Günter Gstrein: Madonna mit Vogel




photo: günter gstrein
photo: günter gstrein

Die Darsteller:
Madonna: Die Figur stellt die Muttergottes dar, und zwar so, wie sie von breiten Bevölkerungsschichten Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts gesehen werden wollte. Kopie einer millionenfach kopierten Kitschfigur, gegossen, Fett, Sämereien, passiv. Höhe: 67 cm.

Die Akteure: Vogel1 bis Vogeln; sie kümmern sich nicht um ihre Darstellung, sondern suchen aus ihrer Tätigkeit unmittelbaren Nutzen zu ziehen, indem sie Fett und darin enthaltene Sämereien abtragen und sich einverleiben. Sie halten eine bestimmte, ihnen eigene Fluchtdistanz ein, und zwar nicht deshalb, weil sie das Gefühl hätten, bei einem Sakrileg ertappt zu werden, sondern einzig aus gesundem Vogelverstand heraus, der sie wissen lässt, dass neben Greifvögeln, Katzen oder Mardern vor allem dem Menschen nicht zu trauen ist. Vögel, ohne jedes Verständnis für menschliche Symbole und Geschichten, picken sich nicht in das Zentrum des Lebens, beginnen nicht beim Herz, auch nicht bei den Augen (das würden Raben oder andere Vögel bei einer wirklichen Leiche machen); ihr Verzehr erfolgt vor allem nach ökonomischen Gesichtspunkten: Sie wählen jenen Platz, der ihnen den besten Halt und die meiste Übersicht gewährt; deshalb der Kopf. Eine kopflose Madonna vermag keine Irritation bei ihnen auszulösen.



Der Stier von Uschgul war dem Gotte Germet geweiht. Vier Jahre war es ihm gestattet, alles Gute des Lebens zu genießen: er konnte weiden, wo er wollte, fressen, was er wollte. Selbst aus Gärten wurde er nicht vertrieben. Im Gegenteil, man war glücklich, fraß er die Kohlköpfe im eigenen Garten. Nie wurde er geschlagen oder vertrieben. Im fünften Jahr wurde er abgestochen und gemeinsam verzehrt. Es wäre sinnlos gewesen, auch nur einen der Uschguler nach der Bedeutung des Stiers oder des Festes zu fragen. Hätte aber das geheime Bewusstsein der Menschen auf irgendeine Weise einen körperlichen Mund gefunden, so hätte dieser wohl behauptet, dass das totgeweihte heilige Tier Gott und Opfer zugleich sei und dass der des Göttlichen teilhaftig werde, der von seinem Fleisch esse. Und einen solchen Stier tötete Fürst Phutha! Alle blieben stumm. Keiner vermochte den Knaben zu fragen, wie es geschah. Der Knabe zitterte. Drei Jahre vorher war dieser schwarze, ungeheuer große Stier mit dem weißen halbmondförmigen Flecken auf der Stirn als Opfer ausersehen worden. Drei Jahre lang wurde er vergöttert. Während die anderen Stiere in den Wintermonaten wie Gefangene an Krippen festgebunden waren, war dem heiligen Stier keine Beschränkung auferlegt: nach Belieben konnte er sich im Freien aufhalten und sich in frischer Luft tummeln. So war es auch jetzt gewesen.

Jean de Léry erwähnt in seinem Brasilianischen Tagebuch aus dem Jahr 1557, die menschenverzehrenden Tupinamba vertilgten alles restlos, was am Körper der Gefangenen von der Spitze der großen Zehen bis zur Nase, zu den Ohren und der Schädeldecke zu finden sei. Lediglich das Gehirn, das sie niemals anrührten, bilde eine Ausnahme. Außerdem schlichteten die Tuupinambaúlts in ihren Dörfern die Köpfe in Haufen, wie man es in Frankreich auf den Friedhöfen mit den Tötenköpfen tue. Sie sammelten sie auch die größten Knochen der Schenkel und Arme, um daraus Pfeifen und Pfeile anzufertigen, ferner die Zähne, die sie ausreißen und wie Rosenkränze aufreihen würden. Diese trügen sie dann als Ketten um den Hals.

