Jeannot Schwartz: Eine Wintergeschichte
I
Einem Mädchen werden die Hände abgehauen, abgehackt, abgeschlagen, weil sie
ihren Vater nicht heiraten will, weil dieser sie dem Teufel verkauft hat
oder ihr das Beten verwehren will, weil die auf ihre Schönheit eifersüchtige
Stiefmutter oder Schwägerin sie beim Vater oder Bruder verleumdet hat. Das
Mädchen wird daraufhin vertrieben. In einem Garten mit Früchten begegnet sie
einem König, Prinzen oder einem stattlichen jungen Mann, der sie trotz der
abgeschlagenen Hände heiratet. Als sie in Abwesenheit ihres Mannes einen
Jungen oder Zwillinge gebiert, wird sie von der Schwiegermutter oder von der
Stiefmutter, die sie einst aus dem Haus vertrieb, bezichtigt, zwei Hündchen
zur Welt gebracht, einen Hund und eine Katze, einen Wechselbalg oder ein
Scheusal geboren zu haben, in dem man weder einen Dämon noch eine Schlange
erkennen könne. Die junge Königin wird mit ihrem Kind oder den beiden
Zwillingen neuerlich vertrieben. Das Kind oder die beiden Kinder werden ihr
dabei in einem Tuch auf die Brust oder den Rücken gebunden. Manchmal lässt
sich die junge Frau selbst ihre verstümmelten Arme auf den Rücken binden.
Als sie an einer Quelle ihren Durst zu stillen sucht, entgleitet ihr das
Kind oder eines der Kinder. Kaum sucht sie es im Wasser zu erhaschen, bildet
sich ein neuer Arm mit einer geschmeidigen Hand. Auf dieselbe Weise erhält
sie auch ihren zweiten Arm zurück. Die Hand kann nachwachsen, aber auch im
Wasser angeschwommen kommen und anwachsen. Kehrt ihr Mann aus dem Krieg
zurück, beginnt er seine Frau zu suchen. Er begegnet ihr in einem Wald,
allerdings ohne sie zu erkennen. Sie ist es, die sich ihm deutlich macht,
sei es, dass sie dem Sohn den Vater nennt oder ihrem Mann die Narben an
ihren Armen zeigt.
II
Wie kaum ein anderer Künstler beschäftigt sich Jeannot Schwartz seit vielen
Jahren mit der menschlichen Hand. Zu sehen sind aus Ton gebrannte
Greifskulpturen, zumeist in kürzester Zeit entstandene Objekte, eben einen
Augenblick des Greifens, Haltens, Drückens einer oder beider Hände
dokumentierend. Diese Arbeit ist allein deshalb bemerkenswert, weil sie in
einem völligen Widerspruch zur visuell organisierten Welt unserer Zeit
steht. All die Objekte sind weniger für das Auge (Sehen) als für das
Empfinden (Nachempfinden eines bereits vergangenen Augenblicks) gemacht. Ein
sehr widerspenstiges Plädoyer für die Hand. Freilich tritt das Taktile in
der musealen Inszenierung hinter das Visuelle zurück. Aber auch dann, wenn
kein Besucher eines der Objekte in die Hand nehmen, all die Objekte einzig
betrachten kann, so verweisen die endlosen Variationen der Formen auf die
Vielgestaltigkeit der Hand, auf die in der Hand angelegten Möglichkeiten.
