GOTT | SUCHT | KEIN | MUSEUM






Das Religiöse ist aus den Kirchen ausgewandert, findet sich heute in Museen, in der Werbung, im Konsum. Auch hier haben wir es mit Heilsversprechen, mit den Phantasmen von Schuld und Bestrafung zu tun. Wie jede Religion bedient sich die Werbeästhetik binärer Codes (rein - schmutzig, sicher - bedrohlich, dazugehören - draußen stehen, etc.). Auch die Konsumgesellschaft kennt Reinheitsgebote (naturbelassen, ohne Zusatzstoffe, kontrolliert etc.). Informationsbroschüren zum risikolosen oder gesundheitsfördernden Konsum sind an die Stelle kirchlicher Erbauungsliteratur getreten. Werbeeinschaltungen dienen der Gewissenserforschung, der ständigen Überprüfung des eigenen Selbst an vorgegebenen Idealen. Wir üben uns nicht viel anders als frühere Menschen im richtigen Leben, versuchen, zwar nicht gute, so doch gesunde und erfolgreiche Menschen zu sein.

Walter Benjamin sah im Kapitalismus in Abgrenzung von Max Weber nicht nur ein "religiös bedingtes Gebilde", sondern eine "essentiell religiöse Erscheinung". Er dachte sich den Kapitalismus als reine Kultreligion, "vielleicht die extremste, die es je gegeben" hat. Man müsse ihn als Kult von permanenter Dauer begreifen, gäbe es doch keinen Wochentag, "keinen Tag[,] der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes[,] der äußersten Anspannung der Verehrenden wäre." Arbeitsfreie Tage werden heute als Tage des Konsums verstanden. Subtiler ist eine weitere Bemerkung Benjamins, nämlich jene von der "äußersten Anspannung der Verehrenden". Dies lässt sich in jedem Shoppingcenter eindringlich beobachten, geradezu fühlen. 1921, als Benjamin seine kurze Skizze "Kapitalismus als Religion" schrieb, war es noch zu früh, dies so zu behaupten. Heute, nachdem die herkömmlichen Religionen an Bedeutung verloren haben, lässt sich deutlicher sehen, welche Mythen und Praktiken an deren Stelle getreten sind.

Nahezu alle Phänomene des Kapitalismus lassen sich als religiöse Phänomene beschreiben. Werbung ist sowohl Heilsversprechen wie das Postulat einer auch künftighin unvollkommenen Welt. Die alte Frage, warum Gott in seiner Vollkommenheit das Übel in der Welt zulasse, hat sich in die Werbung verlagert. Moden lassen sich wiederum als Kurzzeitreligionen begreifen, Marketing als Gottesdienst am Kunden, Produkte wiederum als Fetische, denen über ihren eigentlichen Gebrauchswert hinaus ganz andere Funktionen zukommen. Werbung ist eine der entscheidenden Institutionen der postmodernen Gesellschaft. Sie behauptet Kontinuität. Dabei wird die Lebenszeit von Produkten oder Moden zunehmend kürzer. Während man früher den Namen Gottes nur unter Vorbehalt aussprechen durfte, so ist heute das Wort "Kapitalismus" zum eigentlich unaussprechbaren Wort geworden. Obwohl dieser unser ganzes Leben durchdringt, ist das Wort seltsam verpönt, ja geradezu obszön. Ein wesentliches Merkmal aller Religion ist, dass sie sich nicht besprechen lässt, oder um es in der Sprache der Psychoanalyse zu sagen, im Dienste der Konfliktabwehr steht. Im Gegensatz zur heutigen Konsumreligion verfügt das Christentum über eine lange Tradition des Zweifels wie des Bemühens um den wahren Kern. Der Kapitalismus funktioniert dagegen weitgehend aus sich selbst heraus, oder um es mit Walter Benjamin zu sagen, ohne "spezielle Dogmatik", ohne jede Theologie. In der postmodernen Gesellschaft verspricht und bedeutet Konsum Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Im Gegensatz zur Vorstellung der "Kommunion", was sich von communio, also "Gemeinschaft" ableitet, kennt Konsum letztlich keinen Austausch mehr.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Spiele wie das DKT eben dies anschaulich machen. Es gilt durch Kauf und Verkauf von Grundstücken, Gebäuden oder Verkehrsunternehmungen Vermögenswerte zu schaffen. Allen Spielern steht zu Beginn dasselbe Startkapital zu. Erfolg hat der, der seinen eigenen Nutzen zu maximieren weiß. Ist ein Spieler trotz Verkauf seiner Häuser, Hotels etc. nicht mehr in der Lage seine Zahlungen zu leisten, übergibt er seine restlichen Aktiven der Bank, welche diese zur Versteigerung bringt und den Erlös, abzüglich des eventuell bestehenden Darlehens samt Zinsen, dem Gläubiger ausfolgt. Der zuletzt verbleibende Spieler gewinnt. An den Nutzen der Gemeinschaft wie an ein effizientes Teilen und Verteilen von Ressourcen ist nicht gedacht. Ironischerweise wird auch der Sieger zu einem Verlierer. Am Ende bleibt er allein, gibt es doch niemanden mehr, der von ihm etwas kaufen oder dem er etwas verkaufen könnte.

