein ist oder die
Gäste das schöne Stück nicht zu schätzen wissen?