Ich gieße die Blumen ....
Janusz Korczaks Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto
„Es ist ein schweres Ding, geboren zu werden und leben zu lernen. Mir bleibt
eine weitaus leichtere Aufgabe: zu sterben. – Nach dem Tod kann es wieder
schwer werden, aber daran denke ich nicht. Das letzte Jahr oder der letzte
Monat oder die letzte Stunde? Sterben möchte ich bewusst und bei Sinnen. Ich
weiß nicht, was ich den Kindern zum Abschied sagen würde. Ich würde ihnen
gern so viel sagen, dass sie ihren Weg völlig frei wählen können. Zehn Uhr.
– Schüsse: einer, zwei, mehrere, zwei, einer, mehrere. – Vielleicht ist
gerade dieses mein Fenster schlecht verdunkelt? Aber ich höre nicht auf zu
schreiben. Im Gegenteil: lebendiger (ein vereinzelter Schuss) werden die
Gedanken.“
Janusz Korczak, Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto
Ich habe mich in den letzten Jahren regelmäßig durch literarische
Verarbeitungen der NS-Zeit gelesen. Kaum einer dieser Texte hat mich
wirklich beschäftigt. Das liegt zum einen am illustrativen Charakter. Dann
sind jeweilige Narrationen unübersehbar ihrer Entstehungszeit geschuldet.
Wissen ist eingeflossen, welches damalige Akteure in der Regel so nicht
haben konnten. Sie geben also mehr Auskunft darüber, wie zu diesem oder
jenem Zeitpunkt die NS-Zeit verhandelt wurde, als über eigentliche
Erfahrungen. Dies gilt bis zu einem gewissen Grad auch für Texte
Überlebender, wodurch ihre Bedeutung keineswegs in Abrede gestellt werden
soll. Manche Motive, die wir heute mit Konzentrationslagern verknüpfen,
wurden erst im Nachhinein zu wirklichen Motiven. Es ist gar nicht anders
möglich. So funktioniert eben das Erzählen und das Erinnern.
Wirklich betroffen gemacht haben mich Texte, die während der NS-Zeit
entstanden sind, etwa Janusz Korczaks im Warschauer Ghetto verfasstes
Tagebuch. Er begann damit im Mai 1942, die letzte Eintragung ist auf den 4.
August datiert. Wenige Tage später wurde Korczak mit den Kindern des
Waisenhauses Dom Sierot nach Treblinka deportiert und dort ermordet. Um ein
Tagebuch im eigentlichen Sinn handelt es sich nicht. Erinnerungen an die
eigene Kindheit oder seine Tätigkeit als Arzt wechseln mit essayistischen
Skizzen wie unmittelbaren Erfahrungen. Vieles, was er in seinem Umfeld in
diesen dramatischen Tagen erlebte, erwähnt er mit keinem Wort.
Korczak muss das Tagebuch unter großem Druck verfasst haben. Zumeist schrieb
er in der Nacht oder am frühen Morgen, bevor die Kinder geweckt wurden.
Immer wieder entschuldigt er sich, einen Gedanken nur angerissen zu haben.
Er sei zu müde, um weiterschreiben zu können. Auch konnte die Tinte, das
Papier oder das Licht ausgehen und ihn am Schreiben hindern: „Ein paar
ereignisreiche Wochen liegen hinter uns. Jetzt geht mein Block zu Ende. Und
wieder ein Grund, um auch heute nicht zu schreiben, obwohl ich ideal
ausgeschlafen bin und vier Gläser starken Kaffee getrunken habe, freilich
aus Kaffeesatz, aber, so vermute ich, aufgefüllt mit ungebrauchtem,
gemahlenem Kaffee. So machen wir uns etwas vor: Ich habe kein Papier. Ich
werde in Diderots Jacques, der Fatalist lesen.“
Und dann konnte er in seinem Schreiben jederzeit durch eines der Kinder
gestört werden: „Ich hatte einen Gast im Bett. Mendelek hat etwas geträumt.
Ich habe ihn in mein Bett geholt. Er hat mein Gesicht gestreichelt und ist
eingeschlafen. Er piepst. Ihm ist unbequem. ‚Schläfst du?’ ‚Ich dachte, ich
bin im Schlafsaal.’ Die schwarzen, äffchenhaften Knopfaugen sehen mich
verwundert an. ‚Du warst im Schlafsaal. Willst du wieder in dein Bett?’
‚Störe ich Sie?’
‚Du legst dich auf die andere Seite. Ich bring dir ein Kissen.’ ‚Gut.’ ‚Ich
werde schreiben. Wenn du dich fürchtest, komm zurück.’ ‚Gut.’“
Die Einträge im Tagebuch lesen sich buchstäblich als Nachtbilder. Er schrieb
nicht nur nachts, dunkel war auch alles um ihn herum: „Peinigt der Tag,
tröstet die Nacht. – Ein gut verlaufener Tag, eine peinigende Nacht. Über
das Federbett könnte ich eine Monographie verfassen. Der Bauer und das
Federbett. Der Proletarier und das Federbett. Schon lange habe ich die Welt
nicht mehr gesegnet. Diese Nacht habe ich es versucht – es schlug fehl. Ich
weiß nicht einmal, worin mein Fehler bestand. Das reinigende Atmen gelang
einigermaßen. Aber die Finger blieben schwach, keine Energie, die sie
durchströmte. ... Ob ich an die Wirkung glaube? – Ja, aber nicht an meine. –
Indien! – Das heilige Indien!“
Korczak hat sich vieles aufgebürdet. Als hätte es nicht gereicht, für das
Dom Sierot verantwortlich zu sein, übernahm er auch noch die Leitung des
Findelhauses in der Dzielnastraße. Dort waren tausend Kinder untergebracht.