In dieser für Léry fremden Gesellschaft war die Tötung wie der Verzehr der Gefangenen höchst ritualisiert und basierte auf einem komplexen System wechselseitiger Abhängigkeiten. Die Gefangenen konnten längere Zeit unter jenen leben - männlichen Gefangenen wurde gar eine Frau zugestanden -, die sie später töten und verspeisen sollten. Der Verzehr des Opfers verlangte und billigte wiederum Opfer der feindlichen Stämme. Das Opfer willigte nicht nur in seinen Tod ein, der Tötungsakt fand im Zentrum des Dorfes, unter Anwesenheit der Dorfbewohner statt. Der Leichnam des Opfers musste, bevor er zerlegt und auf die Bratroste gelegt wurde, entsprechend gereinigt werden, so gründlich, dass er - wie Léry schreibt - weißer werde, als dies den französischen Köchen gelänge, würden diese ein Spanferkel zum Braten vorbereiten. Und natürlich sollten alle der Anwesenden vom Fleisch essen können. Es ging nicht darum, Hunger zu stillen, sondern um einen symbolischen Akt.

Wenngleich Léry, Montaigne oder andere den Menschenfressern einiges an guten Sitten zugestanden, so galten sie doch als Gegenbild der abendländischen christlichen Kultur. Statt Essen Fressen: Tischsittenlos, am Boden sitzend, ohne Besteck, welches zwischen dem, was einverleibt wird, und dem, der einverleibt, zu differenzieren vermöchte. Der dem Opfer verpflichtete Verzehr basierte allerdings auf einer höchst komplexen Kultur, in welcher der Bezeichnung wechselseitiger Abhängigkeiten größte Bedeutung zukam. In früheren Gesellschaften haben die Menschen die Welt vor allem durch den Mund erfahren: ein Paradox, hatten sie doch meist wesentlich weniger zu essen.

Marienbildchen, 19. Jahrhundert


Wir essen nicht, wir ernähren uns, schlingen zwischen Terminen und Verpflichtungen Nahrung in uns hinein. Essen hat einmal Teilhabe bedeutet, an dem, was vorhanden war, was sich verzehren ließ, im besten Fall Teilhabe an einem Tierkörper, der als Braten auf den Tisch kam. In der postmodernen Gesellschaft verspricht Konsum Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Im Gegensatz zur Vorstellung der "Kommunion", was sich von communio, also "Gemeinschaft" ableitet, kennt Konsum letztlich keinen Austausch mehr. Konsument ist jemand, der nur noch zu sich nimmt, sich etwas einverleibt. Konsum verspricht zwar Teilhabe, betont letztlich aber die Differenz zu anderen. Wer die richtige Kaufentscheidung trifft, verfügt im Verhältnis zu anderen über mehr Chancen, im Extremfall um Überlebenschancen. Liest man das Versprechen umgegekehrt, dann werden die eigentlichen Inhalte offenkundig. Der postmoderne Mensch ist ständig davon bedroht, am gesellschaftlichen Leben nicht mehr teilnehmen zu können, als nicht mehr vollwertíg zu gelten, "out" zu sein, "draußen zu stehen", "unten durch" zu fallen.