III
Mädchen ohne Hände. Ein anderes Bild: Fotos von Mädchenklassen aus der
ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Sind die Hände der Mädchen nicht
mit Schreiben beschäftigt, dann haben sie still auf der Pultfläche zu
liegen. Untätig sollten sie sein, nichts erkunden, nichts tun. Unter der
Pultfläche hatten sie nichts verloren. Da könnten sie eine andere
Beschäftigung suchen, Zwiesprache mit Nachbarshänden führen, diese
Kinderhände könnten Briefchen weiterreichen, in Schwindelzetteln kramen. Was
könnte nicht alles unter der Pultfläche, im Dunkeln, in den für den Lehrer
oder die Lehrerin uneinsehbaren Bereichen geschehen. Unter dem Tisch ist
auch der Unterleib, und der ist nicht weit von der Hölle entfernt. Als hätte
es nicht gereicht, Kinder in enge Schulbänke zu pferchen, auch die Hände
galt es zu disziplinieren. Lehrer fürchteten, die Ordnung geriete aus den
Fugen, seien die Hände am falschen Platz. So verwundert es auch nicht, dass
wichtige Strafen den Händen galten, insbesondere der Tatzen, also das
Schlagen der Hände mit dem Zeigestock. Eine andere Handstrafe: Stehen oder
Knien mit ausgestreckten Armen. Zur Strafverschärfung konnten die Hände mit
einem Buch beschwert werden. Betrachtet man Klassenfotos der letzten Jahre,
dann scheinen heutige Schüler geradezu frei zu sein. Auffallend aber auch
die Posen, die heutige Schüler einnehmen. Sie zeigen sich wie sie gesehen
werden wollen, und zwar in Gesten, die allesamt dem Kino, dem Fernsehn,
Videoclips und der Werbung entstammen, sie verhalten sich, als sei ihr Leben
eine ununterbrochene Casting-Show. Und oft genug kommt den Händen dabei eine
Zeichenfunktion zu.
IV
Die menschliche Hand kann rasch zupacken, festhalten, drücken, schieben,
formen; die Hand kann einen Gegenstand umschließen oder kleinste Gegenstände
zwischen Daumen und Zeigefinger oder gar zwischen zwei Fingernägeln
festhalten. Sie ist ein Universalwerkzeug für den vielfältigsten Gebrauch.
Über die Hand erfahren und begreifen wir unsere dingliche Umwelt. Als real
erleben wir etwas, wenn es sich "begreifen" lässt, wir haben etwas
verstanden, wenn wir es "begriffen" haben. Durch die Hand erschließt sich
dem Menschen die ihn umgebende Welt. Unter den zahllosen Körpermetaphern ist
die Hand, gefolgt von der Haut, den Augen und dem Verdauungstrakt das
prominenteste Organ: es ist nicht mehr zum Packen, es ist nicht mehr zum
Aushalten; etwas aushalten, etwas ertragen. Dagegen: sich tragen lassen: von
einem Gefühl, von der Arbeit. Getragen wird man als Kind, die intensivste
Form findet sich im Getragenwerden im Mutterleib. Verwandt: sich fallen
lassen, loslassen. Dagegen: durchhalten: sich in einer unangenehmen oder
bedrohlichen Situation mit großer Kraftanstrengung behaupten; eine Sache in
die Hand nehmen: etwas einer Entscheidung zuführen; erst wenn die Hand
zugreift, lässt sich Ordnung in Unordentliches bringen, wird der Gegenstand
konkret und übersichtlich; sich verdrücken; die Hände über dem Kopf
zusammenschlagen; freie Hand lassen; ihre Hand ist nicht mehr frei; ich will
dich auf Händen tragen; das liegt auf der Hand; ich komme nicht mit leeren
Händen; ich wasche meine Hände in Unschuld; ich weiß es aus erster Hand; bei
dir ist die Sache in besten Händen; Hand aufs Herz; ich kann die Sache doch
nicht aus der Hand geben; sich mit Händen und Füßen wehren; die Hände sind
mir gebunden: ich kann nicht, ich will nicht; ich will die Gelegenheit beim
Schopf packen; da berührt mich aber etwas unangenehm; etwas berührt mich:
etwas bewegt mich, löst Gefühle in mir aus, geht mir nahe; etwas ist mir in
die Hände gefallen: ich habe Glück gehabt, etwas ohne Anstrengung erreicht;
gut von der Hand gehen: gelingen; einen Trumpf in der Hand haben, jemand die
Hand reichen, das Ruder in die Hand nehmen, die Fäden fest in die Hand
nehmen, die Hand ins Feuer legen: wer die Hand für etwas ins Feuer legt,
garantiert, bürgt. So er es nicht mache, werde er seine Hand ins Feuer
legen; Hand an sich legen: sich das Leben nehmen; mit eiserner Hand, eine
starke Hand haben, eine glückliche Hand haben, eine lockere Hand haben, um
die Hand anhalten, von der Hand in den Mund leben, die Hände in den Schoß
legen, in guten Händen sein, zwei linke Hände haben, ungeschickt sein; alle
Hände voll zu tun haben: beschäftigt sein bis zur Grenze der Überforderung.