Die Sterblichkeitsrate lag bei sechzig Prozent. Das Personal war korrupt,
zweigte von den ohnehin kärglichen Rationen der Kinder ab. Ständig hatte er
dort mit dem Personal zu kämpfen. Er wurde sogar bei der Gestapo angezeigt,
einen Typhusfall nicht gemeldet zu haben. Darauf stand die Todesstrafe. Im
Tagebuch bemerkt er dazu lakonisch: „Das Personal. Ein Schornsteinfeger muss
rußbeschmiert sein. Ein Fleischer muss blutbeschmiert sein (ein Chirurg
auch). Der Mann, der die Kloaken ausräumt, stinkt. Ein Kellner muss
durchtrieben sein. Wehe ihm, wenn er es nicht ist. Ich fühle mich
rußbeschmiert, blutbeschmiert, stinkend. Durchtrieben, da ich lebe –
schlafe, esse, hin und wieder sogar scherze.“
Korczak kümmerte sich auch um scheinbar banale Dinge. Es war ihm wichtig,
das Geschirr abzuräumen, hatten die Kinder gegessen. Regelmäßig hielt er
Vorträge. Im Juni nennt er folgende Themen, die an ihn heran getragen
wurden: „1. Die Emanzipation der Frau, 2. Erblichkeit, 3. Einsamkeit, 4.
Napoleon, 5. Was ist Pflicht, 6. Über den Arztberuf, 7. Amiels Tagebuch, 8.
Aus den Erinnerungen des Herrn Doktor, 9. Über London, 10. Über Mendel, 11.
Leonardo da Vinci, 12. Über Fabre, 13. Die Sinne und der Verstand, 14. Genie
und Umwelt (gegenseitige Beeinflussung), 15. Die Enzyklopädisten, 16. Wie
unterschiedliche Schriftsteller unterschiedlich schreiben, 17. Nationalität
– Volk. Kosmopolitismus, 18. Symbiose, 19. Böses und Bosheit, 20. Freiheit.
Vorsehung und freier Wille.“
Man spürt dem Tagebuch die zunehmende Erschöpfung an, unter der Korczak
litt: „Die Augen fallen mir zu. Ich kann nicht. Ich kann wirklich nicht.
Sobald ich aufwache, schreibe ich zu Ende.“ Korczak war erschöpft infolge
seiner Anstrengungen wie unzureichender Ernährung: „Es kommt vor, dass ich
beim Aufwachen morgens denke: Aufstehen, das ist sich im Bett aufsetzen, zu
den Unterhosen greifen, zuknöpfen, wenn nicht alle Knöpfe, so doch zumindest
einen. Sie am Hemd befestigen. – Beim Anziehen der Socken muss man sich
bücken. Die Hosenträger ...“ Beginnt jemand sich bei einfachstem Tun selbst
zu beobachten, dann ist das Ausdruck einer tief erlebten Kluft zwischen sich
und der Welt. Korczak mochte müde gewesen sein, apathisch war er nicht,
mochte er auch eine zunehmende Stumpfheit an sich wahrgenommen haben. Er
fühle sich froh und unfroh. Er gerate in Wut, freue sich, sei beunruhigt,
empört, möchte Erfahrungen machen oder vermeiden, er wolle Gutes, rufe nach
Bestrafung durch Gott und die Menschen. Er qualifiziere: Das sei gut, jenes
schlecht. Dabei nehme er alles wie durch einen Schleier wahr. Seine Gefühle
seien verschwommen, ohne jede Dimension. Sie seien neben ihm, aber nicht in
ihm. Mühelos könne er sich von ihnen lossagen, sie vertagen, auslöschen,
außer Kraft setzen, austauschen: „Der scharfe Zahn verletzt mir die Zunge. –
Ich bin Zeuge einer empörenden Szene: höre Worte, die mich erschüttern
müssten. – Ich kann den Schleim nicht abhusten, verschlucke mich, würge. Ich
zucke die Achseln, es ist mir gleichgültig. Abgestumpftheit. Das emotionale
Elend – dieses jüdische, von grenzenloser Resignation erfüllte: Na was
soll’s? Und weiter? Na was soll’s, mir tut die Zunge weh, erschossen haben
sie den, was soll’s. – Er weiß doch, dass er sterben muss. Und weiter? Man
stirbt doch nicht mehr als einmal? ... Manchmal ergreift mich etwas, und ich
wundere mich, und mir wird gleichsam bewusst oder mir fällt wieder ein, dass
es so ist, sein kann, früher einmal so war. Ich sehe, den andern geht es
genauso.“ Korczak fürchtete, die Apathie und Empfindungslosigkeit, die er um
sich herum wahrnahm, könnte auch von ihm Besitz ergreifen: „Ich huste. Eine
schwere Arbeit – vom Trottoir auf die Fahrbahn hinabzusteigen, von der
Fahrbahn den Gehsteig zu erklimmen. – Ein Fußgänger hat mich angerempelt;
ich taumele und muss mich an die Wand lehnen. Und das ist nicht Schwäche.
Ziemlich leicht hebe ich einen Schüler auf, dreißig Kilo sich sträubendes
Lebendgewicht. Nicht mangelnde Kräfte, mangelnder Wille. Wie einer, der
Kokain schnupft. Ich dachte sogar schon, kommt das vom Tabak, von dem rohen
Gemüse, von der Luft, die wir atmen? Denn es geht nicht nur mir so.