Benjamin hatte als einer der ersten eine Vorstellung von der verschuldenden Wirkung dieses neuen Kults. Er ahnte, was es bedeuten muss, wenn das Begehren auf die Stufe eines Bedürfnisses herabgewürdigt wird. Wer immer Konsument ist, ist auch als Kunde definiert. Wer immer Kunde ist, ist latent mit Schuld behaftet. Dies gilt für die Altersvorsorge ebenso wie für Geräte des täglichen Gebrauchs. Funktioniert Ihr PC nicht, dann liegt es vermutlich daran, dass Sie das Gerät nicht richtig zu bedienen wissen. Es liegt an Ihnen, wenn Sie zu dick werden oder an der neuen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit erkranken. Sie hätten es wissen, die Gebrauchsanleitung besser studieren müssen. Wer sich darüber beklagt, irrt. Wir haben es mit religiöser Praxis einer diesseitigen Religion zu tun.

Was treiben Ruth und Irene in Bruegels "Kreuztragung Christi"? Sie unterhalten sich im Freien. Das Treiben, das sie umgibt, lässt die beiden unbeeindruckt. Dass sich in ihrer Nähe ein Mensch dem Tod entgegenschleppt, unter der Last des Kreuzes zusammenbricht, dass sich auf der Richtstätte, auf der Schädelstätte bereits eine schaulustige Menge eingefunden hat, scheint die beiden nicht im Geringsten zu berühren. Kein Wunder, die beiden wurden nur ins Bild gepixelt, und zwar von Roland Albrecht vom Museum der unerhörten Dinge. Inzwischen sind die beiden auf oder in weiteren kunstgeschichtlich bedeutsamen Gemälden zu sehen. Werbeästhetik. Freilich fehlt es an einem Produkt, auf welches die Geschichte zu verweisen vermöchte. Unterwäsche? Softdrinks? Eier von glücklichen Hühnern? Keine Ahnung.

Oben meinte ich, das Religiöse sei aus den Kirchen ausgewandert. Das stimmt natürlich. Manche versuchen, das Religiöse mit Mitteln der Kunst in Kirchen wieder zu implementieren. Entscheidender scheint mir eine andere Frage. Hat es Gott je in eine Kirche gedrängt? Ich finde die Tage im Kirchenjahr, die dem abwesenden Gott gelten, die Interessantesten. Freilich nur, steht der Tabernakel offen, zeigt sich der Altar als grobes Holzgestell, brennt kein ewiges Licht, erklingt keine Glocke, ist aller Schmuck entfernt, sind die Bilder verhängt. Heute ist das nur noch selten zu sehen. Die alten Mesmer sterben. Aber sehe ich es noch, dann kann sich mir der Gedanke aufdrängen, dass sich Gott genau an diesen Tagen in der Kirche häuslich macht.

