"Jeder Winkel in einem Haus, jede Ecke in einem Zimmer, jeder eingezogene
Raum, wo man sich gern verkriecht, sich in sich selbst zusammenzieht, ist
für die Einbildungskraft eine Einsamkeit, der Keim eines Zimmers, der Keim
eines Hauses. [...] Sich in einen Winkel zurückziehen, ist gewiß ein
ärmlicher Ausdruck. Aber wenn er auch ärmlich ist, so hat er doch zahlreiche
Bilder, und Bilder von großem Alter, vielleicht sogar im psychologischen
Sinne primitive Bilder. Je schlichter das Bild ist, desto größer sind
manchmal die Träume. Aber zunächst ist der Winkel eine Zuflucht, die uns
einen ursprünglichen Daseinswert sichert: die Unbeweglichkeit. Er ist das
sichere Lokal, das nächstliegende Lokal meiner Unbeweglichkeit. Der Winkel
ist eine Art Kastenhälfte, halb Wand, halb Tür. Es gibt eine Illustration
für die Dialektik des Drinnen und des Draußen."
Gaston Bachelard, Poetik des Raumes
Noch vor wenigen Jahrzehnten kannte nahezu jedes Haus in den Dörfern einen
Herrgottswinkel. Dass solche Hausschreine oder Hausaltäre in einen Winkel
gefügt wurden, dafür sind einmal praktische Gründe zu nennen. Die Räume
waren eng. Im Winkel, und zwar unter der Zimmerdecke untergebracht, drohte
niemand daran zu stoßen. Entscheidender aber, neben Türen und Fenstern
wiesen einzig die Winkel über die architektonische Begrenztheit des Raumes
hinaus. Winkel kennen eine doppelte Sogkraft. Zum einen in die Ferne, dann
saugen sie das auf, was sich vor ihnen ausbreitet. Der Winkel als letzter
Fluchtpunkt, um sich vor Schlägen zu schützen, die Hoffnung, sich in einem
Winkel zu verbergen, sich unsichtbar zu machen. Und dann wird das Kind zur
Strafe in einen Winkel gestellt, mit dem Gesicht zur Wand, auf Zeit aus der
Gemeinschaft verbannt. So tritt der Winkel an die Stelle von Keller und
Verließ. Beginnt das Kind die Mauer zu lesen, die Spuren, die kleine
Fingernägel in der Wand hinterlassen haben, wirkt der Winkel wie ein
Vergrößerungsglas. Der Winkel als höchst ambivalenter Ort, eben halb Wand,
halb Tür. Nicht zufällig wird das alles sehende Gottesauge im Zentrum eines
Dreiecks, im Fokus dreier Winkel dargestellt. Mag das Dreieck auch die
Dreifaltigkeit bezeichnen, so ist doch entscheidender, dass allumfassende
Kontrolle und Fluchtpunkt in eins fallen. Im Herrgottswinkel kehrt sich das
alles sehende und strafende göttliche Auge um. Dieses Auge, die Augen Jesu,
die der Maria oder anderer Heiliger sollten alles sehen, die Armut, den
schlecht gedeckten Tisch, die hungernden Kinder. Unfall-, Feuer-, Hagel-,
Unwetter-, Kranken-, Pensions-, Betriebsausfalls- oder
Haftpflichtversicherungen haben sich als wirksamer als Gebete, Prozessionen
oder Herrgottswinkel erwiesen. Man vergesse nicht: Feuerlöscher, Rauch- und
Bewegungsmelder, sichere Türschlösser, Überwachungs- und Alarmanlagen. Man
muss sich mit Leerstellen beschäftigen: in Bauern- und Einfamilienhäusern,
Tierzuchtbetrieben, Fabriksanlagen, Kranken- und Kaufhäusern, in
Finanzämtern oder Abteilungen der Fremdenpolizei. Um signifikante
Leerstellen zu sehen, muss man sich auf den Kopf stellen, auf den Boden
legen, unter die Schreibtische von Bankangestellten, Standesbeamten oder
anderen Bürokraten blicken, in Winkel, die dem Betrachter sonst verborgen
bleiben. Man muss Listen von Briefen erstellen, die unbeantwortet bleiben.
Auch der Herrgottswinkel kannte (sieht man von behaupteten Ausnahmen ab)
keine Antwort. Aber gerade das hat der Herrgottswinkel nie versprochen. Und
wer immer sich heute beklagt (man kann sich über alles beklagen, über
Waschmaschinen und Autos, die das nicht halten, was sie versprochen haben,
nur nicht über das Leben), landet unzweifelhaft in einem Callcenter, spricht
mit Menschen, die seine Klagen weder interessieren, noch verstehen.
[ Gertrude Moser-Wagner ]
stellt anlässlich ihres Indonesienaufenthalts dem
Herrgottswinkel Schreine und Tore entgegen, leere Sessel, auf denen die
Götter unsichtbar Platz nehmen.