Schlafwandler – Morphinisten.“
Wiederholt äußert er Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Schreibens: „Ich
weiß nicht, wieviel von dieser meiner Autobiographie ich schon
heruntergekritzelt habe. Ich habe nicht den Mut, mir durchzulesen, was das
für ein Gepäck ist. Dabei besteht die Gefahr, dass mir immer öfter
Wiederholungen passieren werden. Und, was schlimmer ist, dass die Tatsachen
und Geschehnisse – in den Details – unterschiedlich dargestellt sein
könnten, ja müssten.“ Er habe den ersten Teil durchgelesen, aber nur mit
Mühe verstanden: „Und der Leser? Kein Wunder, dass das Tagebuch für den
Leser unverständlich ist. Kann man denn fremde Erinnerungen, ein fremdes
Leben verstehen? Man sollte meinen, ich müsste mühelos wissen, was ich
schreibe. Pah! Lassen sich die eigenen Erinnerungen verstehen?“ Immer wieder
komme er auf wichtige, tief erlebte Augenblicke zurück. Dabei verdankten
sich alle Erinnerungen aktuellen Erlebnissen: „Wir lügen unbewusst, wenn wir
uns erinnern. Das ist klar, und ich sage es nur für den simpelsten Leser.“
Auf den ersten Blick scheint es Korczak kein Anliegen gewesen zu sein, die
katastrophalen Zustände innerhalb des Ghettos zu dokumentieren. Sie klingen
zwar immer wieder an, aber nur an wenigen Stellen geht er darauf ein. Eine
Szene erwähnt er zweimal. Auf einem Gehsteig liegt ein sterbender oder
bereits toter Junge. Unmittelbar daneben spielen drei Buben Pferd. Als Zügel
dienen ihnen Bindfäden. Als sich diese ineinander verknoten, suchen sie
diese wieder zu entwirren. Mit den Füßen gegen den Liegenden gestoßen, sagt
einer der Jungen: „Kommt ein Stück weiter, der ist im Weg.“ Sie gehen ein
paar Schritte zur Seite und spielen weiter. Es gäbe Probleme, lägen blutige
Lumpen quer über dem Gehsteig. Die Menschen wechselten auf die andere
Straßenseite, würden ihren Kopf abwenden, um sie nicht zu sehen. Auch er
halte es nicht anders. An anderer Stelle: „Gesegnet seist du, Stille. N.B.
Letzte Nacht sind nur sieben Juden erschossen worden, sogenannte jüdische
Gestapoleute. – Was hat das zu bedeuten? Zweckmäßiger, dem nicht
nachzugehen.“
Ist es bereits schwierig, lange zurückliegende Erfahrungen anderen
verständlich zu machen, um wieviel schwerer muss es dann sein, die
„aktuellen Ereignisse“ zu beschreiben, den tagtäglichen Terror,
Erschießungen oder Deportationen. Korczak sah sich nicht als Chronist des
Warschauer Ghettos. Dafür fehlte es ihm nicht nur an Zeit. Er war auch
misstrauisch, was die Beschreibung des Leides anderer betrifft: „Wer fremden
Schmerz beschreibt, bestiehlt, benutzt gleichsam das Unglück, so, als genüge
ihm noch nicht das, was ist.“
Da die Ernährungssituation katastrophal war, ist es nur zu verständlich,
dass er wiederholt auf das Essen und Trinken zu sprechen kommt: „Auftrieb
geben mir fünf Gläschen Spiritus, zur Hälfte mit heißem Wasser vermengt. Auf
die sich ein wohliges Gefühl schmerzloser Müdigkeit einstellt, denn die
Narbe zählt nicht mehr, und das ‚Ziehen’ in den Beinen zählt nicht, es
zählen nicht einmal mehr die Augenschmerzen und das Brennen in den Hoden.“
An anderer Stelle fragt er sich, was er ohne Zwang, wenn nicht ohne Ekel
essen würde. Dabei fallen ihm eine Reihe von Gerichten ein, Fisch mit
Remoulade, Wiener Schnitzel, Pastete – Hase mit Rotkohl: „Nein! Kategorisch
nein. Warum? Merkwürdige Erklärung: Essen ist Arbeit, und ich bin müde.“
Das Tagebuch war wohl als Versuch gedacht, so etwas wie eine Lebensbilanz zu
ziehen. Da galt es, sich an lange Zurückliegendes zu erinnern, etwa an jenen
Augenblick, in dem er sich bewusst wurde, Jude zu sein. Als Fünfjähriger
habe er im Hof, unter einem Kastanienbaum, in einer blechernen Bonbonbüchse,
in Watte eingepackt, einen Kanarienvogel beerdigt. Es sei der erste ihm
nahestehende und geliebte Tote gewesen. Als er auf das Grab des
Kanarienvogels ein Kreuz habe stellen wollen, habe das Dienstmädchen
gemeint, das ginge nicht, es sei doch nur ein Vogel, etwas sehr viel
Niedrigeres als ein Mensch. Sogar zu weinen sei Sünde. Der Sohn des
Hausmeisters habe die Meinung vertreten, der Kanarienvogel sei Jude: „Und
ich. Ich sei auch Jude, er aber sei Pole, Katholik. Er im Paradies, ich
hingegen würde, sofern ich keine unanständigen Ausdrücke gebrauchte und
daheim Zucker stähle, den ich ihm gehorsam brächte – nach meinem Tod in
etwas kommen, das zwar nicht die Hölle sei, aber es sei dort finster. Und
ich hatte Angst in einem dunklen Zimmer. Der Tod. – Der Jude. – Die Hölle.
Das schwarze jüdische Paradies. – Übergenug, um mir Gedanken zu machen.“
Gleichzeitig konnte Korczak über Künftiges schreiben, geradezu Zukunftspläne
machen. Er wollte noch vieles schreiben, so etwa ausgehend von den
Notizbüchern der Kinder „einen dicken Band über die Nacht in einem
Waisenhaus und überhaupt über den Schlaf der Kinder“, einen zweibändigen
Palästina-Roman, „die Hochzeitsnacht eines Chaluzimpaares am Fuße des Berges
Gilboa, an der Stelle, wo die Quelle austritt.“ Biographien großer
Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik oder der Bibel für Kinder. Solche
hatte er bereits früher verfasst. Er dachte auch an eine Autobiographie:
„Jemand hat irgendwo boshaft geschrieben, die Welt sei ein Tröpfchen
Schlamm, das im unendlichen Raum schwebe; und der Mensch sei ein Tier, das
Karriere gemacht habe. Das mag schon sein. Aber eine Ergänzung: Dieser
Tropfen Schlamm kennt den Schmerz, versteht zu lieben und zu weinen und ist
angefüllt mit Sehnsucht. Und die Karriere des Menschen ist, wenn er das
Gewissen(haft) prüft – zweifelhaft, sehr zweifelhaft.“ Aber beiläufig
notiert er: „Ich vergaß zu erwähnen, dass auch jetzt Krieg herrscht.“ Als er
an sich eine Laus entdeckte, dachte er daran, eine Apologie der Laus zu
schreiben. Wer würde schon den Mut haben, sie in Schutz zu nehmen?
