Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie
Will man etwas über die Jagd verstehen, dann muss man sich mit Banalem
befassen, mit Werbeinseraten, Heiratsannoncen in einschlägigen Zeitschriften
oder mit Jagdzubehör. Hochsitze, ein gutes Beispiel für banale Architektur,
eignen sich auch. Obwohl sich in den heimischen Wäldern abertausende dieser
Objekte finden lassen, hat sich abgesehen von Jagdbüchern, in denen man
Anleitungen zur fachgerechten Errichtung von Hochsitzen finden kann, kaum
jemand ernsthaft damit befasst.
So ähnlich sich Hochsitze auf den ersten Blick auch sein mögen, so gibt es
doch eine große Bandbreite an unterschiedlichsten Typen. In der Typologie
ist der freistehende Hochsitz von jenem zu unterscheiden, der sich eines
oder mehrerer Bäume bedient, um die Plattform zu tragen. Im steilen Gelände
kann ein Hochsitz auch ebenerdig errichtet werden. Sie reichen von
notdürftig aus einigen Ästen improvisierten Verschlägen bis hin zu
Luxusausführungen, die sich für Rheumakranke eignen. Manche sind mit einem
Fenster ausgestattet. Es finden sich sogar transportable, also mobile
Varianten. Ältere Hochsitze sind abgesehen von Nägeln fast ausschließlich
aus Materialien zusammengefügt, die im Wald zu finden sind, aus Stangen,
Ästen, Stämmen und Rinde. Bei Modellen jüngeren Datums finden Profilleisten,
verleimte Mehrschichtplatten ebenso Verwendung wie Dachpappe, Dämmmatten
oder verschiedenste Folien. Die akkubetriebene Bohrmaschine hat Einzug in
unsere Wälder gehalten. Es wird mehr geschraubt als genagelt,
zusammengefügt, was bereits an anderen Orten zugeschnitten wurde. Viele der
heute errichteten Hochsitze sind mit Türen und Schlössern versehen. Das gab
es vor wenigen Jahrzehnten noch nicht.
Der ideale Standort eines Hochsitzes ist der Waldrand, aus dessen Dunkel in
der Dämmerung das Wild hervorbricht, um zu äsen. Der Jäger hat den Wald im
Rücken, als könnte er sich an ihm anlehnen. Der Einstieg erfolgt zumeist auf
der dem offenen Feld abgewandten Seite. Jeder Hochsitz setzt ein offenes
Gelände voraus, mag er auch in Bäumen oder in Gestrüpp errichtet sein. Er
benötigt landwirtschaftlich genutzte Flächen oder Kahlschläge. Ein
Kahlschlag bietet nicht nur eine gute Übersicht. In den ersten Jahren bildet
sich hier eine üppige Vegetation. Himbeeren, eine Vielzahl von Gräsern und
Kräutern beginnen zu wuchern, bis sie nach wenigen Jahren unter dem Schatten
der größer werdenden Sträucher und Bäume ersticken. Hochsitze sind als
temporäre Architektur zu betrachten. Kommt in einem Kahlschlag wieder
Jungwald auf, dann hat der Hochsitz seine Funktion verloren. Zumeist werden
solche Hochsitze bereits nach wenigen Jahren wieder aufgegeben. Relikte von
Hochsitzen geben Auskunft über die Geschichte eines Geländes. Wenn ein
morscher oder zusammengestürzter Hochsitz von Bäumen umgeben ist, dann weiß
man und kann es auch am Alter der Bäume ablesen, vor so und so vielen Jahren
wurden hier Wiesen bewirtschaftet, gab es einen Kahlschlag.
Trotz allen handwerklichen Könnens lassen Hochsitze an Baumhütten denken,
wie sie von Kindern errichtet werden. Der Unterschied ist nicht sehr groß.
