Jürgen Engel
Kunst und Honig


Mitwirkende:
Viktoria Meienburg: Vorleserin
Bernhard Kathan: Küche, Text
Hardy Ess, Hans Soukup: Dokumentation
Moritz: bewundernswerter Störefried


Stellen Sie sich, wenn Sie können, einen kleinen Raum vor, sechseckig wie die Zelle einer Bienenwabe. Weder ein Fenster noch eine Lampe erhellt ihn, und doch ist er von sanftem Glanz erfüllt. Es gibt keine Öffnungen für die Ventilation, aber die Luft ist frisch. Musikinstrumente sind nicht vorhanden, dennoch hallt in dem Augenblick da meine Betrachtung beginnt, dieser Raum von melodischen Tönen wider. In der Mitte steht ein Lehnsessel, an, seiner Seite ein Lesepult - nichts weiter an Mobiliar. Und in dem Lehnstuhl sitzt eine bekleidete Masse Fleisch, eine Frau, ungefähr fünf Fuß groß, mit einem Gesicht weiß wie ein Schwamm.
Ihr gehört der kleine Raum.
Eine elektrische Klingel läutete.
Die Frau berührte einen Schalter, und die Musik verstummte.
Ich glaube, ich muß nachsehen, wer das ist, dachte sie und setzte ihren Sessel in Bewegung. Er wurde wie die Musik von einem Mechanismus betrieben und rollte sie an das Ende des Zimmers, wo die Klingel noch immer hartnäckig läutete.
„Wer ist da?“ rief sie. Ihre Stimme klang gereizt, denn sie war, seit die Musik begann, schon öfter unterbrochen worden. Sie kannte einige tausend Leute; auf gewissen Gebieten hatten die zwischenmenschlichen Beziehungen enorme Fortschritte gemacht.
Edward Morgan Forster, Die Maschine bleibt stehen


Abb: Brehms Tierleben


Zähklebrige Masse. Duftnoten, Nebentöne. Honig kennt viele Qualitäten. Er kann mehr oder weniger süß, flüssig oder kristallin sein, hell und dunkel, diesen und jenen Geschmack haben, hunderte von Nuancen. Kastanienhonig hat bis zu 1,5 Promille Ameisensäure, während Akazienhonig fast frei von Ameisensäure ist. Bienen ist all dies kein Anliegen. Sie haben keine Vorstellung, dass Honig als Metapher des Vieldeutigen und Indifferenten genossen werden kann.