Er sei alt, so oft erwähne er die Vergangenheit, vergangene Jahre und
Ereignisse. Er wolle aber jung sein, also mache er Zukunftspläne: „Was werde
ich tun nach dem Krieg?“ Die Orientierung an der Vergangenheit und der
Zukunft ist gut nachvollziehbar in einem Umfeld, in dem Gewalt und Tod
allgegenwärtig, die unmittelbare Zukunft höchst ungewiss war, „die Juden
jetzt nicht wissen, was der Morgen uns bringt.“ Im Ghetto schienen die
Zeiten tatsächlich durcheinander geraten. Die Vergangenheit drängte in die
Gegenwart. Als öffentliches Verkehrsmittel dienten Pferdestraßenbahnen, wie
Korczak sie aus seiner Kindheit kannte. An die Stelle von Taxis waren
Rikschas getreten, die ihn auch an frühere Zeiten erinnerten. Korczaks
Zeiterfahrung geriet nicht zuletzt deshalb durcheinander, weil er nicht mehr
in der Lage war, niemand in der Lage sein hätte können, all die „aktuellen
Erlebnisse“ zu verarbeiten oder gar niederzuschreiben. Die Berechnungen der
Heiligen Schrift seien kein Unsinn: Methusalem habe wirklich an die tausend
Jahre gelebt. Als naturwissenschaftlich gebildeter und denkender Mensch
dachte er natürlich nicht an tausend Lebensjahre, sondern an Erfahrungen,
die sich in einem solchem Zeitraum anhäufen müssten. Jeder Tag sei ein Buch,
ein dickes Heft, ein Kapitel, das für Jahre reiche. Der Leser müsste einen
ganzen Tag lesen, um einigermaßen seinen Tag zu verstehen. Woche für Woche,
Jahr für Jahr. Dabei wollten die Leser binnen weniger Stunden, mit dem
geringen Aufwand von ein paar eigenen Stunden ein ganzes langes Leben
durchmessen. Und was er schreibe, das sei nichts als eine undeutliche
Verkürzung, eine nachlässige Skizze, eine Episode für tausend, für
hunderttausend. Dabei sei es schwieriger, einen Tag gut zu durchleben als
ein Buch zu schreiben. Um Distanz zu wahren, betrachtete er das unmittelbar
erlebte Elend als Ausdruck eines überzeitlichen Geschehens. Es ginge nicht
um einen verhungernden Bettler, nicht um einen oder auch Hunderte von
Elenden, sondern um Millionen im Verlauf von Jahrhunderten. Das müsse man
mit offenem Auge sehen: „Das Wichtigste ist – dass das alles schon da war.“
Auf seine die Vergangenheit und die Zukunft betreffende Zerrissenheit kommt
er an einer Stelle selbst zu sprechen. In Myszyniec sei ein alter, blinder
Jude zurückgeblieben. Auf einen Stock gestützt sei er zwischen Wagen,
Pferden, Kosaken und Kanonen umhergeirrt. Es sei grausam, einen blinden
Greis zurückzulassen. Aber ein Mädchen mit dem Namen Nastka, er hatte es
kennengelernt, als er ihr half, ein Eimerchen wiederzufinden, das ihr ein
Soldat weggenommen, aber nicht mehr zurückgebracht hatte, meinte, man habe
den blinden Juden mitnehmen wollen, aber er habe sich dagegen gesträubt.
Einer müsse doch auf das Bethaus aufpassen. Korczak: „Ich bin der blinde
Jude, und ich bin Nastka.“ Also die Vergangenheit und die Zukunft, die er
mit dem Kind Nastka verband.
Eine andere Form der Distanzierung, derer er sich bediente, findet sich im
Witz, in (bitterer) Ironie oder Groteskem. Bei Korczak endet solches nicht
in einem befreienden Lachen. Im Gegenteil, stets wird er in die düstere
Wirklichkeit zurückgeworfen: „Die Kaufmannsfrau, bei der sich eine Käuferin
beschwert, sagt: ‚Meine Dame, das hier ist weder eine Ware, noch ist dies
ein Laden, noch sind Sie eine Kundin, noch bin ich eine Kaufmannsfrau, weder
verkaufe ich Ihnen was noch bezahlen Sie mir was, diese Papierchen sind
nämlich gar kein Geld. Sie verlieren nichts, ich verdiene nichts. Wer wird
denn heutzutag betrügen und wozu? Bloß tun muss man was. Oder?’ Wenn man mir
ein Messbuch gäbe, einen Gottesdienst hielte ich zur Not ab. Aber eine
Predigt für die Schäfchen mit der Armbinde könnte ich nicht halten. Ich
würde die Sätze verschlucken, würde in ihren Blicken die Frage lesen: Und,
was soll's? Was weiter? Die Zunge bliebe mir endgültig als Pflock im Halse
stecken.“
Das Ghetto wurde von den Nazis ständig verkleinert, die Juden immer enger
zusammengepfercht. Es gab Kinder, die sich nicht daran erinnern konnten,
jemals einen Baum oder eine Blume gesehen zu haben. Alles, was grün war,
verkümmerte innerhalb der Mauern binnen kürzester Zeit. Im Garten der
Allerheiligenkirche gab es noch einen kleinen Grünstreifen. Um den Kindern
eine Freude zu machen, hoffte Korczak, der Pfarrer möchte die Erlaubnis
erteilen, diesen zu benutzen. Semi, ein Junge, schrieb wohl mit seiner
Unterstützung einen Brief an den Pfarrer: „Wir bitten den sehr verehrten
Herrn Pfarrer höflichst, uns in seiner Güte zu erlauben, ein paarmal
samstags in den Morgenstunden (sechs Uhr dreißig bis zehn Uhr) in den
Kirchgarten zu gehen. Wir sehnen uns nach ein bisschen Luft und Grün. Bei
uns ist es eng und dumpf. Wir möchten die Natur kennen- und lieben lernen.
