Kleine Gespensterkunde






Sagt man, die Gespenster der Vergangenheit machten sich wieder bemerkbar, so ist dies metaphorisch gemeint, wenngleich unbestreitbar ist, dass die Vergangenheit, Vergangenes, in unsere Gegenwart hereinreicht und in diese hineinwirkt, als genetische Festlegung, als Erinnerung, als Bildervorrat, als unbewusste Delegation. Längst überwunden geglaubte Vorstellungen können wiederaufleben. Tatsächlich haben wir es heute mit Gespenstern der Vergangenheit zu tun.

Unabhängig voneinander fielen uns letzthin eines Morgens zwei kleinere Steine auf, die auf der frisch gemähten Wiese unter dem Nussbaum lagen, und zwar so, als hätte sie jemand bewusst hingelegt. Die beiden Steine, ein kugeliger weißer und in der Mitte durchbohrter Stein und ein dunkler, von einer weißen Ader durchzogener Stein, jeweils mit einem Durchmesser von etwa fünf Zentimetern, liegen üblicherweise neben neun anderen und deutlich größeren Steinen auf dem Fenstersims. Dass die zwei Steine im Gras lagen, berührte uns seltsam, beschäftigte uns an diesem Tag aber nicht weiter. Wir legten sie wieder auf das Fenstersims. Am folgenden Tag lagen die beiden Steine wieder unter dem Nussbaum, auch nun schienen sie wieder nach einer gewissen Ordnung gelegt. All das wiederholte sich nun täglich, bis auf ein Mal, als es in der Nacht sehr kalt war. Um dem rätselhaften Phänomen auf die Spur zu kommen, spielten wir im Laufe der Tage alle Möglichkeiten durch. Auf menschliches Tun war es nicht zurückzuführen. Auf dem Estrich vor dem Fenster exakt ausgelegte trockene Fichtenrinde lag in der Früh genau so da, wie ich sie am Vorabend hingelegt hatte. Hätte sich ein Mensch nächtens dem Fenster genähert, die Rindenstücke wären durcheinandergeraten, manche von ihnen wohl zerbrochen. Auch kaum ein Tier kam infrage. Siebenschläfer, sie treiben sich nachts mit Vorliebe im Nussbaum herum, vermöchten die beiden Steine nicht zu tragen, schon allein ihres geringen Körpergewichtes wegen. Wäre etwa ein Marder oder ein Fuchs auf den vor dem Fenster stehenden Tisch gesprungen, dann hätten einige der dort abgestellten Weingläser umfallen müssen. Unter den Vögeln hatte ich Waldohreulen im Verdacht, aber so gut wie alles sprach dagegen. Und warum sollte sich ein Tier jede Nacht mit zwei Steinen befassen, unter elf Steinen immer dieselben auswählen, mehr noch, diese jeweils in eine auffallende geometrische Ordnung, in eine Zahlenordnung bringen?

An zwei Tagen betrug der Abstand zwischen den beiden Steinen exakt 100 Zentimeter. Allerdings lag der weiße Steine einmal rechts, dann wieder links. Die tägliche Vermessung des Abstands zwischen den Steinen und ihres jeweiligen Abstands zum Nussbaum ergab etwa folgende Zahlenfolgen: 100 / 200 / 240; 160 / 200 / 280; 70 / 100 / 240; 260 / 300 / 340.

Das Tierleben kennt natürlich viele Formen einer instinktiven Mathematik. Als bekanntestes Beispiel sind Bienenwaben zu nennen. Aber stets haben wir es mit ökonomischen Prinzipien zu tun, bei denen Funktion und Aufwand in einem optimalen Verhältnis zueinander stehen. In der geometrischen Anordnung der Steine war dagegen kein ökonomisches Prinzip zu erkennen, kein wie immer gearteter Nutzen, der uns aus dem Tierleben bekannt ist. Wir hatten es also mit einem Gespenst zu tun, was mir Gelegenheit bot, dem Gespenstischen auf den Grund zu gehen, in Zwiesprache mit einem Gespenst zu treten, wohl wissend, dass dies nur mittels Zeichen, nicht aber sprachlich möglich ist. Es folgten diverse Eingriffe. Ich konnte die Steine auf dem Fenstersims umordnen, weitere oder anderes hinzufügen. Die Interaktion mit dem Gespenst ließ mich an ein Brettspiel denken. Mit Spielen, die sich in Gespenstergeschichten finden, hatte es freilich wenig gemein. Wir spielten nicht mit Knochen oder Totenschädeln, nur mit einfachen Steinen. Der Tag war meine Zeit, die Nacht die des Gespenstes. Stand ich auf, konnte ich die Weiterführung und Neuanordnung sehen. Das Ganze hatte nichts Gespenstisches. Nur einmal, als ich zwischen den Steinen stand, vermeinte ich eine klagende Lispelstimme aus der Erde zu vernehmen. Ich hätte also nach einer Schaufel greifen und ein Loch graben können, um dem Geräusch auf den Grund zu gehen. Ich verwarf den Gedanken sofort, kam mir das doch zu lächerlich vor: ein Loch graben? Und käme etwas zum Vorschein, dann entweder ein Goldschatz oder Knochen? Ersteres war ohnehin auszuschließen, Zweiteres zwar nicht undenkbar (das Gelände hat seine Geschichte, auch Zwangsarbeiter waren hier beschäftigt), aber höchst unwahrscheinlich.