Dieser liegt weniger in der Konstruktion oder in den verwendeten Materialien
als in der Standortwahl. Eine Baumhütte lässt sich auch in einem Obstgarten
errichten, ein Hochsitz macht hier keinen Sinn. Und doch kann ich mich
angesichts der Hochsitzarchitektur nicht des Eindrucks erwehren, dass hier
Kindheitsprojekte ihre Fortsetzung finden. Man muss an Männer denken, die
als Jugendliche Robinson Crusoe lasen, der, auf eine unbewohnte Insel
verschlagen, um seine Höhle einen doppelten Palisadenring baut. Robinson
Crusoe bohrt durch die in den Boden gerammten Pfähle Löcher. Er will
hinausspähen, sehen, was auf dem freien Feld geschieht, im Bedarfsfall seine
Flinten durchstecken, um die drohende Gefahr abzuwehren, seien es nun
Kannibalen oder wilde Tiere. Vom Felsen hinter seiner Höhle tastet er das
Gelände mit seinem Fernrohr ab. Er will sehen, ohne selbst gesehen zu
werden. Vor der eigentlichen Befestigungsanlage zieht Crusoe eine dicke
Hecke aus Stecklingen. Der strategische Ort soll vollkommen mit der
Landschaft verschwimmen. Die Palisade wie das Sehloch lassen die Welt in
zwei vollkommen komplementäre Teile zerfallen. Auf der einen Seite ist die
Welt sicher - zumindest wird sie als solche phantasiert -, auf der anderen
unsicher. Robinson Crusoe verwendet sehr viel Aufmerksamkeit zur Kontrolle
dieser Abgrenzung. Der Schiffbrüchige ist gleichermaßen Überlebenskünstler
und Bastler.
Auch wenn Defoes Schiffbrüchiger wenig mit den Jägern der heutigen Zeit
gemein hat, so scheint sich Robinson Crusoe doch tief in die Köpfe der
Männer eingegraben zu haben. Defoe hat die Phantasien von Generationen von
Männern geprägt, so sehr, dass man das Buch nicht einmal gelesen haben muss,
um seine Bilder verfügbar zu haben. Ständig ist die eigene Welt in Gefahr,
immer gilt es auf der Hut zu sein, drohen Katastrophen und Einbrüche des
Fremden. Bedroht ist eine kleine Welt, ein Idyll. Defoes Robinson Crusoe
antwortet auf jedes drohende Unheil mit technischen und strategischen
Lösungen. Die Vernunft versagt aber dort, wo das Tun durch Gefühle bestimmt
wird. Letzteres hat Defoe nicht durchgespielt.
Die wohl spannendste Stelle in Defoes Geschichte ist jener Augenblick, in
dem Crusoe den Abdruck eines nackten menschlichen Fußes entdeckt. Es handelt
sich um eine Art Negativ, welches die Rekonstruktion eines bedrohlichen
Wesens ermöglicht. Wie der Jäger ist auch Robinson Crusoe ein Fährtenleser.
Allein auf seiner Insel, sehnt er sich nach Menschen, aber beim Abdruck
eines nackten Fußes kann es sich nur um den eines Kannibalen handeln, also
um den eines Wesens, welches den wilden Tieren näher steht als dem Menschen.
Er ist so betroffen, dass er glaubt, ein Gespenst gesehen zu haben. Er
horcht und blickt sich um. Aber es ist nichts zu hören, nichts zu sehen. Wie
ein Verfolgter kehrt er zurück zu seiner strategischen Plattform. Er muss
wieder Überblick gewinnen. Auf offenem Feld wäre er sichtbar, ständig im
Ungewissen, ob nicht Augen aus dem Schatten der Bäume spähen, ob ihn nicht
längst jemand ins Visier genommen hat. Er lebt in einer projektiven und
paranoiden Welt. In seinem Kopf drohen die Eindringlinge das zu tun, was er
selbst macht. Würde er sich nicht vorsichtig verhalten, so würden ihn die
Kannibalen töten, verzehren, in sich aufnehmen, und das bei guter Laune. Sie
drohten, ihn aus dem Hinterhalt zu überfallen, ihn in einem unbedachten
Augenblick zu überraschen und zu ihrer Beute zu machen. Deshalb muss er sich
im Schatten des Dickichts bewegen. Aus dem sicheren Gestrüpp will er das
blutige Treiben der Kannibalen beobachten und ihre Köpfe ins Ziel nehmen,
sobald sie so eng zusammensitzen, dass es fast unmöglich ist, sie zu
verfehlen, ohne auf den ersten Schuss gleich drei oder vier zu verwunden.