V
Das Motiv vom Mädchen mit den abgehauenen Händen kennt zahllose Varianten.
Stets haben wir es mit einem mechanischen Ablauf zu tun. Auf ein Ereignis
folgt, so als blätterte man in einem Buch eine Seite um, das nächste. Mit
Maschinellem im Sinne von Technischem hat es freilich nichts zu tun. Das
Motiv ist archaischen Vegetationsmythologien zuzuordnen. Die abgehauenen
Hände meinen die im Herbst absterbende Vegetation. In einem der Märchen
lässt sich die Tochter eines Witwers von einer Frau in der Nachbarschaft,
auch sie ist Witwe, die Haare kämmen. Unschwer lassen sich die Haare mit
künftiger Vegetation gleichsetzen. In einem anderen Märchen dringt Pierre,
er hat seiner Schwester Hélène beide Arme abgeschlagen, genau in dem
Augenblick ein Dorn in den Fuß, als er sie in einem tiefen Wald aussetzt.
Kaum hat er sich, nach Hause zurückgekehrt, an den Herd gesetzt, beginnt der
Fuß anzuschwellen. Aus dem Dorn wächst ein mächtiger Baum durch den Kamin
hinauf. Angewachsen muss Pierre nun warten, bis Hélène zurückkehrt, um ihn,
wie versprochen, zu erlösen. Entsprechend den Vegetationszyklen sind all die
Märchen dieses Motivs zyklisch organisiert. Hélène muss kommen und das
gegebene Versprechen einlösen wie das Mädchen ohne Hände nichts anderes
erlebt als das, was die böse Stiefmutter erlebt hat. Mag die böse Schwägerin
in dem für Hélène bestimmten Kessel mit kochendem Wasser umkommen, gewiss
ist, dass auch Hélène später in einem Kessel mit heißem Wasser umkommen
wird. Mühelos ließe sich das Ende des Märchens mit seinem Anfang verknüpfen,
also zu einer Geschichte, die sich endlos wiederholt, die weder Anfang noch
Ende kennt. Das Mädchen ohne Hände kann sich nicht zurückwenden, es kann nur
vorwärts schreiten. Ob es sich in einem Haus, in einem königlichen Garten,
im Wald oder in einem Schloss befindet, wir haben es nicht mit Orten,
sondern mit einer zeitlichen Abfolge zu tun. Immer wieder wird die Zahl
sieben genannt. Nach sieben Jahren kehrt der König aus dem Feld heim. Sieben
Jahre lebt die junge Frau in einem Haus im Wald. Sieben Jahre sucht der
stattliche junge Mann in Steinklippen und Felshöhlen nach seiner Frau.
Sieben Jahre isst und trinkt er nichts. Gott hält ihn am Leben. Sieben
Monate liegen zwischen dem Absterben der Blätter im Herbst und ihrem
neuerlichen Treiben im Frühjahr. In jenen fernen Zeiten, in denen die
Wurzeln des Motivs zu suchen sind, erlebten die Menschen dies zweifellos als
bedrohlich. Das Überleben des Winters und die Wiederkehr des Frühlings war
keineswegs gewiss. Archaische Vegetationsmythen sind binär codiert. Zum
vergossenen Blut (die abgeschlagenen Hände), zum Absterben des Lebens
(verbluten) fügt sich die Quelle, heilendes und reinigendes Wasser
(keimendes Leben), zum Vater die Tochter, zum Mann die Frau, zur Tochter die
Stiefmutter und so fort. Auffallenderweise fehlen die Zahlen fünf und zehn,
hat doch die Hand fünf, beide Hände zehn Finger. Dagegen wird die Zahl zwei
betont: zwei Hände, zwei Arme, zwei Kinder, Zwillinge, zwei Lieblingshunde,
zweimalige Vertreibung, zweimalige Vertauschung des Briefes, Stiefmutter und
Schwiegermutter. Mit Hilfe der im Motiv erwähnten Zeichen suchten Menschen
vor langer Zeit das Wettergeschehen, die Unwägbarkeiten der Natur wie der
Vegetation zu erklären. Wir verfügen über andere Zeichensysteme, den
Wetterbericht, wir haben gelernt, die Natur zu beherrschen.