Geradezu zwangsläufig musste ich an Edgar Allen Poes Erzählung „Die Morde in der Rue Morgue“ denken, geht es darin doch „um verblüffende Fragen, deren Lösung jedoch nicht außerhalb des Bereichs der Möglichkeit liegt“. Auch wenn ich es weder mit einer verschlossenen Tür noch mit grauenvollen Morden zu tun hatte, so hätte mir die Erzählung einen wichtigen Hinweis geben können. Bedauerlicherweise legte ich sie zur Seite, zumal die Geschichte eines Affen, der Rasieren spielt und dabei mit einem Rasiermesser den Kopf einer Frau abtrennt, höchst unplausibel klingt, ganz abgesehen von der üppigen sexuellen Metaphorik der Erzählung. Dienlicher schienen mir Poes „Bemerkungen über Geheimschriften”, betrachtete ich doch die nach einer gewissen Ordnung täglich neu gelegten Steine als Zeichensystem, letztlich als Mitteilung, die es zu entziffern galt.

An einem der Abende schrieb ich in großen Blockbuchstaben: „Die Zeichen sehe ich wohl, weiß aber um deren Bedeutung nicht. Bitte um weitere Hinweise.“ Ich befestigte den Zettel unter dem Fenstersims. Können Gespenster lesen? Einen Versuch war es allemal wert. Ich ordnete die Steine auf dem Fensterbrett neu, fügte einen kugeligen schwarzen Stein hinzu, auch eine in Silberpapier eingewickelte Schokoladekugel. Am nächsten Morgen zeigte sich folgendes Bild: Dieselben zwei Steine lagen wieder in der Wiese. Die schwarze Steinkugel lag auf dem Boden, so als hätte sie jemand verärgert weggeworfen. Die Schokoladekugel war verschwunden, das Silberpapier lag unter dem Nussbaum, in der Nähe des Stammes. Die Umhüllung schien auf der einen Seite wie von Fingern aufgedreht. Dagegen waren in der Mitte Hackspuren festzustellen, wie wir sie etwa von Raben kennen. Gut möglich, dachte ich mir, dass das Gespenst mit mir ein Spiel treibt.


Die Lösung war dann recht einfach, fast banal: Am Vorabend des letzten Tages, also nach zwei Wochen, legte ich neben die zwei fraglichen Steine wieder eine in Silberpapier eingewickelte Schokoladekugel, dazu noch einen weiteren weißen Stein (Durchmesser etwa sechs Zentimeter), dessen Form an ein menschliches Ohr gemahnte. Am folgenden Morgen wurde ich etwa um sieben Uhr in der Früh – zu einer Zeit also, zu der es momentan taghell ist – durch ein Klopfgeräusch geweckt, das von unten zu hören war. Durch das Fenster konnte ich eine Elster sehen, die mit ihrem Schnabel auf einen der Steine einhackte. Sie bemerkte mich und flog weg.

Ich hatte es also nicht mit einem Gespenst, sondern mit einer Elster zu tun. Allein dadurch erklärt sich bereits die Auswahl der Steine. Die Elster wählte stets jene Steine, die sie mit ihrem Schnabel zu fassen vermochte. Der weiße Stein wäre eigentlich zu groß gewesen, aber durch das Loch in der Mitte konnte sie ihn mit dem Schnabel aufnehmen. Ähnliches galt auch für den etwas größeren weißen Stein, den ich am letzten Abend auf das Sims gelegt hatte: Dieser hatte eine flache seitliche, zungenförmige Ausbuchtung, die es der Elster ermöglichte, den Stein zu fassen. Das Verhalten der Elster war gar nicht so rätselhaft, wie es scheint. Klopft eine Elster auf einen Stein, so lockt sie Insekten hervor oder scheucht zumindest welche auf. Erinnern wir uns: Die Wiese war frisch gemäht. Nie hätte die Elster die Steine in hohes Gras getragen.