Die Anpflanzungen werden wir nicht beschädigen. Wir bitten inständig darum,
unsere Bitte nicht abzuschlagen. Zygmus Semi Abrasza Hanka Aronek.“
War es Korczak möglich, ließ er sich durch katholische Polen, mit denen er
befreundet war, Geranien oder Petunienpflänzchen zukommen. Die Kinder
bräuchten etwas, um sich zu beschäftigen. Sich um Pflänzchen kümmern, das
lenke sie von ihren Sorgen ab. Aber auch er goss Pflänzchen, gleichsam als
Behauptung gegen die ständige Bedrohung: „Von welcher Seite ziehen die
Wolken herauf? Wie und wann ballen sich unsichtbare Ohm, Volt, Neone zum
künftigen Blitz oder zum Wüstensturm zusammen? Das zermürbende: Habe ich
richtig oder falsch gehandelt? – Die düstere Begleitung zum sorglosen
Frühstück der Kinder.“ Ein Pflänzchen gießen macht nur Sinn, geht man davon
aus, dass es auch wachsen wird. Das dachte sich Korczak auch für die Kinder,
für die er sich verantwortlich fühlte. Vermutlich war er immer noch davon
überzeugt, letztlich erfolgreich zu sein, gelänge es ihm, die Ordnung im
Haus mit all den Alltagsritualen aufrechtzuerhalten. Der Krieg würde zu Ende
gehen und die Deutschen würden vielleicht geschlagen.
Todesphantasien und Todesahnungen ziehen sich durch das ganze Tagebuch. Wie
schwer sei doch das Leben, wie leicht der Tod. Selbst in seinen Träumen
wurde er von Todesbildern verfolgt: „Was für unerträgliche Träume! Gestern
nacht die Deutschen, ich ohne Armbinde zu unerlaubter Stunde in Praga. – Ich
wache auf. – Wieder ein Traum. Im Zug verlegen sie mich in ein Abteil ein
Meter mal ein Meter, wo schon mehrere Juden sind. – Heute Nacht wieder Tote.
Die Leichname toter Kinder. Eines tot in der Waschbütte. Ein zweites,
gehäutet, auf der Pritsche im Leichenschauhaus, atmet deutlich. – Ein neuer
Traum: Ich, hoch oben auf einer schwankenden Leiter, und Vater stopft mir
immerzu Napfkuchen in den Mund, ein großes Stück, Napfkuchen mit Zuckerguss
und Rosinen, und was nicht mehr in meinen Mund passt, zerkrümelt er und
steckt es mir in die Tasche. Im bedrohlichsten Augenblick wache ich
schweißgebadet auf. – Ist der Tod nicht so ein Erwachen in einem Moment,
(da) es so aussieht, als gäbe es keinen Ausweg mehr? Jeder wird doch wohl
die fünf Minuten finden, um zu sterben – habe ich irgendwo gelesen.“
Um den Kindern über ihr Leid hinwegzuhelfen, ließ er sie Tagores
Theaterstück „Das Postamt“ aufführen. Das Stück stand auf dem Index der
deutschen Besatzer. In der Geschichte geht es um den sterbenden Waisenjungen
Amal, der, von seinem Adoptivvater sorgsam behütet, von anderen Welten
träumt, allen, denen er begegnet, Hoffnung und Lebenssinn gibt. Esterka
Winogron, eine enge Mitarbeiterin von Korczak, studierte es mit den Kindern
ein. Drei Wochen wurde geprobt. In Korczaks Einladung heißt es: „Für
gewöhnlich versprechen wir nichts, was wir nicht halten können. Wir glauben,
dass die einstündige Vorstellung eines bezaubernden Stückes von einem, der
zugleich Philosoph und Dichter ist, eine Erfahrung von höchster Sensibilität
vermitteln wird.“ Die Aufführung, sie fand am 18. Juli statt, muss ein
bewegendes Ereignis gewesen sein. Korczak selbst erwähnt sie in seinem
Tagebuch nur kurz: „Publikumserfolg, Händedrücke, Lächeln, Versuche, ein
herzliches Gespräch anzuknüpfen.“ Am folgenden Tag notierte er: „Was wäre,
wenn die Schauspieler von gestern heute ihre Rollen weiterspielten? Jerzyk
würde meinen, er sei ein Fakir. Chaimek, er sei wirklich Arzt. Adek wäre
königlicher Bürgermeister.“ Das Stück selbst lässt unterschiedliche
Deutungen zu. Mit dem König, auf den Amal wartet, kann der Tod, aber auch
der Messias gemeint sein. Auf die Frage, warum er dieses Stück ausgewählt
habe, soll Korczak geantwortet haben, er wolle den Kindern helfen, den Tod
zu akzeptieren. Esterka Winogron wurde wenige Tage später bei einer
Straßenrazzia festgenommen und mit einem der ersten Deportationszüge nach
Treblinka deportiert. Vergeblich hatte sich Korczak um ihre Freilassung
bemüht.