Im Frühling, wenn Blütezeit ist, hat sich im Stock die größte Anzahl von Bienen gebildet. Es ist Schwarmzeit. Da der Platz im Stock zu knapp geworden ist, zieht die Hälfte der Bienen wie eine heftig strömende Flüssigkeit aus - es kommt neben der geschlechtlichen nahezu gleichzeitig zu einer ungeschlechtlichen Fortpflanzung: Der Bien verdoppelt sich in einer Art Zellteilung. Bevor ein Teil der Bienen mit der alten Königin ins Freie stürzt und wie ein summendes Insektengehirn auf einem Obstbaum hängt (von dem es durch den Imker, der das Schwärmen am liebsten verhindert, mit einem Kasten wieder eingefangen wird), haben die Arbeitsbienen schon Vorsorge getroffen. 16 Tage vor dem Schlüpfen einer neuen Königin haben sie mehrere größere Weiselzellen angelegt und die widerspenstige alte Königin (die ihren gewohnten Stock später verlassen muß) gezwungen, für Nachfolge zu sorgen. Die Maden und Puppen werden mit einem speziellen Saft aus den Kopfdrüsen der Arbeitsbienen, dem Gelée royale, gefüttert. Von den schlüpfenden Jungköniginnen wird nur eine einzige von einem „Hofstaat“ umgeben, unverzüglich darauf werden ihre Schwestern von den Arbeitsbienen abgestochen. Die alte Königin hat den Stock längst verlassen, wenn ihre acht Tage alt gewordene Nachfolgerin - begleitet von einer Drohnenwolke - zum ersten Begattungsflug aufbricht. Der schnellste Drohn, der, weitab vom Standort, die Königin eingeholt hat, stülpt seinen grotesk großen, gallertigen Begattungsschlauch nach außen, schnellt ihn mit der darin enthaltenen Samenmasse im Flug in die Königin und sinkt sterbend, da ihm bei diesem Vorgang der Geschlechtsapparat abgerissen wird, zu Boden. Sofort stürzt sich der nächste Drohn auf die Königin, entfernt den Geschlechtsapparat des Vorgängers und vereinigt sich mit ihr auf dieselbe Weise. Die Königin wird fünf- bis zehnmal begattet. Acht bis zehn Millionen Samenfäden der Drohnen hat sie in einer Samenblase des Hinterleibes gespeichert. Aus befruchteten Eiern, die nicht größer als ein Kümmelkorn sind, werden Arbeitsbienen, aus den unbefruchteten - Drohnen. Die Drohnen haben daher keinen Vater, aber einen Großvater, eine Großmutter, zwei Urgroßmütter und einen Urgroßvater. Während eine Arbeitsbiene, die einen Großvater, zwei Urgroßväter und drei Urgroßmütter hat, in den Sommermonaten 35 bis 50 Tage lebt (im Winter aber sieben Monate), dauert das Leben einer Drohne bis zu fünf Monaten. Im August ereignet sich die „Drohnenschlacht“. Es ist ein seltsamer biologischer Vorgang. Der Bien trennt sich von seinem männlichen Geschlechtsteil - er entmannt sich geradezu. Die Bienen bereiten sich nämlich, nachdem nichts mehr blüht, darauf vor, daß sie vom eingebrachten Honig leben müssen. Bemerkenswerterweise haben die Sommerbienen, die ihre Nachfolger, die Winterbienen, nie zu Gesicht bekommen, diesen gesammelt und dafür ihr eigenes Leben beträchtlich verkürzt. Nun befreien sich die Bienen also von den „überflüssig“ gewordenen Essern. Eines Tages wird den Drohnen die Nahrung verweigert, und sie werden aus dem Stock gedrängt. Da sie keinen Stachel haben, können sie sich nicht wehren. Besonders hartnäckige werden abgestochen. Es folgt eine Festmahlzeit für Vögel und Igel, die in diesen Tagen in der Nähe der Bienenstöcke anzutreffen sind. Bald darauf hält der Bien den Winterschlaf.
Gerhard Roth, Über Bienen


Honig ist Bienenkotze. Die Bienen nehmen den Nektar mit ihren Mundwerkzeugen auf und transportieren diesen, versetzt mit Fermenten, in ihrem Sammelmagen. Nur ein kleiner Teil des so gesammelten Nektars wird vom eigentlichen Magen, welcher der Eigenversorgung dient, aufgenommen. Gustav Mahler soll ein Honigverweigerer gewesen sein. Er wollte nicht von Tieren Erbrochenes essen. Das im Sammelmagen der Biene Transportierte wird wieder herausgepresst, in Zellen und Waben gestampft. Vorrat für den Winter. Beim Waldhonig werden die süßen Exkremente der Blattläuse in Honig verwandelt. Schlucken, Verdauen, Ausscheiden, Aufnehmen, oftmaliges Erbrechen, Wiederschlucken und Ausspucken unter Beimengung eigener Fermente.