An meiner Dokumentation, die dem Bemühen galt, eine Möglichkeit nach der anderen auszuschließen, ist wenig auszusetzen, bedenkt man die mir zur Verfügung stehenden Mittel: Bleistift, Papier, Meterstab, Fotoapparat und Lupe. Natürlich suchte ich das Umfeld jeden Morgen nach anderen frischen Spuren ab, nach Kot (auf dem Fenstersims fand sich tatsächlich ein Kotfleck, der aber nicht von einer Waldohreule herrühren konnte, an die ich zunächst dachte) oder auch nach Federn (hinter dem Gebäude lag die Feder einer Elster, von mir zu wenig beachtet).

Einige der Denkfehler, die mir unterlaufen sind, seien hier erwähnt. Ich ordnete die Dislokation der Steine fälschlicherweise der Nacht zu. Mit Nacht assoziieren wir nicht zuletzt auch Gespenster. Die auffallende Positionierung der Steine wie ihr Verhältnis zueinander ließ mich an Zeichen, an eine symbolische Bedeutung denken. Waren sie auch alles andere als zufällig gelegt, ein wie immer gearteter Zeichencharakter ist nachträglich auszuschließen. Ordnet die Elster zwei oder gar drei Steine in einem gewissen Abstand zueinander an, so dürfte dies schlicht damit zu tun haben, dass ihre Insektenjagd erfolgreicher ist, wenn sie zwischen nicht zu weit voneinander entfernt liegenden Steinen hin und her springen und diese beklopfen kann. Der entscheidende Fehler lag in der Annahme, das Gespenst oder wer auch immer würde eine bewusste Wahl zwischen den elf auf dem Fenstersims liegenden Steinen treffen. Wie wir jetzt wissen, trifft dies nicht zu, kamen doch nur die verwendeten Steine infrage. Alle anderen Steine hätte die Elster ihres Gewichtes, ihrer Größe wegen nie unter den Nussbaum tragen können, die beiden weißen Steine auch nur deshalb, weil sie diese dank ihrer Form zu fassen vermochte. Gut denkbar, dass die Elster auch die schwarze Steinkugel unter den Nussbaum transportieren wolle. Beim Versuch, diese in den Schnabel zu nehmen, entglitt ihr die Kugel, fiel auf den Tisch und rollte von dort auf den Estrich.

Aber auch an diesem letzten Morgen war die Anordnung bemerkenswert. Zu sehen war ein exaktes gleichschenkliges Dreieck mit den Seitenlängen 90, 90 und 85 Zentimeter. Hätte ich die Lage der Steine zueinander mit einer fest installierten Kamera dokumentiert, das Ergebnis ließe sich in jeder Kunsthalle zeigen. Aber auch so unterlägen wir wieder einem Irrtum. Elstern ist Kunst fremd, so fremd, wie uns die Welt der Elstern ist. Und somit wären wir wieder bei den Überlegungen, die ich am Anfang angestellt habe. Die Geschichte mit dem Gespenst macht deutlich, wie schnell wir für Dinge, die uns irritieren, Erklärungen (er)finden. Etwas ähnliches erleben wir heute im Umgang mit den Eindringlingen. Ich verwende die Bezeichnung „Eindringlinge“, werden doch all die Flüchtlinge, Asylwerber, Migranten etc. längst als solche betrachtet und behandelt. Inzwischen müssen die Eindringlinge in Ermangelung anstürmender Menschenmassen simuliert werden. Dabei haben wir es mit vielen falschen Deutungen von Einzelereignissen zu tun. Auch eine Art Brettspiel, und zwar ohne Gegenspieler. Wie in dümmsten Gespenstergeschichten wird mit Knochen und Totenköpfen gespielt, und zwar – um zu Poes Kriminalgeschichte zurückzukehren – mit dem Ziel: „...‚denier ce qui est, et d’expliquer ce qui n’est pas’, wie es in Rousseaus ‚Nouvelle Héloise’ einmal heißt“ – zu leugnen, was ist, und zu erklären, was nicht ist.

© Bernhard Kathan, Sommer 2018
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