VI
Wer die Erfahrung gemacht hat, weiß um den Unterschied. Man kann von einem
Gegenstand ein Foto machen oder diesen mit einem Bleistift flüchtig
skizzieren. Das Foto behauptet von sich genau zu sein, aber besser im
Gedächtnis bleibt etwas, haben wir eine Zeichnung gemacht. Zeichnen ist ein
wesentlich aktiverer Vorgang als das Drücken eines Knopfes. Das Tätig-Sein
der Hand während des Zeichnens gräbt sich besser ins Gehirn ein. Denken und
Erinnern bedürfen sinnlicher Erfahrung.
VII
Jene Zeit, die das Mädchen ohne Hände im Wald verbringt, ist als eine Art
Latenzzeit zu betrachten, in der unschwer der Winter zu erkennen ist. Das
weiße Tuch, welches nachts vom Gesicht des stattlichen jungen Mannes
rutscht, bezeichnet die Schneedecke, die schon bald den Boden darunter
wieder freigeben wird. Im Wald lebt das Mädchen ohne Hände in vollkommener
Gleichförmigkeit. Wie das Herz auch während des Schlafes im Körper schlägt,
so sitzt Hélène im Wipfel einer Eiche und der Wind schlägt die Blätter des
Gebetbuches um, das auf ihren Knien liegt. Die Begegnung mit dem König, dem
Prinzen oder dem stattlichen jungen Mann, die Geburt eines oder zweier
Kinder, bezeichnet nichts anderes als das keimende Leben, welches unter der
Schneedecke angelegt ist. In einem der Märchen weinen das Mädchen ohne Hände
und der stattliche junge Mann, haben sie sich endlich wieder gefunden,
Freudentränen. Wo immer eine Träne hinfällt, da erblüht eine wunderschöne
Blume. Und wo immer sie gehen, brechen bei Blumen und Bäumen Blüten auf.
Stets fragt der König, der Prinz oder der stattliche junge Mann nach dem
Wesen des Mädchens, welches im Dickicht raschelt oder im Baum sitzt: Du bist
zwar von menschlichem Angesicht und menschlicher Gestalt, doch dir fehlen
beide Hände - was für ein Wesen bist du? Was für ein Tier könne das wohl
sein? Das Mädchen ohne Hände gerät in die Nähe von Tieren, kann es doch
nicht mit Händen greifen, ist es gezwungen, mit dem Mund nach Früchten zu
schnappen und von diesen abzubeißen. Es kann die Nahrung nicht mit den
Händen zum Mund führen, es muss die Nahrung mit dem Mund suchen. Das Mädchen
ohne Hände ist einzig Zeichen in einer endlosen Narration von abfallenden
Blättern und keimenden Knospen. Keine der oben erwähnten Metaphern trifft
auf es zu. Es hat nicht alle Hände voll zu tun, es kann seine Hände nicht in
den Schoß legen, selbst dann nicht, verfügt es über solche. Es hält auch
nicht um eine Hand an. Wird geheiratet, dann einzig deshalb, weil es die
Mythologie fordert. Nun, was hat das Märchen vom Mädchen mit den
abgeschlagenen Händen mit Jeannot Schwartz' Arbeit zu tun, kann es doch
nicht greifen, fehlen ihm doch seine Hände, begreift es nicht, hat es Hände?