Interessanterweise gehen Defoes Kannibalen mit dem Fleisch ihrer Opfer sehr
verschwenderisch um. Sie lassen Knochen und Fleischreste so achtlos zurück,
als lebten sie in unserer Konsumgesellschaft. Robinson Crusoe verzehrt die
von ihm getöteten Kannibalen nicht. Der entscheidende Unterschied zu diesen
findet sich dort, wo er Freitag, den lernfähigen Wilden, unterwirft, um ihn
umso mehr für sich nutzbar zu machen. Was für eine Verschwendung wäre es
doch, Freitag zu verzehren! Freitag ist so etwas wie ein sprechender
Jagdhund, gelehrig, treu und anhänglich. Einmal abgerichtet und an die
menschliche Sprache, nämlich an jene seines vernünftigen Gebieters gewöhnt,
lernt er sich zu beherrschen. Nun verschlingt er keine menschlichen Körper
mehr, auch wenn es ihn noch so sehr danach gelüstet. Freitags Verhältnis zu
Robinson ist zwiespältig. Obwohl dieser ihn nährt und ihm Schutz gewährt,
fürchtet er sich vor ihm.
Auch wenn es der Autor so nicht verstanden hat, so nicht verstehen konnte,
gibt es wohl kaum eine andere Geschichte, die so sehr das Phantasma des
Fremden behandeln würde wie die des Robinson Crusoe. Je mehr das Fremde das
eigene Ich einzuverleiben oder aufzusaugen droht, umso mehr gewinnt der
strategische Ort an Bedeutung. Wie Crusoes Palisadenring, seine Flinten und
sein Fernrohr, verspricht auch der Hochsitz vor allem Kontrolle und
Überschaubarkeit. Ein Kippbild. Robinson Crusoe droht ständig vom Jäger zum
Gejagten zu werden. Für den modernen Jäger gilt dies so nicht, geht doch vom
Wild, nachdem alle Raubtiere aus unseren Wäldern verschwunden sind, keine
Gefahr mehr aus. Kommt es zu Unfällen, dann haben wir es zumeist mit
unvorsichtigem Hantieren mit dem Gewehr zu tun. Auch Hochsitze bilden ein
gewisses Risiko.
Hochsitze lassen an Wachtürme, an Grenzen denken. Wachtürme benötigen wie
der Hochsitz das freie Feld. In Erinnerung sind uns noch die Wachtürme des
Eisernen Vorhangs. Als permanenter Kahlschlag erinnerte der Grenzstreifen an
die Trassenführung einer Autobahn. In diesem Grenzstreifen wurde gegen jede
aufkeimende Vegetation angekämpft. Teilweise wurde dieser Streifen sogar
umgeackert, das freiliegende Feld dadurch zur vollkommen brachen Fläche, zu
einem Niemandsland, in dem sich jede Bewegung wie ein Fremdkörper
abzeichnete. Die Phantasmen der Jagd sind kompatibel. Kaum waren die
hochsitzähnlichen Plattformen entlang des eisernen Vorhangs abgebaut, wurde
in Nachtsichtgeräte und ähnliches investiert. Da beginnen Menschen und Tiere
miteinander zu verschwimmen. Migrationsprobleme lassen sich so nicht lösen.
Je mehr sich die Hochsitzmentalität behauptet, umso unsicherer wird die
Welt. Hochsitze simulieren ein Stück Grenzlandschaft im Inneren eines
Landes. Wie an der Grenze wird auch hier in die Ferne gespäht, das Gelände
nach beweglichen Objekten abgesucht.