Von den drei schlafenden Töchtern des Königs sollte die jüngste und die liebste herausgesucht werden. Sie glichen sich aber vollkommen und waren durch nichts verschieden, als dass sie, bevor sie eingeschlafen waren, verschiedene Süßigkeiten gegessen hatten, die älteste ein Stück Zucker, die zweite ein wenig Sirup, die jüngste einen Löffel Honig. Da kam die Bienenkonigin von den Bienen, die der Dummling vor dem Feuer geschützt hatte, und versuchte den Mund von allen dreien, zuletzt blieb sie auf dem Mund sitzen, der Honig gegessen hatte, und so erkannte der Königssohn die Rechte.
Grimm, Die Bienenkönigin


Lfd. Nr.
Bezeichnung
Produzent Bezugsquelle Kaufdatum Kaufpreis Kommentar
1
Blütenhonig
Prof. Dr. H. Stever
78829 Landau
dito 23.06.02 Geschenk Beste Note
2
Europäischer Wald
(Honigtau-Honig)
Eden-Waren
36088 Hünfeld
Reformhaus Lichte
28195 Bremen
04.07.02 5,01 Euro Etwas flach
3 Gelee Royal
in Blütenhonig
Fürsten-Reform
Dr. Plüner Nachf.
38110 Braunschweig
Extra-Markt
28213 Bremen
04.07.02 5,29 Euro Extrem süß
4
Edelkastanien-
Honig
Prof. Dr. H. Stever
76829 Landau
dito 23.06.02 Geschenk Ebenfalls die
beste Note
5
Tannenhonig
(Honigtau-Honig)
Dreyer-Bienhonig
29525 Uelzen
Reformhaus Lichte
28195 Bremen
27.06.02 8,70 Euro Aromatisch und
ganz gut
6
Waldhonig
(Honigtau-Honig)
Ökolog. Imkerei Musch
88416 Ochsenhausen
Bienenmuseum
89257 Illertissen
06.07.02 4,50 Euro Geschmackvoll
und gut
7
Akazienhonig
Eden-Waren
36088 Hünfeld
Reformhaus Cordes
28213 Bremen
24.06.02 3,95 Euro Nicht probiert
In der Reihenfolge der Verkostung


Foto: Jürgen Engel


Der Mensch als Honigsammler raubt das, was Bienen in Frühjahr und Sommer als Wintervorrat anlegen. Die kulturgeschichtlich ersten Honigsammler waren buchstäblich Honigräuber. Sie kannten keine Bewirtschaftung eines Bienenvolkes. Bei solchem Honigraub wurde das Bienenvolk vernichtet. In den „Beuten“, die noch an den ursprünglichen Raub erinnern, nutzten die Zeidler (Naturhonigsammler) das Erfahrungswissen, dass Bienen vom Menschen geschaffene Höhlen aufsuchen. Beuten aus ausgehöhlten Baumstämmen, Kork, Holz, Kuhmist oder Ton, in Form von Körben oder auch unterschiedlichsten Gestalten wie Riesen oder Frauen. Die Scheide als Flugloch. Die Bienen kamen zwar so zu den Menschen, dieser zerstörte aber weiterhin, um sich ihren Honig anzueignen, das Volk. In der heutigen Imkerei werden Bienen intensiv betreut und den Winters durchgefüttert. Der Imker beobachtet Weiselzellen und Schwarmbereitschaft. Ist es notwendig, greift er ein, ersetzt etwa die alte Königin durch eine junge. Die Imkerei verdankt sich der frühen wissenschaftlichen Bienenforschung, in der minutiös das Innenleben eines Bienenvolkes beschrieben und somit verständlich wurde. Es bedurfte nicht allein eines feingeschliffenen Skalpells und eines guten Mikroskops, Voraussetzung dafür war vor allem eine leidenschaftliche Neugier. Der Bienenstock, also die Voraussetzung dafür, ein Bienenvolk im modernen Sinn zu bewirtschaften, wurde um 1850 erfunden. Erwähnt sei Francois Huber (1750 - 1831), der, obwohl er in jungen Jahren sein Augenlicht verlor, zu den Pionieren der Bienenforschung zählt. Ohne einen treuen Diener, der alle Anweisungen gewissenhaft befolgte und in der Lage war, das, was er sah, genau zu beschreiben, wäre dies nicht möglich gewesen.