Muss sich immer alles bruchlos in die Geschichte fügen? Ein Hinweis sei
nicht verschwiegen: Jeannot Schwartz' Greifskulpturen verbringen über den
Winter eine museale Latenzzeit. Sie bleiben während dieser Zeit vollkommen
sich selbst überlassen. Nur wer zufällig durch die Scheiben blickt, kann sie
sehen. Wirklich dem Publikum werden sie an einem Tag im März gezeigt, zur
Zeit der Schneeschmelze. Allerdings werden sie, kaum ist der letzte geladene
Gast eingetroffen, wieder in Kisten verpackt.
VIII
Jeannot Schwartz hat eine Reihe komplexer Skulpturen geschaffen, die dazu
anhalten, Ergriffenes nachzugreifen. Dies gilt etwa für seine Türgriffe oder
Handläufe. Am Innsbrucker Institut für Kunstgeschichte ließ er Türgriffe
nach Handabdrücken von Institutsmitgliedern gießen. In wenigen Jahren werden
Menschen diese Türklinken drücken, die keine oder nur noch vage Erinnerungen
an jene Personen haben werden, die so "verewigt" sind. Im hinterlassenen
Handabdruck, den andere umfassen müssen, wollen sie ihr Arbeitszimmer
betreten, verschränkt sich Vergangenes mit Gegenwärtigem in bester Form. Und
sollten diese Türgriffe über lange Jahrhunderte benützt werden, dann wird
sich irgendwann durch vieles Berühren die Erinnerung an das Original, an
jene Person also, nach deren Handabdruck der Türgriff geformt wurde,
verloren haben. In einem der langen Quergänge an der Theologischen Fakultät
in Innsbruck, das Gebäude wurde im siebzehnten Jahrhundert errichtet,
realisierte Jeannot Schwartz einen Handlauf in der Länge von 100 Metern.
Auch hier waren erstarrte Hand- und Fingerbewegungen nachzugreifen, die des
Künstlers. Während solche Arbeiten stets als Rauminstallationen konzipiert
sind, sind die im HIDDEN MUSEUM gezeigten Objekte eher beiläufig entstanden,
als Forschungsarbeit, die sich mit den Möglichkeiten der Hand, des Greifens,
Nachgreifens, Festhaltens eines längst vergangenen Augenblicks beschäftigt.
Diese Objekte lassen sich nur schwer zeigen. Einmal stehen sie im
Widerspruch zu ästhetischen Vorstellungen, dann liegt ihre Bedeutung weniger
im einzelnen Objekt als in den zahllosen Wandlungen und Variationen.
Bemerkenswert ist die große Anzahl solcher in den letzten zehn Jahren
entstandenen Objekte. Ich habe mich dafür entschieden, sie in dichter,
großer Menge zeigen, und zwar ohne dabei auf eine besondere Ordnung zu
achten. Aber spätestens hier stellte sich die Frage, ob es diesen Objekten
nicht mehr entspräche, sie in einem vollkommen dunklen Raum auf Tischen
aufzulegen, die Besucher einzuladen, sich im Dunkeln durch die Objekte zu
tasten? Nicht zufällig bedient sich Jeannot Schwartz in der fotografischen
Dokumentation dieser Objekte eines schwarzen Hintergrundes, von dem sie so
sehr aufgesaugt werden, dass nur noch grob ihre Oberflächenstruktur zu
erkennen ist.
IX
Sergej Eisenstein schreibt, Museen müsse man bei Nacht besuchen. Denn nur
nachts, insbesondere dann, wenn man allein sei, bestünde die Möglichkeit,
das Wahrnehmbare nicht nur anzuschauen, sondern damit zu verschmelzen.