An dieser Stelle fällt mir Kaiser Franz Josef I. ein. Wie andere Habsburger
gab er sich leidenschaftlich der Jagd hin. Bis 1914 erlegte er immerhin etwa
10.000 Stück Wild. Eine Abbildung, welche den bezeichnenden Titel "Der
Kaiser schaut nach dem Wetter aus" trägt, zeigt ihn, wie er auf dem Balkon
seiner Kaiservilla in Ischl stehend mit dem Fernrohr durch ein eigens zu
diesem Zweck in der nahen Baumgruppe ausgeschnittenes Loch auf den Dachstein
blickt. Mochte sich der Gebirgsblock noch so imposant erheben, so sah der
Kaiser wohl eine sichere und überschaubare Welt, eine Art Miniaturwelt. Es
sind auch Abbildungen überliefert, die ihn, das Gewehr im Anschlag, auf
einem Hochsitz zeigen. Laut einer plausiblen Berechnung hat Franz Josef etwa
ein Drittel seines Lebens auf der Jagd verbracht, sich also wie an seinem
Schreibtisch, an welchem er in den frühen Morgenstunden mit sprichwörtlichem
Fleiß Akten bearbeitet haben soll, einzig mit Ausschnitten beschäftigt, mit
lauter Ausschnitten, die eine heile und beherrschbare Welt versprachen,
während sich die Welt längst auf ein Inferno zu bewegte. Er vermochte die
gesellschaftlichen Konflikte seiner Zeit nicht zu verstehen. Noch weniger
sah er das eigene familiäre Drama. Der Bruder, der Sohn und der Neffe kamen
durch Schusswaffen um, seine Frau wurde erstochen. Als er vom Tod der
Kaiserin benachrichtigt wurde, soll er ausgerufen haben: "Mir bleibt doch
nichts erspart auf dieser Welt!" Wie bei vielen anderen drohenden Einbrüchen
hoffte er, Zerstreuung in der Jagd zu finden. An seine Geliebte Katharina
Schratt schrieb er wenige Tage später: "Vorgestern war ich, nachdem ich
Ihnen geschrieben hatte, zweimal in den Zimmern der Kaiserin, wo ich alles
unverändert fand, sogar mit Blumen geschmückt wie ehemals, sie könnte gleich
einziehen. Es war recht wehmütig und doch eher wohltuend. Nach dem
gemeinschaftlichen Déjeuner, welches immer um 1 Uhr stattfindet, fuhr ich zu
einer Schweinehütte in St. György, wo ich in Gedanken versunken so lange
saß, als es zum Schießen Licht gewesen wäre, aber gar nichts zu sehen bekam
..."
Der Kaiser hat in seinem langen Leben wohl nur wenige Bücher gelesen.
Robinson Crusoe dürfte ihm aber vertraut gewesen sein. Leider lebte er nicht
in einem überschaubaren Planspiel, sondern in einer sehr realen Welt voller
Widersprüche. Der Hochsitz als Modell taugte nicht, die Probleme der Welt zu
lösen oder auch nur ansatzweise zu verstehen. So betrachtet wirkt die
Inszenierung der blutüberströmten Jacke des ermordeten Thronfolgers, die im
Heeresgeschichtlichen Museum in Wien zu sehen ist, geradezu rührend. Besser
wäre es, an dieser Stelle einen Ausflug in das Jagdverhalten des Kaisers wie
die damit verbundenen Wahrnehmungsdispositionen zu unternehmen.
Jagen hieß einmal gehen, laufen, pirschen, auf der Erde liegen und kriechen.
Ortega y Gasset schrieb, der Jäger müsse, um das reine Glück erleben zu
können, den Umgang mit dem ungebändigten Tier suchen, auf sein Niveau
hinabsteigen, müsse sich von diesem zum Wetteifern angestachelt fühlen, es
verfolgen. Mit Hilfe des Hochsitzes hebt sich der Jäger von der schmutzigen
Erde ab. Nicht länger muss er sich am Boden kriechend der Beute nähern. Er
ist zu einem Wartenden geworden. Längst ist es die Beute, die sich ihm
nähert. Heutige Hochsitze eignen sich auch für Menschen, die unter einer
Einschränkung ihrer Bewegungsfähigkeit leiden. Selbst dickleibige und
kurzatmige Menschen können heute auf die Jagd gehen. Zum Hochsitz fügt sich
die Tiefkühltruhe, auch ein Häuschen und somit ein Stück banaler
Architektur. Und auch in diesem Häuschen wird gewartet, wartet das Fleisch
vor sich hin.
Architekturgeschichtlich hat sich der Hochsitz aus dem Jagdschirm, einem
pavillonartigen Gebäude entwickelt. Im siebzehnten Jahrhundert war die
Treffsicherheit der verfügbaren Gewehre noch gering. Das Wild musste deshalb
in die unmittelbare Nähe von Jagdschirmen getrieben werden, von wo aus die
Anwesenden auf die Tiere schossen. Hochsitze verdanken sich dem
Zielfernrohr, also treffsicheren Gewehren. Erst wenn es möglich ist, ein
Tier über eine gewisse Distanz sicher zu treffen, kann der Jäger zu einem
Sitzenden werden. Mit dem Fernglas tastet der Jäger die Landschaft nach
möglichen Veränderungen und Bewegungen ab. Er könnte ebenso vor dem
Bildschirm, im Auto oder in einem Büro sitzen. Wohl die meisten Jäger
verbringen ihren Tag in sitzender Stellung.