Bienen sammeln Blütenpollen, Nektar, nehmen auf, fermentieren, erbrechen, stampfen fest, schaben sich gegenseitig Wachs vom Körper, um Waben daraus zu bauen. Deutschland auf und ab, kreuz und quer. Sammeln von Erfahrungen, Notizen und Bildern. Ein Bienenleben ist kurz. Keine Biene vermag das Ergebnis ihrer Arbeit zu betrachten. Autobahnen. Marke Ford Mondeo ST 200 Baujahr 2000. Sammeln, was Bienenfreunde absondern, das Gesammelte wiederum mit Eindrücken und Überlegungen auf langen Autofahrten fermentieren. Dann, wenn auch kein Erbrechen, so doch ein Abgeben, Nähren. Keine Plastik, nicht einmal ein Fotodokument. Ein Prozess, in dem aus Gläsern in Mägen, von einem Gehirn in andere abgegeben wird. Wird Honig verkostet, dann geht es weniger um etwas Materielles als um etwas Soziales oder Geselliges. Jürgen Engel als glücklicher Bildhauer. Er produziert nichts, was sich greifen oder sehen ließe. Aber wenn auch unbestimmt, immer abhängig von Situationen, so findet sich doch ein Produkt, mag es noch so oft seine Gestalt ändern. „Wie arbeiten Sie? Honig auf Leinwand? Machen Sie Honigkunstskulpturen? Was verkaufen Sie?“ Eine Galeristin: „Ich möchte nicht, dass die Räume mit Honig bekleckert werden!“ Herumgetrieben durch die Neugier, eine gierige und zügellose Neugier. Das Projekt bin ich nun selber geworden. Es bleiben Artefakte, Verweise. Tabellen und Protokolle auf großen Papierflächen. So wird das Unsichere der Neugier überschaubar. Jedes Kolloquium wird zu einem vorläufigen Endpunkt einer Reihe vorangegangener Situationen. Jürgen Engel verknüpft so Anwesende mit Abwesenden, Vergangenes mit Gegenwärtigem, Gegenwärtiges mit Zukünftigen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass das so Aufgenommene sich später in andere Räume, Mägen und Gehirne ergießen wird.

Datum Gesprächsort Gesprächspartner/Beruf Thema
16.02.01 Gensingen Theresia Fleck, Dipl.-Musikerin Unvorhersehbarkeit
22.03.01 Amsterdam (NL) Ruth Sachse, Galeristin Projektidee
12.05.01 Zgorzelec (PL) Viktoria Meienburg, Vorleserin Lesungen
27.05.01 Bad Zwischenahn Eléonore Dolibois, Yogalehrerin Madhu-Vidya
02.06.01 Hamburg Michael Stahl, Pastor Bibelfundstellen
06.06.01 Weimar Manon Hoof, Malerin/
Prof. Burkhard Grashorn, Architekt
Projektskizze
07.06.01 Weimar Deutsches Bienenmuseum 1. Besichtigung
21.10.01 Leck 1. Transport der UMAC Präsentation
31.10.01 Frankfurt Jutta Kritsch, Malerin Ausstellungskonzept
02.12.01 Weimar Deutsches Bienenmuseum 2. Besichtigung
13.12.01 Weimar Monika Herb, Museumspädagogin Recherchen
05.02.02 Landau Prof. Hermann Stever, Mathematiker Bienenarchiv
11.05.02 Weimar Deutsches Bienenmuseum 3. Besichtigung
28.05.02 Gensingen Theresia Fleck, Dipl.-Musikerin Projektberatung
06.07.02 Illertissen Karl-August-Forster-Bienenmuseum 1. Besichtigung
06.07.02 Vorarlberg (A) Hidden-Museum Performance




Rechenbeispiel einer Schularbeit der sechsten Schulstufe: Bienen sammeln Nektar und Blütenstaub in sehr großer Entfernung. Bienen benötigen für ihren Flug pro 100m ....... Kalorien. 1 Gramm Honig ist mit ...... Kalorien gleichzusetzen. Das Fassungsvermögens eines Sammelmagens beträgt 50 Milligramm. Wie groß muss die Entfernung sein, dass Bienen ein mit Honig bestrichenes Brett nicht mehr anfliegen. Dass dies auch eine Frage des Blütenangebotes wie des Wetters ist, sei hier unbeachtet.