Die Aufführung des Stücks wäre beinahe nicht zustande gekommen, da alle
Kinder an Durchfällen litten. Als Ursache vermutete Korczak eine Impfung
gegen Ruhr oder den gemahlenen Pfeffer, der den nicht mehr ganz frischen
Eiern einer Pastete beigegeben war: „Binnen einer Nacht verloren die Jungen
achtzig Kilo, im Durchschnitt ein Kilo pro Kopf, die Mädchen sechzig Kilo
(etwas weniger). Der Verdauungstrakt der Kinder arbeitet unter Hochdruck. Es
braucht nicht viel, um eine Katastrophe auszulösen.“ Am folgenden Tag hatte
sich der Gewichtsverlust bei den Jungen um kein einziges Kilogramm
ausgeglichen. Korczak pflegte die Kinder regelmäßig zu wiegen: „Der Tag
beginnt mit der Waage. Der Mai hat eine starke Abnahme gebracht. Die
vergangenen Monate des Jahres waren nicht schlecht, und der Mai ist noch
nicht besorgniserregend. Aber uns stehen im günstigsten Fall noch zwei
Monate bis zur neuen Ernte bevor. Das ist gewiss. Und die Beschneidung der
Verfügungsgewalt der Behörden, und die zusätzlichen Erklärungen, die innere
Zusammendrängung – werden die Lage noch verschlechtern. Die Stunde des
sonnabendlichen Wiegens der Kinder ist eine Stunde starker Emotionen.“
Sich an frühere Waisenhäuser erinnernd, ließ ihn nun das Dom Sierot an eine
Kaserne und ein Gefängnis denken. Eines sei es nicht, nämlich ein
Bienenstock oder ein Ameisenhaufen. Das Dom Sierot habe sich in ein
Altersheim verwandelt: „Die Kinder schleichen umher. Nur die äußere Haut ist
normal. Darunter lauern Erschöpfung, Mutlosigkeit, Wut, Auflehnung,
Misstrauen, Groll, Sehnsucht. Der schmerzliche Ernst ihrer Tagebücher. Ich
antworte auf ihre Geständnisse, und so teile ich mit ihnen wie ein Gleicher
unter Gleichen. – Unsere gemeinsamen Erlebnisse – ihre und meine. Die meinen
vielleicht etwas wässriger, verwässerter, ansonsten das gleiche.“
Am 22. Juli 1942, Korczaks Geburtstag, begannen die Deportationen: „Der
Judenrat ist für die Stellung der täglich zur Verladung kommenden Juden
verantwortlich. Zur Durchführung dieser Aufgabe bedient sich der Judenrat
des Jüdischen Ordnungsdienstes 1000 Mann. Der Judenrat sorgt dafür, dass
täglich ab 22.7.42 bis spätestens 16 Uhr 6000 Juden zum Sammelplatz bestellt
werden. Sammelpunkt ist für die gesamte Zeit der Evakuierung das jüdische
Krankenhaus in der Stawkistraße. Am 22.7. werden die 6000 Juden direkt auf
den Verladeplatz an der Transferstelle gestellt. Zunächst kann der Judenrat
die täglich zu stellenden Kontingente an Juden aus der gesamten Bevölkerung
nehmen, später erhält der Judenrat eine bestimmte Anweisung, wonach
bestimmte Straßenzüge, bzw. Häuserblocks zu räumen sind.“
Der von der SS dem Judenrat zur Bekanntmachung diktierte Deportationsbefehl
zählt durch seinen Zynismus und seine Unmenschlichkeit zu den
schrecklichsten Dokumenten nationalsozialistischer Vernichtungspolitik. Er
machte Opfer zu Mitakteuren der Vernichtung. „Umsiedlung“, das hieß Tötung.
Es ist nicht von Menschen, sondern, als handelte es sich um irgendwelche
Güter, von „Kontingenten“, von „Verladung“ und „Verladeplatz“ die Rede.
Wertgegenstände, die erlaubt waren mitzunehmen und die den Deportierten eine
gewisse Sicherheit versprachen, also „Geld, Schmuck, Gold usw.“, waren von
vorn herein als Raubgut gedacht. Aufgelistete Strafmaßnahmen gegen
Zuwiderhandlungen enden gleichbleibend mit „wird erschossen.“
Am folgenden Tag nahm sich Adam Czerniakow, er war drei Jahre lang
Vorsitzender des Judenrates des Warschauer Ghettos und als solcher bemüht,
durch Kooperation mit der SS Juden zu retten, mit einer Zyankalikapsel das
Leben. In einem Abschiedsbrief schrieb er: „Sie verlangen von mir, mit
eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen. Es bleibt mir nichts
anderes übrig, als zu sterben.“ Es sei ihm nicht möglich, hilflose Kinder an
die Deutschen auszuliefern. Korczak war mit Czerniakow befreundet. Als
dieser am nächsten Morgen in Gegenwart seiner Frau, einiger Mitglieder des
Judenrates und einiger enger Freunde still und hastig begraben wurde, hielt
Korczak eine Grabrede: „Gott gab Adam Czerniakow die wichtige Aufgabe, die
Würde der Juden zu beschützen. Jetzt, wo er tot ist, wird er seinen Körper
der Erde und seine Seele Gott zurückgeben mit dem Geschenk, sein Volk
beschützt zu haben, und er wird wissen, dass er seine Aufgabe erfüllt hat.“
Czerniakows Tod muss Korczak sehr bewegt haben. Im Tagebuch findet sich dazu
nicht eine einzige Zeile.
Er verarbeitete dies wie anderes auf seine Weise. Unter dem Titel
„Sonderbare Dinge“ phantasierte er eine Art Umkehr der Gewalt. Dank eines
von ihm entwickelten komplizierten Mechanismus, dieser verfüge über eine
Skala von eins bis hundert, lasse sich das Unmenschliche austilgen: „Wenn
ich das Mikrometer auf neunundneunzig stelle, stirbt alles, was noch nicht
einmal ein einziges Prozent Menschlichkeit besitzt. Es gab alle Hände voll
zu tun. lch musste feststellen, wie viele Menschen (Lebewesen) jedesmal
ausfallen, wer an ihre Stelle tritt und wie diese Säuberung aussehen werde;
ein provisorisches, neues Leben. Nach einem Jahr voller Überlegungen
(natürlich in der Nacht) hatte ich diese Destillation bis zur Hälfte
vorangetrieben. Die Menschen waren nur noch Halb-Vieh, die übrigen sind
umgekommen.“ Ein solcher Apparat, und diente er auch dazu, das Menschliche
herauszudestillieren, wäre freilich nicht weniger unmenschlich als das
maschinell ablaufende Vernichtungsprogramm der Nazis. Da Korczak dies nur zu
deutlich sah, stellte er sich konsequenterweise die Frage, wie lange er an
der Schraube seines Gerätes drehen müsste, um sich selbst auszutilgen.