Längst hat sich zum Hochsitz das Auto gefügt. Der Blick vom Hochsitz
entspricht jenem durch die Windschutzscheibe. Mich wundert es, dass so
selten defekte Autos auf Pfähle gestellt werden, um sie als Hochsitze zu
benützen. Bislang habe ich erst einen Hochsitz entdeckt, bei dem das
Führerhaus eines ausgeschlachteten LKWs mit Hilfe eines Krans in die
Astgabel eines Baumes gehoben worden war. Es gibt zwar die Jagd vom Auto
aus, diese erfordert allerdings nicht nur andere Jagdgesetze, sondern auch
befahrbare Savannen und Steppen. In Gebirgswäldern mit ihren Abhängen und
Schluchten ist die Jagd vom Auto aus ebenso unmöglich wie in den
landwirtschaftlich intensiv genutzten Ebenen des Alpenvorlandes. Obwohl das
Auto hierzulande nur zur Anfahrt und zum Abtransport der Beute benützt
werden kann, so findet sich doch eine grundlegende Verbindung zwischen dem
Hochsitz und dem Auto. Beide organisieren das Sehen auf ähnliche Weise.
Gesehen wird vor allem gerahmte Wirklichkeit, gerahmte Natur.
Der Hochsitz als umgedrehter Fernseher. Viele Hochsitze lassen tatsächlich
an Fernsehapparate denken. Nur dass der Zuschauer plötzlich im Apparat sitzt
und von dort aus die Landschaft, das vor ihm liegende Feld, ein Herzstück
seines Reviers betrachtet. Das Objektiv des Zielfernrohres hat eine saugende
Wirkung, welche das, was entfernt liegt, nah erscheinen lässt. Der tödliche
Schuss ist bereits vorweggenommen. Die Sprache zeigt diesen Zusammenhang
sehr deutlich. Wir nehmen jemanden aufs Korn, kriegen jemanden vor die
Linse, schießen ein Foto, machen Jagd mit dem Fotoapparat. Ein Klassiker der
Jagdliteratur trägt den Titel: "Mit Blitzlicht und Büchse". Es gibt kaum ein
Buch über die Jagd, welches nicht ein Kapitel der Fotografie widmen würde.
Womöglich handelt es sich bei der Fotografie nur um eine sublimierte Form
des Tötens und Einverleibens. Wir nähern uns dem Fremden mit der Kamera. Sie
schützt uns davor, Blicke je beantworten zu müssen. Bezeichnenderweise sind
Tierfilme und Ethnofilme nach einem sehr ähnlichen Muster gestrickt. In
Fernsehzeitschriften werden sie unter der Rubrik "Reportagen/Natur"
angekündigt.
Die einfachste Form eines Hochsitzes findet sich in einer an einen Baum
gelehnten Leiter, die oben mit einer Sitz- und Aufstützmöglichkeit
ausgestattet ist. Solche Konstruktionen können mit einer einfachen
Überdachung versehen sein. In der Schrägaufsicht lässt sich ein großes
Gelände überblicken. Zumeist haben wir es jedoch mit geschlossenen Kanzeln
zu tun, die das Sehfeld durch ihre Rahmung weitgehend festlegen.
Ausprägungen des Schließmuskels. Olivier Richon schreibt, der Rahmen "bildet
eine Muskulatur, die die Grenze zwischen innen und außen überwacht. Der
Rahmen ist die Vorrichtung, die die Beherrschung des Objekts ermöglicht -
Periskope, Teleskope, Ferngläser, Kamera-Linsen, sie alle tragen bei zu
dieser Phantasie der Beherrschung, die ihren Gebrauch als Objekte
übersteigt. Der Rahmen ist demnach der Schließmuskel der Repräsentation, der
die Unterscheidung zwischen Innen und Außen hervorbringt und der darüber
entscheidet, was in der Szene eingeschlossen und was aus ihr ausgeschlossen
werden soll." Der Rahmen erlaubt die Kontrolle des Sehfeldes, erst durch die
damit verbundene Fokussierung lässt sich das Objekt, ob Hirsch, Reh oder
Hase, beherrschen.