Was ist den Bienen nicht alles angedichtet worden, angefangen bei ihrem sprichwörtlichen Fleiß bis hin zum perfekten Staatsgebilde! Der Bienenstaat findet sich auch in den negativen Utopien des zwanzigsten Jahrhunderts, etwa in Edward Morgan Forsters 1928 erstmals erschienenen Erzählung Die Maschine bleibt stehen. In dieser Erzählung leben die Menschen in einer Welt, in der das einzelne Individuum nichts zählt, das Ganze dagegen alles. Sie leben in wabenartigen Zellen, zwar streng voneinander geschieden, aber in ständigem Kontakt mittels telekommunikativer Verdrahtung. Kontakt mit Mitmenschen geschieht über eine Art Bildtelefon. Da alle Bedürfnisse befriedigt sind, besteht ihr Lebensinhalt nur noch in der permanenten Suche nach neuen Ideen. Diese können nicht verrückt genug sein, aber mit eigenen Erfahrungen dürfen sie nichts zu tun haben. Die Menschen, die sich in Sachen Kommunikation in Abgrenzung zu früheren Gesellschaften für besonders fortschrittlich halten, vermögen nicht mehr, die Inhaltsleere des verkabelten Informationsaustausches zu sehen. Und so kommt es wie es kommen muss. Dem technischen und sozialen Kollaps ihrer Welt haben sie nichts entgegenzusetzen. Anfangs beklagen sie noch, dass der mechanische Arzt nicht mehr wie gewohnt von der Decke herunterfährt, um Thermometer oder Tabletten in den Mund zu schieben, Bett und Badewanne sich nicht mehr den Wünschen entsprechend aus dem Boden formen, oder der Musikgenuss durch Nebengeräusche gestört wird. Schließlich fügen sie sich einfach in ihr Schicksal.

Wenn ein Bienenvolk stirbt, ist das ungefähr so, als wäre ein Tier gestorben. Man vermisst eine Persönlichkeit, fast wie bei einem Hund oder zumindest wie bei einer Katze.
Eine tote Biene ist einem völlig gleichgültig; man fegt sie einfach weg. Das Sonderbare ist, dass die Bienen genau die gleiche Einstellung haben. Einen so totalen Mangel an Interesse für den Tod der anderen gibt es nicht bei vielen Tierarten. Zerdrücke ich ein paar Bienen, wenn ich einen Rahmen zu nachlässig einsetze, dann schleppen die andern sie weg, als handele es sich um irgendwelche kaputten Maschinen. Aber zuerst holen sie sich immer die Pollen, falls welche da sind.
Lars Gustafsson, Der Tod eines Bienenzüchters