Machte letzthin wieder einmal einen Spaziergang zum Höttinger Bild, einer kleinen Wallfahrtskirche mitten im Wald, der Gottesmutter, sich selbst wie den Besuchern überlassen. Ich war oft dort, könnte manche Geschichte erzählen. Ich denke an den Hund, der in dichtem Schneetreiben vor meinen Augen erschossen wurde. An den Strafentlassenen, der hier auf eine betende Nonne einstach und Stunden später erschossen wurde. Ich könnte auch manch schöne Geschichte erzählen. Aber offensichtlich schreibt sich der Tod besser in unser Gedächtnis ein als das Begehren. Als ich eintrat, saß in der ersten Reihe, also dort, wo ich vor Jahren die Blutspuren der Nonne sah, eine junge Frau und betete. Das Geräusch der zufallenden Kirchentüre, die darauf folgende Stille, die junge Frau im Gebet, das hat mich berührt: "Was ist doch für ein Unterschied zwischen einem, der in der Kirche betet und einem, der sie wie ein Museum besucht!" Für die Kerzen muss man 70 Cent einwerfen, aber genaugenommen ist es ein konsumfreier Raum. Vielleicht kann sich hier Gott noch häuslich machen. Als ich die Kirche verließ, wurde mir klar, dass dies nicht möglich wäre, stünden davor Devotionalienbuden wie in Altötting.

Gibt es einen Museumsshop, dann kann es im Museum keinen Gott geben. Bestenfalls könnte sich Gott in einem versteckten Museum häuslich machen, in einem Museum, welches keinen Museumsshop kennt, um Facebook und Twitter einen weiten Bogen macht, sich der kabbalistischen Vorstellung eines Zimzums, wonach die Erschaffung der Welt ein Zusammenziehen Gottes zur Voraussetzung hat, verpflichtet fühlt. In einem solchen Museum müsste Gott sich einrichten können. Aber das hat er bisher noch nicht gemacht. Das Museum ist per se ein gottloser Raum. Wir haben uns immer wieder bemüht, Gott mit unseren kunstbeflissenen Schmetterlingsnetzen einzufangen. Wir sind dabei stets gescheitert. Gott, das Göttliche, ist zu feinporig, das Schmetterlingsnetz zu banal. Gott lässt sich weder herbeibeten, noch musealisieren. Er braucht den leeren Raum.

Es ist kein Zufall, dass Gott außerhalb des Museums mit mir Kontakt aufnahm. Ich saß spätabends vor dem Museum und betrachtete den Sternenhimmel. Eine klare Nacht. In meinem Kopf hatte sich der Ärger der letzten Tage häuslich gemacht. Zorn, der sich nicht entladen kann, hat Selbstgespräche zur Folge. Während sich meine Gedanken um meinen Ärger drehten, wurde ich plötzlich zwischen all den Sternen auf einen kleinen leuchtenden pulsierenden Punkt aufmerksam. Zu meiner Überraschung wurde dieser Punkt größer und größer. Er bewegte sich auf mich zu, kam mir näher und näher. Keinesfalls eine Sternschnuppe, die bereits verglüht ist, noch ehe man einen Wunsch ausgesprochen hat. Das rätselhafte Etwas war, als es etwa in zwei Metern Entfernung vor mir halt machte, auf die Größe eines Schreibtisches angewachsen. Aber statt eines Schreibtisches, den ich nur erwähne, um eine Vorstellung von der Größe der Erscheinung zu geben, war eine Wolke zu sehen. Zu meinem noch größeren Erstaunen ragte Gott höchstpersönlich daraus hervor. Er sah genau so aus, wie ich ihn mir in meiner Kindheit vorgestellt hatte. Ein sehr alter Mann mit langem grauem Bart. Mit traurigen Augen blickte mich Gott, an den ich gar nicht glauben kann, an und sagte dann mit bestimmter, aber sanfter Stimme: "Dein Zorn in Ehren, aber sei nicht ungerecht!" Und schon fiel die Erscheinung wieder in sich zusammen, in jenen unsichtbaren Punkt, in dem sich die Widersprüche aller Welten versöhnen. Das erlebte Glücksgefühl wirkte tagelang nach. Gott, das verstand ich an jenem Abend, ist alle Werbeästhetik fremd. Er richtet sich nicht an Massen, wohl auch ein Grund für die Erfolglosigkeit seines Wirkens. Übrigens fiel Gott nicht mit einem distanzlosen "Hallo" ins Haus.

Bernhard Kathan 2015

Lektüreempfehlung: Johannes Rauchenberger: Gott hat kein Museum / No Museum Has God. 2015, 3 Bände im Schuber, 1.121 Seiten, 1.427 farb. Abb.,
ISBN: 978-3-506-78241-0
EUR 148.00
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