In keinem anderen Film findet sich dies besser durchgespielt als in
Hitchcocks "Psycho" (USA 1960). Der Film ist kompliziert gebaut. In einem
abgelegenen Motel beobachtet der junge Besitzer Norman Bates durch ein Loch
in der Wand die Sekretärin Marion Crane, welche im Nebenraum gerade dabei
ist, sich auszuziehen, um sich zu duschen und ins Bett zu legen. Wenig
später wird der Mann die junge Frau mit einem Messer töten. "Psycho"
beschäftigt sich mit Trennlinien und Übergängen von (Erfahrungs)Räumen. Die
Blickachse: das Auge, das Loch, das dahinter liegende Zimmer, die geöffnete
Tür des Badezimmers, und schließlich dieses, hell erleuchtet. Die Frau auf
der anderen Seite ist weniger Objekt der Betrachtung als Objekt der
Projektion. Marion Crane nimmt keinen Kontakt auf, antwortet nicht, sie
bemerkt nicht einmal, dass sie beobachtet wird. Als Objekt der Betrachtung
verfügt sie weder über Gerüche noch über Geschichte. Bezeichnenderweise
vermag Norman Bates nicht wahrzunehmen, was Marion Crane beschäftigt. Er
sieht das Geld nicht, welches es ihm ermöglichen würde, dem düsteren Ort
seiner Kindheit zu entrinnen und ein neues Leben zu beginnen. Er bleibt in
seiner eigenen Geschichte, in seinem festgelegten und begrenzten Blick
gefangen. Wie Marion Crane in dem Augenblick zum Bild gerinnt, als die
Lichtstrahlen durch das Guckloch in Norman Bates Auge fallen, so verändert
sich die Qualität des Blutes, passiert es einmal das Abflussloch der
Badewanne. Das Guckloch in der Wand, durch welches Norman Bates die sich
ausziehende Marion Crane beobachtet, findet seine Entsprechung im
Abflussloch der Badewanne, im Auge der Kamera wie im Auge der Toten. Die
Passage der engen Öffnung bedeutet eine grundlegende Transformation,
gleichgültig, ob es sich nun um Bilder oder um Blut handelt. In einer
Spiralbewegung verschwindet das Blut. Das Auge der Sterbenden saugt die
letzten Bilder ein wie die Kamera das einsaugt, was sich vor ihr abspielt.
Auch hier die Spiralbewegung, die uns Hitchcocks "Vertigo" (USA 1958) im
Haarknoten Madeleines wieder begegnet. Bereits das Guckloch in der Wand
nimmt Marion Cranes Tod vorweg. Übrigens spielt Hitchcock auch auf die Jagd
an. An den Wänden des Büros, von dem aus Norman Bates durch das Guckloch
blickt, hängen Jagdtrophäen, ausgestopfte Tiere.
Obwohl die gesamte Anordnung auf die klare und exakte Trennung zwischen
Innen und Außen, Kultur und Natur, Mensch und Tier, zwischen Eigenem und
Fremdem hinausläuft, im Phantasma des Jägers ist diese Trennung aufgehoben,
verschmilzt der Jäger mit dem Tier, welches er tötet. Hochsitze werden mit
Hilfe von Ästen oder auch Rinden, die möglicherweise auf Mehrschichtplatten
geheftet werden, getarnt, um unsichtbar zu werden. Geht es aber wirklich nur
um Tarnung? Ist nicht die Vorstellung des bruchlosen Übergangs in die
Naturlandschaft entscheidender?
In Joao Guimaraes Rosas Erzählung "Mein Onkel der Jaguar" verschwimmt ein
Jäger buchstäblich mit dem von ihm gejagten Wild. Ein Indiojäger, der im
Auftrag eines Großgrundbesitzers Jaguare abschießt, verliebt sich in das
Jaguarweibchen Maria-Maria und gerät so in einen unlösbaren Konflikt.
