Hungerkünstler
Bernhard Kathan





"In der Achtung, die wir einem solchen Leben entgegenbringen, erkennen wir die Gegenwart des Geheimnisses in der Welt an und eben dieses Geheimnis wird durch den sicheren Besitz der Wahrheit, einer objektiven Wahrheit, geleugnet. In diesem Sinne ist alle Wahrheit oberflächlich, sind hingegen einige (wenn auch nicht alle) Verzerrungen der Wahrheit, sind einige (wenn auch nicht alle) Manifestationen des Wahnsinns, sind einige (wenn auch nicht alle) Phänomene des Ungesunden und einige (wenn auch nicht alle) Absagen an das Leben eine Quelle der Wahrheit, der Vernunft, der Gesundheit und des Lebens."
Susan Sontag


Nikolai Gogol starb 1852 zu Beginn der Fastenzeit an den Folgen seines Hungerns, César Vallejo am Karfreitag des Jahres 1938 an Unterernährung. An selbst auferlegtem oder aufgezwungenem Hungern starben Simone Weil, Paul Scheerbart, Daniil Charms und andere. Es gibt keinen Grund, das Leben von Menschen, die verhungert sind, zu verklären. Aber angesichts des heutigen Kunst- und Kulturbetriebes, in dem sich Kunst und Werbung wechselseitig durchdringen, sich oft genug das eine vom anderen nicht mehr unterscheiden lässt, lohnt sich die Beschäftigung mit Künstlern und Schriftstellern, die verhungert, wenn man so will, gescheitert sind, die sich alles andere als marktkonform verhielten, auch auf die Gefahr hin, sich lächerlich zu machen oder daran zugrunde zu gehen.

Das Projekt ist als Hörinstallation konzipiert. An einer Wand sind in einer langen Serie Wiedergabegeräte montiert. Auf jedem dieser Wiedergabegeräte ist eine Textmontage über Kopfhörer zu hören. Durchwegs geht es dabei um Essphantasien und Hungererfahrungen. Neben jedem Wiedergabegerät findet sich eine kurze "Objektlegende" mit Angaben zur jeweiligen Person wie den Todesumständen. Die Reihung erfolgt nicht chronologisch, sondern im Sinne thematischer Verwandtschaften. Simone Weil kann sich so neben Katharina von Siena finden, obwohl ihr das gewiss nicht gefallen hätte.

Textmontagen wie ich sie verstehe, haben nichts mit einer Zusammenfügung schöner, witziger, unterhaltsamer, ironischer oder wie immer gearteter Zitate zu tun. Es gilt, sich einem Werk möglichst anzunähern, ohne dieses zu kopieren. Im Gegenteil, es muss ein eigenständiger Text entstehen, mag er auch einzig aus Zitaten montiert sein. In der Regel arbeite ich mit einem Dekonstruktionsverfahren, wenn man so will, mit einer Art Zurückübersetzung. Das kann etwa dann gelingen, wenn man eine Geschichte entkernt, sich mit Metaphern beschäftigt und so fort. Bei Scheerbart habe ich etwa die Handlung gestrichen und Küchen- und Essphantasien aneinander gereiht. In Daniil Charms' Tagebüchern fielen mir dessen Tagespläne auf, mit deren Hilfe er sein alltägliches Leben zu strukturieren suchte. Solche Tagespläne montierte ich in einem ersten Durchgang zu einem einzigen Tagesplan. Dann fügte ich kontrapunktisch von ihm beschriebene Hungererfahrungen ein, stets darauf achtend, dass die Schnittstellen nahezu unmerklich sind. Schwieriger war es bei César Vallejo. Zum einen standen mir nur zwei Gedichtbände zur Verfügung (es ist also auch eine Frage der Materialmenge), dann sind Vallejos Gedichte so genau gesetzt, dass jeder Eingriff einer Verstümmelung gleichkäme. Beim wiederholten Lesen wurde mir erst bewusst, dass es wohl kaum ein Werk eines anderen Schriftstellers gibt, in dem sich so viele Körperbilder finden. In der Folge habe ich all die Metaphern herausgeschrieben, teils paraphrasiert, teils wörtlich übernommen, nach Organen oder Körperstellen geordnet und anschließend montiert, stets auf inhaltliche Überlappungen wie den Sprachfluss achtend. In der Organabfolge entschied ich mich nach langen Überlegungen, den Text mit den Fersen, Füßen und Zehen enden zu lassen, also bei Vallejos Bildern unmöglicher Fluchten. Wir haben es mit einem Interpretationsverfahren zu tun, mit Deutungen, die nicht der einzelnen Person, sondern deren Texten gelten.