Kuno, der Held der Erzählung, klagt vor allem Erfahrung ein, letztlich den Körper mit seinen Grenzen und seiner Verletzlichkeit. Er will sich nicht länger den Täuschungen distanzlosen Verkehrs hingeben, Entfernungen real erfahren:
Du weißt, dass wir das Gefühl für den Raum verloren haben. Wir sagen „der Raum ist ausgelöscht“, doch haben wir nicht den Raum ausgelöscht, sondern das Gefühl dafür. Wir haben einen Teil unserer selbst verloren. Ich beschloß, ihn wiederzuerlangen, und begann damit, die Plattform der Bahn außerhalb meines Zimmers auf und ab zu wandern. Auf und ab, bis ich müde war und so die Bedeutung von „nah“ und „fern“ zurückeroberte. „Nah“ ist eine Stelle, zu der ich schnell zu Fuß gelangen kann, nicht ein Ort, an den mich die Bahn oder das Luftschiff schnell hinbringt. „Fern“ dagegen eine Stelle, wohin ich nicht rasch zu Fuß hin kann; der Schlund ist „fern“ obwohl ich in achtunddreißig Sekunden dort sein könnte, indem ich die Bahn besteige. Der Mensch ist das Maß. Das war meine erste Lektion. Des Menschen Füße sind das Maß für die Entfernung, seine Hände das Maß für den Besitz, sein Körper das Maß für alles, was liebenswert, wünschenswert und stark ist. Dann ging ich weiter. Kuno ist vor allem neugierig. Er will die Dunkelheit von Rohren und Schächten erfahren. Er will die feindliche gewordene Oberfläche der Erde sehen, den Körper seiner Mutter spüren, ihr blasses Gesicht sehen: Ich sehe so etwas Ähnliches wie dich in dieser Scheibe - aber dich sehe ich nicht. Ich höre so etwas Ähnliches wie dich durch das Telefon - doch dich höre ich nicht.


zeichnung: joseph beuys


Bienen kennen keine Neugier. Nach strikt festgelegter Mechanik wird Nektar gesammelt, werden Drohnen oder überzählige Jungköniginnen abgestochen. Bienen kennen kein Drama, keine Tragödie. Der Königinnenmord ist Programm, festgelegt seit abermillionen Jahren. Im Gegensatz zur Biene hat der Mensch die Fähigkeit zur Neugier. Er kann sich treiben lassen und andere Welten antizipieren. In Forsters Erzählung verfügen die Menschen über keine Vorstellungen mehr, die sich auf Dinge oder Ereignisse bezögen, die in der Zukunft liegen. Kuno klagt nicht nur die räumlichen Entfernungen ein, sondern vor allem jene Zeit, die zwischen einem Wunsch und seiner Befriedigung liegt. Konsequent lässt Forster Kuno mit allen anderen umkommen, allerdings um Erfahrungen reicher, die ihn erst zu einem menschlichen, selbstbestimmten Wesen gemacht haben. Das Erstaunliche an der Geschichte: Für Forster bildet die Anerkennung von Schmerz und Tod, also das, was man mit Flusser die kalte Außenluft nennen könnte, aber auch die Unzulänglichkeiten des menschlichen Körpers die Voraussetzung zwischenmenschlicher Begegnung und menschlicher Würde.

Der Museumsdirektor hat sich den Imker zum Vorbild genommen. Er weiß, wieviel Neugier und Sorge sein Museum erfordert, weiß aber auch, dass er dieses lange Zeiten sich selbst und anderen überlassen muss.

„Wo bist du?“ schluchzte sie.
Im Dunkeln sagte seine Stimme: „Hier.“
„Gibt es noch Hoffnung, Kuno?“
„Nicht für uns.“
„Wo bist du?“
Über die Leiber der Toten kroch sie zu ihm hin. Sein Blut spritzte über ihre Hände.
„Schneller“, keuchte er, „ich sterbe ... , aber wir berühren uns, wir reden, nicht durch die Maschine.“
Er küsste sie.
Edward Morgan Forster, Die Maschine bleibt stehen


Danksagung:
Eléonore Dolibois, Yogalehrerin, Blonay (CH)
Theresia Fleck, Dipl. Musikerin, Gensingen
Prof. Dipl.-Ing. Burkhard Grashorn, Architekt, Bauhaus-Universität in Weimar
Monika Herb, Museumspädagogin, Bienenmuseum Weimar
Manon Hoof, Malerin, Weimar
Jutta Kritsch, Malerin, Frankfurt
Viktoria Meienburg, Vorleserin, Hamburg
Ruth Sachse, Galeristin, Amsterdam
Michael Stahl, Pastor, Hamburg
Prof. Dr. Hermann Stever, Mathematiker, Landau i.d. Pfalz
Walter Wörtz und Heike Höss, Bienenmuseum Illertissen