Während sich das Tier bei der Jagd von seinem Hintergrund ablösen muss,
begibt sich dieser Indio selbst in die Welt seiner Beutetiere. In einem
gewissen Sinn schlüpft er in die Haut eines Jaguars. Er sieht den Wald, den
Strauch, den Busch, die Indifferenz der Schatten mit dessen Augen. Je länger
er jagt, je sicherer er tötet, umso unschärfer wird allerdings die Grenze
zwischen ihm und den Großkatzen. Während Jäger, hochsitzerfahren,
klassifizieren, lernt er jedes Tier so gut kennen, dass er schließlich um
ihre kleinsten Wesensunterschiede weiß und sich selbst als Teil ihres
Verwandtschaftsgefüges erlebt. Auf die Seite der Jaguare gewechselt,
überfällt der Indio in der trügerischen Erscheinung eines Menschen jene, die
sich gleich ihm in die Steppe zurückgezogen haben. Er tötet und zerreißt sie.
Im Widerspruch zur scheinbaren Funktionalität des Hochsitzes ist Jagen eine
sexuelle Betätigung. Dadurch wird die Tätigkeit als solche weder geadelt
noch diskreditiert. Die Verschmelzung findet spätestens dann statt, wenn der
Körper des Tieres aufgebrochen wird, sich die Hände in das Innere wühlen. Im
Internet finden sich genügend Einträge, in denen sich User über Sex auf
Hochsitzen unterhalten: "Da wir gerne in der freien Natur sind, gehen wir
gerne spazieren. Natürlich kommt man da an der ein oder anderen Stelle
vorbei, bei der man gerne übereinander herfallen möchte. Wir gehören
allerdings zu der Fraktion, die nicht unbedingt von zufällig vorbeikommenden
Kleinfamilien ertappt werden möchte. Deshalb habe wir für uns die Hochsitze
entdeckt, die häufig in der Gegend rumstehen und dann und wann von Jägern
benutzt werden. Je nach Ausstattung hat man dort wunderbar die Möglichkeit,
sich seinen Gelüsten unentdeckt hinzugeben." Eine Heiratsannonce in einer
Jagdzeitung: "Agile Hirschkuh (37/176) sucht ihren ebenso agilen Jäger". Ich
sah einen mit einem Teppichboden ausgelegten Hochsitz. Auf der Sitzbank lag
ein Stapel Pornohefte. Unlängst entdeckte ich einen anderen, der war so
groß, dass ein Bett darin Platz hat. Der Hochsitz als Liebesnest. Es hat
doch etwas, auf dem Bett sitzend, die nackte Geliebte an den eigenen Körper
geschmiegt, einen Hirsch zu erlegen. Da fallen Sexualität und Tod in eins.
In der Jagdliteratur finden wir dazu wenig. Der entscheidende Augenblick,
auf den das lange Warten hinzielt, kann sich so lesen: "Jetzt ist der Bock
im Zielfernrohr. Deutlich lässt sich sein wacher Gesichtsausdruck erkennen.
Der Zeigefinger krümmt sich um den Abzug. Das Geschoss reißt den Bock von
den Läufen. Der Bock springt wieder hoch und stürmt den Hang hinunter.
Mechanisch repetiere ich, will schießen ... aber da, der Bock schwankt und
bricht nach wenigen Sprüngen zusammen. Ende gut, alles gut."
In Jagdbüchern wird mit Stolz auf die Jägersprache mit ihren vielleicht
12.000 Begriffen verwiesen, aber es findet sich in der gesamten
Jagdliteratur kaum ein Text, welcher wirklich sprachliche Qualitäten hätte.
Es fehlt das Buch eines Jägers, der im Detail seine Lust beschreiben würde
und uns mit schwülstigen Landschaftsschilderungen, plumpen Anekdoten und der
Beteuerung tierschützerischer Beweggründe verschonte. Aber das wäre vom
Hochsitz aus nicht möglich, auch wenn sich die Armauflage leicht zu einer
Schreibunterlage umfunktionieren ließe. Um William Burroughs zu zitieren,
vielleicht müssten wir uns wieder Zähne und Krallen wachsen lassen, uns
kriechend auf die Beute zu bewegen, auf das Fremde, dem wir uns - belügen
wir uns doch nicht - nicht nur verwandt, sondern von dem wir uns auch
angezogen fühlen.