Während seines Mexico-Aufenthaltes führt ihn der Direktor eines Maya-Museums
nachts durch die Ausstellungsräume. Die beiden sind allein. Nach einem
Stromausfall bewegt sich Eisenstein durch die dunklen Räume, ein Streichholz
nach dem anderen anzündend, von einer steinernen Götterfigur zur nächsten:
"Die Statuen wirkten unverhältnismäßig wunderlich, unsinnig,
unproportioniert und ... in ihren Maßen gesteigert, weil sie durch ein
angezündetes Streichholz bald hier, bald dort plötzlich aus der Dunkelheit
herausgerissen wurden. [...] Durch das plötzliche Aufflammen der
Streichhölzer in verschiedenen Ecken des mit steinernen unbeweglichen
Monstern gefüllten Saales schienen diese gleichsam lebendig zu werden. Die
Veränderungen der vom Licht erzeugten Verkürzungen während der
Beleuchtungspausen, wenn die Streichhölzer erloschen, erweckten den
Eindruck, als veränderten die Steinfiguren in der Zwischenzeit ihre Lage und
wechselten die Plätze, um die Wagehälse, die ihre jahrhundertealte Ruhe
störten, mit ihren weitaufgerissenen runden, toten, granitenen Glotzaugen
von einem anderen Blickpunkt aus anzusehen." (Yo. Ich selbst).
Eisenstein tastet sich nicht durch die steinerne Götterwelt. Seine Hände
sind mit Streichhölzern beschäftigt. Er sucht keine Verschmelzung.
Schließlich wird er von seinem Begleiter aufgefordert, wenigstens einmal
hinzugreifen, nämlich die Geschlechtsteile zweier Götter zu fühlen,
abzutasten. Der Direktor im dunklen Saal: "Fühlen Sie, wie abgenutzt der
Granit ist?" Eisenstein schreibt nicht, ob er der Aufforderung nachkam. Eher
nicht, dachte er doch gewiss an die vielen Menschen, die seit Jahrhunderten
diese Geschlechtsteile im Glauben berührten, so teile sich ihnen etwas von
der Kraft der Götter mit. Er muss an den von inbrünstig Gläubigen zur Hälfte
weggeküssten Fuß der Petrusfigur im Petersdom denken. Mit solchem
Aberglauben wollte er nichts zu tun haben. An anderer Stelle erwähnt
Eisenstein Feindseligkeiten, die ihm während der Dreharbeiten in einem Dorf
entgegenschlugen. In der nicht weniger irrationalen Vorstellung, die meisten
der Dorfbewohner seien an der Syphilis erkrankt, trugen alle an den
Dreharbeiten Beteiligten Handschuhe. Eisenstein verstand das Misstrauen der
Dorfbewohner nicht. Er sah die Feindseligkeiten als Ausdruck ihres
Aberglaubens. Die rückständigen Dorfbewohner hätten die "hygienische"
Funktion der Handschuhe nicht erkannt. Vielmehr hätten sie geglaubt, diese
würden deshalb getragen, um Krallen zu verbergen. Von den Bauern seien sie
als Vertreter des ‚Unreinen' betrachtet worden, während diese selbst zu "90%
syphilisiert" gewesen wären: "Erst als zufällig jemand aus unserer Gruppe
einen Handschuh auszog, wurde das Vertrauen wieder hergestellt." (Schriften
4, "Das Alte und das Neue") Der Abstand zwischen Eisenstein und den
Dorfbewohnern war so groß wie jener Abstand, der uns beim Lesen des Märchens
vom Mädchen ohne Hände von jenen Menschen trennt, die vor langer Zeit mit
dieser oder verwandten Geschichten die Welt zu erklären suchten. Das
Misstrauen der Dorfbewohner war begründet. Tatsächlich verbargen sich unter
den Handschuhen Krallen. Eisenstein und seine Begleiter kamen nicht, um sich
mit dem Leben dieser Menschen zu beschäftigen. Sie kamen, um eben diese
Menschen in ihrer Erbärmlichkeit zu zeigen, im Kino ihre Rückständigkeit
bloßzustellen. Eisenstein schreibt zwar, Museen müsse man nachts besuchen,
denn nur dann bestünde die Möglichkeit, das Wahrnehmbare nicht nur
anzuschauen, sondern damit zu verschmelzen. Aber wie das Dunkel der
Museumssäle bleibt ihm das Dunkel des Archaischen fremd. Ein Abdruck von
Eisensteins rechter Hand? Dann aber den Abdruck seiner behandschuhten Hand.