Ein verwandtes Traumbild, es ist einem Jungen mit dem Namen Szymonek
Jakubowicz gewidmet, erwähnt er kurze Zeit später. Auf dem Planeten Rho lebt
ein Professor Zi, der das tut, wovon Korczak selbst nur träumen konnte,
nämlich mit Hilfe eines Astropsychomikrometers seelische Energien zu
regulieren und Wärmestrahlen in moralische Strahlen umzuwandeln. Professor
Zi kann überall für „Harmonie und Heiterkeit“ sorgen, zu seinem großen
Kummer nur nicht auf der Erde, die am Gären ist, auf der niederträchtige
Gefühle überwiegen und die Leidenskurve in die Höhe schnellt. Und er muss
sich fragen, ob es nicht besser wäre, dieses unvernünftige und blutige Spiel
zu unterbrechen? Aber: „Die Wesen, die die Erde bewohnen, haben doch Blut.
Und Tränen. Und sie stöhnen, wenn es weh tut. Wollen sie nicht glücklich
sein? Gehen sie in die Irre, können sie den Weg nicht finden? Finster ist es
dort bei ihnen, und Wind und Staub machen sie blind.“ Geräusche des
Astropsychomikrometers: „Bsss. Bsss.“ Einhalt zu gebieten, das hieße, den
Menschen einen Weg zu weisen, den sie noch nicht gehen können, ihnen etwas
aufzubürden, dem sie nicht gewachsen sind, ihnen ein Ziel zu setzen, das all
ihr Denken übersteigt: „Auf der Erde aber war Krieg. Feuer, Trümmer, ein
Schlachtfeld. Der für die Erde und ihre Geschöpfe verantwortliche Mensch
weiß nichts, oder er weiß und versteht alles nur auf seine Weise.“
Suicide waren im Ghetto alltäglich. Auch Korczak dachte daran, sich das
Leben zu nehmen. Es habe Jahre gegeben, in denen er das Quecksilberchlorid
und die Morphiumpillen in der hintersten Ecke des Schubfachs versteckt
gehalten habe: „Ich nahm sie nur an mich, wenn ich zum Grab meiner Mutter
auf den Friedhof ging. Erst seit dem Krieg habe ich sie ständig in der
Tasche, interessant, dass man sie mir bei der Durchsuchung im Gefängnis
gelassen hat. Es gibt kein abstoßenderes Ereignis (Abenteuer) als einen
misslungenen Selbstmord. So ein Plan muss vollständig ausgereift sein, damit
der Erfolg absolut sicher ist.“ Am 22. Juli notiert er: „Alles hat seine
Grenzen, nur die dreiste Schamlosigkeit ist grenzenlos. [...] Ausspucken und
gehen. Ich erwäge diesen Gedanken seit langem. – Mehr – eine Schlinge – Blei
an den Füßen.“
Nicht zufällig beschäftigt sich Korczak zu dieser Zeit mit dem Thema
Euthanasie. Jeder solle über sein Schicksal, sollte das Leben jeden Sinn
verloren haben, selbst entscheiden können und deshalb Anspruch auf
Sterbehilfe haben. Um jeden Missbrauch eines solchen Rechtes zu verhindern,
Anträge könnten leichtfertig oder erpresserisch gestellt werden, dachte
Korczak an eine Behörde mit unterschiedlichsten Spezialisten wie Ärzten,
Juristen oder Philosophen, an einen absolut geregelten Ablauf zwischen dem
Stellen eines Antrages auf Euthanasie wie deren Durchführung. Das Gesuch
dürfe nur auf einer bestimmten Sorte von Papier geschrieben, womöglich nur
in griechischer oder lateinischer Sprache abgefasst sein. Dem Gesuch sei
eine Zeugenliste beizulegen. Er dachte auch an eine Stempelgebühr. Die
jeweiligen Motive seien anzuführen. Erst nach Erfüllung aller Formalitäten
würde dem Antrag stattgegeben und das eigentliche Verfahren eingeleitet:
„Eine ärztliche Untersuchung. Eine psychologische Beratung; vielleicht eine
Beichte, vielleicht eine Psychoanalyse. Zusätzliche Gespräche mit den
Zeugen. Festsetzung und Verschiebung von Terminen. Spezialisten und
Gutachter.“ Dann könne über den Ort, den Zeitpunkt und das Wie des Todes
entschieden werden: „Das Todesurteil wird in einem Monat auch gegen deinen
Willen vollstreckt. Denn du hast dein schriftliches Einverständnis gegeben,
den Kontrakt mit der Organisation, den Vertrag mit dem Zeitlichen
unterschrieben. Um so schlimmer, wenn du es im Nachhinein bereust. Oder, der
Tod – die Befreiung kommt im Schlaf, in einem Glas Wein, beim Tanz, mit
musikalischer Begleitung, plötzlich und unerwartet.“ Mochte Korczak die
Euthanasie auch befürwortet haben, die von ihm angegebenen Hürden sind so
hoch, dass kaum ein Lebensmüder erfolgreich wäre. Er dachte auch an
„Euthanasie auf Bestellung“, an geistig Umnachtete, ihres eigenen Willens
Beraubte, die unfähig sind, selbst zu entscheiden. Dafür bedürfe es eines
Gesetzbuches mit tausend Paragraphen. Als er in schweren Stunden daran
gedacht habe, Säuglinge und Greise des Judenghettos, die zur Vernichtung
verurteilt seien, zu Tode zu bringen, also einzuschläfern, da habe er dies
als Mord an Kranken und Schwachen, als Meuchelmord an Unwissenden verworfen.
