Der Stier von Uschgul war dem Gotte Germet geweiht. Vier Jahre war es ihm
gestattet, alles Gute des Lebens zu genießen: er konnte weiden, wo er
wollte, fressen, was er wollte. Selbst aus Gärten wurde er nicht vertrieben.
Im Gegenteil, man war glücklich, fraß er die Kohlköpfe im eigenen Garten.
Nie wurde er geschlagen oder vertrieben. Im fünften Jahr wurde er
abgestochen und gemeinsam verzehrt. Es wäre sinnlos gewesen, auch nur einen
der Uschguler nach der Bedeutung des Stiers oder des Festes zu fragen. Hätte
aber das geheime Bewusstsein der Menschen auf irgendeine Weise einen
körperlichen Mund gefunden, so hätte dieser wohl behauptet, dass das
totgeweihte heilige Tier Gott und Opfer zugleich sei und dass der des
Göttlichen teilhaftig werde, der von seinem Fleisch esse. Und einen solchen
Stier tötete Fürst Phutha! Alle blieben stumm. Keiner vermochte den Knaben
zu fragen, wie es geschah. Der Knabe zitterte. Drei Jahre vorher war dieser
schwarze, ungeheuer große Stier mit dem weißen halbmondförmigen Flecken auf
der Stirn als Opfer ausersehen worden. Drei Jahre lang wurde er vergöttert.
Während die anderen Stiere in den Wintermonaten wie Gefangene an Krippen
festgebunden waren, war dem heiligen Stier keine Beschränkung auferlegt:
nach Belieben konnte er sich im Freien aufhalten und sich in frischer Luft
tummeln. So war es auch jetzt gewesen.
Jean de Léry erwähnt in seinem Brasilianischen Tagebuch aus dem Jahr 1557,
die menschenverzehrenden Tupinamba vertilgten alles restlos, was am Körper
der Gefangenen von der Spitze der großen Zehen bis zur Nase, zu den Ohren
und der Schädeldecke zu finden sei. Lediglich das Gehirn, das sie niemals
anrührten, bilde eine Ausnahme. Außerdem schlichteten die Tuupinambaúlts in
ihren Dörfern die Köpfe in Haufen, wie man es in Frankreich auf den
Friedhöfen mit den Tötenköpfen tue. Sie sammelten sie auch die größten
Knochen der Schenkel und Arme, um daraus Pfeifen und Pfeile anzufertigen,
ferner die Zähne, die sie ausreißen und wie Rosenkränze aufreihen würden.
Diese trügen sie dann als Ketten um den Hals.
In dieser für Léry fremden Gesellschaft war die Tötung wie der Verzehr der
Gefangenen höchst ritualisiert und basierte auf einem komplexen System
wechselseitiger Abhängigkeiten. Die Gefangenen konnten längere Zeit unter
jenen leben - männlichen Gefangenen wurde gar eine Frau zugestanden -, die
sie später töten und verspeisen sollten. Der Verzehr des Opfers verlangte
und billigte wiederum Opfer der feindlichen Stämme. Das Opfer willigte nicht
nur in seinen Tod ein, der Tötungsakt fand im Zentrum des Dorfes, unter
Anwesenheit der Dorfbewohner statt. Der Leichnam des Opfers musste, bevor er
zerlegt und auf die Bratroste gelegt wurde, entsprechend gereinigt werden,
so gründlich, dass er - wie Léry schreibt - weißer werde, als dies den
französischen Köchen gelänge, würden diese ein Spanferkel zum Braten
vorbereiten. Und natürlich sollten alle der Anwesenden vom Fleisch essen
können. Es ging nicht darum, Hunger zu stillen, sondern um einen
symbolischen Akt.
Wenngleich Léry, Montaigne oder andere den Menschenfressern einiges an guten
Sitten zugestanden, so galten sie doch als Gegenbild der abendländischen
christlichen Kultur. Statt Essen Fressen: Tischsittenlos, am Boden sitzend,
ohne Besteck, welches zwischen dem, was einverleibt wird, und dem, der
einverleibt, zu differenzieren vermöchte. Der dem Opfer verpflichtete
Verzehr basierte allerdings auf einer höchst komplexen Kultur, in welcher
der Bezeichnung wechselseitiger Abhängigkeiten größte Bedeutung zukam. In
früheren Gesellschaften haben die Menschen die Welt vor allem durch den Mund
erfahren: ein Paradox, hatten sie doch meist wesentlich weniger zu essen.
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Wir essen nicht, wir ernähren uns, schlingen zwischen Terminen und
Verpflichtungen Nahrung in uns hinein. Essen hat einmal Teilhabe bedeutet,
an dem, was vorhanden war, was sich verzehren ließ, im besten Fall Teilhabe
an einem Tierkörper, der als Braten auf den Tisch kam. In der postmodernen
Gesellschaft verspricht Konsum Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Im
Gegensatz zur Vorstellung der "Kommunion", was sich von communio, also
"Gemeinschaft" ableitet, kennt Konsum letztlich keinen Austausch mehr.
Konsument ist jemand, der nur noch zu sich nimmt, sich etwas einverleibt.