In der Regel sind heute die Essenden voneinander getrennt, und dies auch dann, wenn sie zur selben Zeit essen und vielleicht sogar an einem gemeinsamen Tisch sitzen. Wir essen buchstäblich Trennkost. Schon bereitet sich die Lebensmittelindustrie darauf vor, für jeden Essenden sein individuelles Menü zu produzieren. Gab es bislang die Trennung zwischen jenen, die Schweinefleisch aßen und jenen, die es als unrein ansahen, die Trennung zwischen jenen, die Fleisch aßen und jenen, die sich fleischlos ernährten, so haben wir es heute mit einem vollkommenen Durcheinander an Speisevorschriften zu tun. Übergewichtige, Untergewichtige, Allergiker, Herz-, Leber-, Nieren-, Magen- und Rheumakranke, sie alle benötigen einen eigenen Menüplan. Schon kündigt sich ein Speiseplan nach Blutgruppenzugehörigkeit an. Der individuellen Ausgestaltung von Ekelempfindungen, die sich auf das Essen beziehen, sind keine Grenzen gesetzt. Lust auf Essen stellt sich zunehmend weniger ein, bestenfalls Heißhunger, und zwar immer zur falschen Zeit, vorwiegend nachts. Nirgends zeigt sich unser gestörtes Verhältnis zur Welt besser als in den vielen Essstörungen, von denen Anorexie und Bulemie nur die prominentesten sind; nicht zu vergessen die vielen Unverträglichkeiten.

Eine zeitgemäße Form des Kannibalismus ist in der Organverpflanzung zu sehen. Auch wenn man von "Spender" oder "Empfänger" spricht, so ist es doch kein gegenseitiges Nehmen und Geben. Auch wenn die Organe in der Regel von Toten stammen, so beschäftigt uns dies nur noch bedingt. Noch vor nicht all zu langer Zeit hätte dies die meisten Menschen wohl in Angst und Schrecken versetzt. Organe lassen sich nur dann verpflanzen, wenn sie von allen Verpflichtungen gelöst sind. Aber heute kehrt kein Toter wieder, um sich das geraubte Organ zurückzuholen. Die Frage nach dem Eigenen und Fremden ist zu einer Frage der Zellbiologie geworden.

Wer isst, der belädt sich mit Schuld oder er befindet sich gar in einer Bußübung. Das Drama hat sich aus der Welt in das Innere unserer Körper verlagert: Essen macht uns dick, führt zu einem hohen Cholesterinspiel und somit zu einer erhöhten Infarktneigung; Antwort: Bußübungen in Form von Diäten, Hungerkuren oder Abstinenzen. Folglich ist es nur konsequent, das Opfer umzudrehen, nicht den Göttern zu opfern, sondern die Götter, Heilige und alles was uns an diese Vergangenheit erinnert, selbst zu opfern und dem Nichts preiszugeben.

Wie ging die Geschichte mit dem heiligen Stier der Uschguler weiter? Der Knabe hatte den heiligen Stier nicht festgehalten. Er hatte ihn auf das Schneefeld hinausgeführt. Plötzlich sah der Knabe den Fürsten heranreiten. Der Fürst, das sah er gleich, war stockbetrunken. Der Knabe grüßte ihn nicht oder verneigte sich nicht sehr tief vor ihm. Er wusste, dass die Menschen den Fürsten hassten, weil er das Land unterjochen wollte. Der Fürst geriet in Wut. Sein Blick fiel auf den Stier: er ergriff sein breites Dolchmesser und hieb mit einem Schwung den Kopf ab. Einen Blick voll Wut und Todesschmerz warfen die brechenden Augen des Stieres auf seinen Henker. Dass der Fürst kurz danach vom Pferd fiel, fast an seinem Erbrochenen erstickt wäre, spielt hier keine Rolle, ebensowenig, dass das Fell des heiligen Stieres silbrig glänzte, auch nicht die Zeichen seines Todeskampfes: Zuckungen da und dort. Der blutgetränkte Schnee war nichts als ein Bild, das lange zuvor in den Köpfen da war, bevor der Fürst den Kopf des Stieres abschlug. Allerdings ließ sich der so getötete heilige Stier nicht gemeinsam verzehren. Er verfaulte an Ort und Stelle. Kein Zweifel, der Frevler musste schon bald selbst einem Messer zum Opfer fallen.

Bernhard Kathan,
Madonna mit zwei Vögeln,
Tusche mit Eiweißlasur, 1989.


Ich danke Jean de Lérys und Grigol Robakidse, unbekannterweise.


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