X
Seit dem Beginn der frühen Neuzeit verschob sich unter den menschlichen
Sinnen die Wahrnehmung zugunsten des Auges. Der moderne Mensch ist denn auch
Zeichenleser, oft genug wird er selbst zum Zeichen. Man denke an die Medizin
mit ihren bildgebenden Verfahren. Wird die Hand benötigt, dann haben wir es
vor allem mit den Fingerspitzen, nicht aber mit der Handinnenfläche zu tun.
Ob Tastaturen, Touch-Screens, Geldausgabeautomaten oder Handys, wir
bezeichnen mehr die Welt als wir sie mit Händen erfahren. Hans-Dieter Bahr:
"Werkzeuge, Geräte, Apparaturen, Maschinen und Technologien entfernen den
sinnlichen Leib von der Empirie der Natur, brechen die hautnahen
Einwirkungen. Gewiß 'sehen' wir noch die Welt, hören, fühlen, tasten,
riechen, schmecken wir sie, empfinden ihre Bedrohungen oder ihr
Frühlingshaftes. Aber indem unsere Eingriffe und Sprengungen, unsere
Umlenkungen und Reisen in sie auf die Maschine übergehn, trennt sie sich in
eine Welt der nur noch durch unsere Sinne abzulesenden Erscheinungen und in
eine Welt der Bewegungen, von der wir wenig erfahren und deren 'Empirie' uns
die Maschinen zumeist selbst erst herstellen müssen, bevor wir sie
wahrnehmen können. So heben uns die Maschinen von unserer leiblichen
Sinnlichkeit ab und übersetzen sie in eine 'kontemplative' Struktur. Man
spricht angesichts der Erscheinungen immer weniger von 'Er-fahrungen', immer
mehr von 'Daten', weil sie uns weniger in Bewegung bringen als vielmehr über
Bewegungen informieren. - Andererseits steigern die Maschinen diese
rezeptive Sinnlichkeit ins Unermeßliche. Durch sie gehen wir mit dem Feuer
um, ohne zu verbrennen, mit den Flüssigkeiten, die uns nicht nur
davonsickern und entströmen, mit dem Wachstum, das uns nicht mehr
überwuchert oder nur dahinwelkt, und wir gehen mit Elementen und Strahlungen
um, für die wir keine Sinnesorgane hatten. So steigern die Maschinen die
Sinnlichkeit, die sie uns zugleich vom Leibe hält." (Über den Umgang mit
Maschinen, 1983)
Die Fähigkeit der Hand, durch Berührung zu empfinden, hat an Bedeutung
verloren. Empfinden kann man genaugenommen nur mit der offenen Hand. Die
Fingerspitzen eignen sich kaum dazu. Die Wahrnehmungsfähigkeit der
Handfläche unterscheidet sich grundlegend von jener der Fingerspitzen.
Während die Handfläche diffuse Empfindungen wahrnehmen kann, sind die Finger
befähigt, feine Oberflächenstrukturen zu differenzieren. Berühren ist nicht
nur ein aktiver Vorgang, sondern gleichermaßen eine passive Erfahrung. Eine
Berührung im eigentlichen Sinn bedeutet, dass man selbst berührt wird, sich
berühren lässt. Die passive Berührung ist die Grundlage der eigenen
Körpererfahrung. Über die Hand (Haut) nehmen wir die Welt wahr wie wir durch
solche Berührung von der Welt geschrieben, geformt werden. Wer mit Ton
arbeitet, formt nicht einfach Ton, er selbst wird durch den Ton oder Lehm
geformt. Bilder, die in unser Gehirn dringen, formen uns auch. Aber sie tun
dies auf eine ganz andere Weise, nie dialogisch. Das Auge ist vor allem
Sortierorgan, stets hält es die Welt auf Distanz. Nun mag man einwenden, es
gäbe doch den austauschenden Blick der Liebenden. Aber eben dieser Blick
drängt, weil Sehen keinen wirklichen Austausch erlaubt, nach Berührung. Er
ruft nach Haut und Händen.
Bernhard Kathan
21/12/2008