Konsum verspricht zwar Teilhabe, betont letztlich aber die Differenz zu
anderen. Wer die richtige Kaufentscheidung trifft, verfügt im Verhältnis zu
anderen über mehr Chancen, im Extremfall um Überlebenschancen. Liest man das
Versprechen umgegekehrt, dann werden die eigentlichen Inhalte offenkundig.
Der postmoderne Mensch ist ständig davon bedroht, am gesellschaftlichen
Leben nicht mehr teilnehmen zu können, als nicht mehr vollwertíg zu gelten,
"out" zu sein, "draußen zu stehen", "unten durch" zu fallen.
In der Regel sind heute die Essenden voneinander getrennt, und dies auch
dann, wenn sie zur selben Zeit essen und vielleicht sogar an einem
gemeinsamen Tisch sitzen. Wir essen buchstäblich Trennkost. Schon bereitet
sich die Lebensmittelindustrie darauf vor, für jeden Essenden sein
individuelles Menü zu produzieren. Gab es bislang die Trennung zwischen
jenen, die Schweinefleisch aßen und jenen, die es als unrein ansahen, die
Trennung zwischen jenen, die Fleisch aßen und jenen, die sich fleischlos
ernährten, so haben wir es heute mit einem vollkommenen Durcheinander an
Speisevorschriften zu tun. Übergewichtige, Untergewichtige, Allergiker,
Herz-, Leber-, Nieren-, Magen- und Rheumakranke, sie alle benötigen einen
eigenen Menüplan. Schon kündigt sich ein Speiseplan nach
Blutgruppenzugehörigkeit an. Der individuellen Ausgestaltung von
Ekelempfindungen, die sich auf das Essen beziehen, sind keine Grenzen
gesetzt. Lust auf Essen stellt sich zunehmend weniger ein, bestenfalls
Heißhunger, und zwar immer zur falschen Zeit, vorwiegend nachts. Nirgends
zeigt sich unser gestörtes Verhältnis zur Welt besser als in den vielen
Essstörungen, von denen Anorexie und Bulemie nur die prominentesten sind;
nicht zu vergessen die vielen Unverträglichkeiten.
Eine zeitgemäße Form des Kannibalismus ist in der Organverpflanzung zu
sehen. Auch wenn man von "Spender" oder "Empfänger" spricht, so ist es doch
kein gegenseitiges Nehmen und Geben. Auch wenn die Organe in der Regel von
Toten stammen, so beschäftigt uns dies nur noch bedingt. Noch vor nicht all
zu langer Zeit hätte dies die meisten Menschen wohl in Angst und Schrecken
versetzt. Organe lassen sich nur dann verpflanzen, wenn sie von allen
Verpflichtungen gelöst sind. Aber heute kehrt kein Toter wieder, um sich das
geraubte Organ zurückzuholen. Die Frage nach dem Eigenen und Fremden ist zu
einer Frage der Zellbiologie geworden.
Wer isst, der belädt sich mit Schuld oder er befindet sich gar in einer
Bußübung. Das Drama hat sich aus der Welt in das Innere unserer Körper
verlagert: Essen macht uns dick, führt zu einem hohen Cholesterinspiel und
somit zu einer erhöhten Infarktneigung; Antwort: Bußübungen in Form von
Diäten, Hungerkuren oder Abstinenzen. Folglich ist es nur konsequent, das
Opfer umzudrehen, nicht den Göttern zu opfern, sondern die Götter, Heilige
und alles was uns an diese Vergangenheit erinnert, selbst zu opfern und dem
Nichts preiszugeben.
Wie ging die Geschichte mit dem heiligen Stier der Uschguler weiter? Der
Knabe hatte den heiligen Stier nicht festgehalten. Er hatte ihn auf das
Schneefeld hinausgeführt. Plötzlich sah der Knabe den Fürsten heranreiten.
Der Fürst, das sah er gleich, war stockbetrunken. Der Knabe grüßte ihn nicht
oder verneigte sich nicht sehr tief vor ihm. Er wusste, dass die Menschen
den Fürsten hassten, weil er das Land unterjochen wollte. Der Fürst geriet
in Wut. Sein Blick fiel auf den Stier: er ergriff sein breites Dolchmesser
und hieb mit einem Schwung den Kopf ab. Einen Blick voll Wut und
Todesschmerz warfen die brechenden Augen des Stieres auf seinen Henker. Dass
der Fürst kurz danach vom Pferd fiel, fast an seinem Erbrochenen erstickt
wäre, spielt hier keine Rolle, ebensowenig, dass das Fell des heiligen
Stieres silbrig glänzte, auch nicht die Zeichen seines Todeskampfes:
Zuckungen da und dort. Der blutgetränkte Schnee war nichts als ein Bild, das
lange zuvor in den Köpfen da war, bevor der Fürst den Kopf des Stieres
abschlug. Allerdings ließ sich der so getötete heilige Stier nicht gemeinsam
verzehren. Er verfaulte an Ort und Stelle. Kein Zweifel, der Frevler musste
schon bald selbst einem Messer zum Opfer fallen.
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Ich danke Jean de Lérys und Grigol Robakidse, unbekannterweise.
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