Besonders lange arbeitete ich an der Geschichte der Katharina von Siena. Die Schwierigkeit liegt nicht nur dort, wo uns insbesondere ihre Blutmetaphorik fremd ist, sondern im Textmaterial selbst. Textmontagen brauchen einen Spannungsbogen, eine innere Struktur, einen Rhythmus. Eine Auflistung von Metaphern genügt nicht. Die Lösung verdanke ich jenem an ihren Beichtvater Raimund von Capua gerichteten Brief, in dem Katharina die Hinrichtung des Perugianers Niccolo Toldò schildert. Mit dem Urteil hatte Katharina nicht das geringste Problem. Im Gegenteil, dieses Urteil bot ihr die Möglichkeit, ihre Bluthochzeit mit Christus zu imaginieren. Katharina war bei dieser Hinrichtung nicht nur zugegen, sondern fing, als der Henker den Streich führte, das Haupt des Niccolo Toldò auf. Mag dieser Brief auch sehr unterschiedliche Ebenen kennen, so konzentrierte ich mich einzig auf das erwähnte Ereignis, ordnete jene Sätze, in denen sie darauf konkret bezug nimmt, in eine chronologische Abfolge und fügte dann an den entsprechenden Stellen von Katharina verwendete Metaphern ein. Da sich solche Metaphern in ihren Briefen sehr oft wiederholen, habe ich diese komprimiert und rhythmisch geordnet. In diesem Zusammenhang sehe ich in Satzumstellungen kein Problem. Wo es möglich war, habe ich das Du eingeführt, um so den Eindruck zu erwecken, als spräche Katharina mit diesen Worten Niccolo Toldò selbst an. In den Briefen sind all diese Stellen an andere Personen gerichtet. Nun kann man einwänden, dies komme einer Verstümmelung von Katharinas komplexer Theologie gleich. Mag sein. Aber erinnert man sich der vielen Visionen der Katharina, dann haben wir es auch weniger mit Theologie als mit höchst sinnlichen Bildern zu tun. Nicht zuletzt solchen Bildern verdankte sich ihr Erfolg.

Solche Textmontagen setzen eine intensive Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Werk voraus, dies selbst dann, wenn das Ergebnis inhaltlich wie konzeptionell banal erscheint. Mit Gogols Toten Seelen wie all dem, was er nach dem Erscheinen des ersten Teiles bis zu seinem Tod schrieb, habe ich mich intensiv beschäftigt. Am Ende blieb nur eine Auflistung der von Gogol im ersten Teil der Toten Seelen erwähnten Gerichte. Dies mag banal scheinen, überzeugt mich aber nicht zuletzt dort, wo all diese Gerichte in einem grotesken Widerspruch zu Gogols Fasten stehen. Statt Störe auf großen Platten Vollkornbrötchen mit abführender Wirkung. Um es anders zu sagen: Solche Textmontagen gelingen nur, wenn man in fremde Texthäute schlüpft, mag man sich auch einmal im Siena des Jahres 1375, dann im Leningrad des Jahres 1940 befinden. Und damit ist auch angedeutet, dass wir es mit zahllosen Perspektiven wie mit möglichen oder unmöglichen Verschränkungen zu tun haben.

Ob Gogol, Simone Weil, Katharina von Siena oder andere: über sie ließen sich mühelos die ganzen Schmutzkübel der Psychopathologie ausschütten. Das liegt mir fern. Praktische Tipps zum alltäglichen wirtschaftlichen Überleben von Kunstschaffenden werde ich auch keine geben.

08/12/07 Bernhard Kathan

In Abständen von etwa einem Monat findet sich jeweils eine neue Geschichte in Christiane Zintzens salon-littéraire.
| Bernhard Kathan: Nikolaj Gogol
| Bernhard Kathan: Daniil Charms
| Bernhard Kathan: Paul Scheerbart
| Bernhard Kathan: César Vallejo
| Bernhard Kathan: Katharina von Siena
| Bernhard Kathan: Simone Weil

Die Klanginstallation selbst wird bis Ende 2008 realisiert sein.


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