weißt du daß die heimat |
dein tod sein kann |
nicht weil du zurück willst |
(diese zeiten sind vorbei) |
sondern erlebt hast |
daß keiner dich liebt |
weißt du daß die heimat |
dich töten kann |
weil alle dich mögen |
du wirst sterben unter ihren erstickenden küssen |
du der sie nie liebte |
geh fort |
doch kehr wieder.
Norbert C. Kaser
In einem berühmten Traumfragment von Simone Weil findet sich diese in einer
Dachkammer wieder mit einem, der sie Dinge lehren will, von denen sie nichts
ahnt. Durch das offene Fenster fällt der Blick auf die Stadt, hölzerne
Baugerüste, den Hafen mit den Schiffen: "Es war nicht mehr Winter. Es war
noch nicht Frühling. Die Zweige der Bäume waren kahl, ohne Knospen, die Luft
kalt und voller Sonne. Das Licht nahm zu, wurde strahlender und schwand,
dann traten die Sterne und der Mond ins Fenster. Dann stieg von neuem das
Morgenrot herauf. Zuweilen hielt er inne, holte aus einem Schrank ein Brot,
und wir teilten es. Dieses Brot schmeckte wirklich nach Brot. Niemals mehr
habe ich diesen Geschmack wiedergefunden. Er schenkte mir und schenkte sich
Wein ein, der nach Sonne schmeckte und nach der Erde, auf der diese Stadt
gebaut ist." Eines Tages wird sie aus der Dachkammer verstoßen, die Treppe
hinabgeworfen. Das geteilte Brot, Brot, das wirklich nach Brot schmeckt, das
man sonst nirgends findet wie auch die Dachkammer sich nicht mehr finden
lässt. Die Dachkammer als verlorene HEIMAT.
HEIMAT meint allemal eine überschaubare Welt. Da die Küche, dort die Kirche
mit dem Friedhof. Wer dächte schon an HEIMAT, gäbe es nicht das Fremde,
fände man sich nicht in der Fremde oder unter Fremden. In den Phantasmen
schrumpft die als bedrohlich erlebte Wirklichkeit, das Fremde und
Unübersichtliche, zur Gemütlichkeit einer "Wohnküche" (Ludwig Giesz), zum
stimmungsvollen, eindeutig HEIMATLICHEN: It is not real, but it is familiar.
Es treten auf: der Vertriebene, der Rastlose, der Dorfflüchtling, einer, der
seine Dachkammer nicht mehr verlässt, sich aber doch in die Fremde wünscht,
einer, der in das Dorf seiner Kindheit zurückkehrt, ein Soldat der
Wehrmacht, der während des Russlandkrieges einen Reiseführer bei sich trägt,
ein Autor, der ein von Heimat- und Fremdenklischees strotzendes Kinderbuch
schreibt, dann aber die Erfahrung machen muss, dass auf die HEIMAT kein
Verlass ist, eine Kuh, die auf die Rufe eines Bauern in den Stall drängt,
sich aber statt am gewohnten Platz im Anhänger eines Metzgers wiederfindet,
eine englische Miniaturbibel, 1859 ein Geschenk der East Indian Company an
einen gewissen Mr. Davis in Bangalore, seit dem aber durch die Welt irrend
wie das Knie in einem von Christian Morgensterns Gedichten: Es ist kein
Baum! Es ist kein Zelt! Es ist eine Bibel, sonst nichts. Auch eine Näherin.
Mag sie auch an Mann und Kind denken, so wünscht sie sich doch in die Ferne.
Weitere Geschichten von Menschen und Dingen. Immer sind sie in Bewegung,
wurden sie oder werden sie ihrer Herkunft entrissen, entwurzelt.
Simone Weil beschäftigte sich in ihren letzten Lebensmonaten mit Fragen des
entwurzelten Menschen. Sie stellte die Verpflichtung des Einzelnen über
seine Rechte: "Ein Mensch für sich betrachtet hat nur Pflichten, unter denen
sich gewisse Pflichten gegen sich selbst befinden. Die andern haben, von ihm
aus gesehen, nur Rechte. Er wiederum hat Rechte, wenn man ihn vom Standpunkt
der anderen aus betrachtet, die ihm gegenüber Verpflichtungen ihrerseits
anerkennen. Ein Mensch, der in der Welt allein wäre, hätte nicht ein
einziges Recht, aber er hätte Verpflichtungen." In der Spiritualisierung der
Arbeit sah sie die entscheidende Voraussetzung einer (Wieder-)Einwurzelung.
Arbeit und Bildung sollten sich die Waage halten, das Ganze organisiert in
überschaubaren ländlichen Kleinbetrieben mit angeschlossenen
Arbeiterhochschulen. HEIMAT: "... Wenn der junge Arbeiter, von Vielem und
Verschiedenem gesättigt und erfüllt, nun beabsichtigte, sich festzusetzen,
dann wäre er reif für die Einwurzelung. Eine Frau und Kinder, ein Haus und
ein Garten, der ihm einen großen Teil seiner Nahrung lieferte, eine Arbeit,
die ihn an ein Unternehmen knüpfte, das er liebte, auf das er stolz wäre und
das für ihn ein offenes Fenster in die Welt hinein bedeutete - das ist genug
für das irdische Glück eines menschlichen Wesens." Heute wird mehr Geld für
Bildung gefordert, lebenslanges Lernen sei nötig. Während Simone Weil
Bildung als Voraussetzung für die Entfaltung des Einzelnen wie eine humane
Gesellschaft sah, dient nun Bildung einzig ökonomischen Interessen. Diese
Art von Bildung steht in enger Verbindung zur geforderten Mobilität und
Entwurzelung des modernen Menschen. Simone Weil, die Vertriebene, die an
HEIMWEH Leidende, starb am 24. August 1943 in Ashford (Kent) an Herzversagen
und Lungentuberkulose, nachdem sie sich zu Tode gehungert hatte. Am
Begräbnis nahmen nur wenige Personen teil, es fand ohne den Beistand eines
Geistlichen statt. Dieser hatte in London (möglicherweise durch einen
Fliegeralarm bedingt) den Zug versäumt.
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Postscript: In diesem Projekt ging ich vom Dorf meiner Kindheit aus. Nun
höre ich, dass die Arbeit sehr viel über den Ort Kröte, den ich gar nicht
kenne, aussage. Wir sehen also, das HEIMATLICHE ist höchst kompatibel.