Und: „Aus Mitgefühl zu töten, hat nur der das Recht, der liebt und leidet –
der selbst bereit ist, sein Leben aufzugeben. So wird es in wenigen Jahren
sein.“
Korczak hatte bereits in jungen Jahren an Suicid gedacht: „Als ich meiner
Schwester nach ihrer Rückkehr aus Paris den gemeinsamen Selbstmord
vorschlug, war das kein Gedanke oder Programm, das einem Bankrott entsprang.
Nein. Ich hatte nur keinen eigenen Platz auf der Welt und im Leben. Cui bono
noch ein Dutzend weiterer Jahre? Meine Schuld war es vielleicht, dass ich
das Angebot später nicht mehr wiederholte. Der Handel kam nicht zustande
wegen Meinungsunterschieden.“ Korczak, eugenische Gedanken waren ihm
keineswegs fremd, fürchtete, er, der Sohn eines „Wahnsinnigen“, könnte wie
sein Vater in einer Irrenanstalt enden. Er betrachtete sich als erblich
belastet. In jungen Jahren hatte er an einem Roman mit dem Titel
„Selbstmord“ gearbeitet. Gleichzeitig brechen sich in seinen Überlegungen
zur Euthanasie Ahnungen über das Schicksal der deportierten Juden. „Tötung
auf Bestellung“, alles andere als auf Wunsch der Betroffenen. Mit brachialer
Gewalt. Tagtäglich zu Tausenden.
Nach Czerniakows Tod ließ Korczak sein Tagebuch mehrere Tage liegen. Am 27.
Juli, inzwischen waren die Deportationen in vollem Gange, setzte er wieder
an: „Der Regenbogen gestern. Der wundervolle große Mond überm Lager der
Umherirrenden. Warum kann ich dieses unglückliche, geisteskranke Viertel
nicht beruhigen?“ Mit keinem Wort erwähnt er, dass Juden blockweise aus
ihren Häusern und zum Umschlagplatz getrieben wurden. Statt dessen schrieb
er eine längere, verstörende Rede, der sich gleichsam als Paraphrasierung
des Deportationsbefehls liest. Mit bitterer Ironie suchte er den
„durchsichtigen Plan“ der Deutschen zu ergründen: „Erklärt euch, wählt.
Bequeme Wege haben wir nicht zu bieten. Aufs Bridgespiel, aufs Strandbad
muss vorerst verzichtet werden, auch auf das wohlschmeckende, mit dem Blut
der Schmuggler bezahlte Essen. Wählt: entweder auf die Reise oder Arbeit am
Ort. Wenn ihr bleibt, müsst ihr tun, was für die Umsiedler notwendig ist.
[...] Wer sich herausschwindeln will, den erwischen wir, wer sich freikaufen
will, dessen Schmuck, Devisen, alles von ihm, was Wert besitzt, nehmen wir
gern. Sobald er das letzte abgegeben hat – Hauptsache schnell –, werden wir
ihn abermals fragen: ‚Hier oder dort? Und was eigentlich, was?’ Hauptsache,
nicht das Strandbad, nicht das Bridgespiel und das sanfte Nickerchen nach
der Zeitungslektüre. [...] Wir leiten ein gigantisches Unternehmen. Sein
Name ist: Krieg. – Wir arbeiten planmäßig, diszipliniert, methodisch. – Eure
kleinen Geschäfte, Ehrbegriffe, Gefühle, Launen, Vorwürfe, Klagen, Gelüste
interessieren uns nicht. [...] Entschuldigung, aber der Zug muss nach
Fahrplan kursieren, nach vorher festgelegtem Plan. Hier ist das
Eisenbahngleis. [...] Wir Deutschen – es geht nicht um das Aushängeschild,
sondern um den Preis, die Vorherbestimmung der Erzeugnisse. Wir sind die
Eisenwalze oder der Pflug oder die Sichel. – Hauptsache, aus diesem Mehl
wird Brot. Und es wird, wenn ihr uns nicht hindert. Uns nicht in die Quere
kommt. Nicht winselt – uns nicht aufregt – nicht die Luft verpestet. –
Selbst wenn ihr uns mitunter leid tut, wir müssen dennoch mit der Peitsche,
dem Knüppel oder mit Eisen – denn Ordnung muss sein.“
Der Deportationsbefehl, der überall plakatiert war, liest sich in Korczaks
Version in knappester Form folgendermaßen:
„Wer dies und jenes tut – Erschießung.“
„Wer dies oder jenes nicht tut – den erschießen wir.“
Korczak dürfte jede Beschreibung des Elends wie der Gewalt als unangemessen
betrachtet haben. Es blieben ihm nur schnell hingeworfene Miniaturen,
„Gedanken spinnen“ lassend:
„Von Tag zu Tag verändert sich das Gesicht dieses Viertels.
1. Gefängnis.
2. Pestverseuchte.
3. Balzplatz.
4. Irrenhaus.
5. Spielcasino. Monaco. Einsatz – der Kopf.“
Darüber, dass sich Korczak entschieden hat, die Kinder auf dem Weg in den
Tod zu begleiten, was er wissen konnte, was nicht, auch über die näheren
Umstände, so sie aus Zeugenberichten bekannt sind, ist schon vieles
geschrieben worden und soll deshalb an dieser Stelle nicht näher ausgeführt
werden. Heute, da nur noch wenige Zeitzeugen am Leben sind, finde ich die
Rückbesinnung auf Texte wie Korczaks Tagebuch entscheidend, auch wenn sie
sich nur dann erschließen, arbeitet man sich gründlich ein. Mögen solche
Texte noch so irritierend sein, oft genug von dem abweichen, was wir über
die NS-Verbrechen wissen oder denken, so bilden sie doch einen verlässlichen
Bezugspunkt oder Anker in einer Welt, in der alle alles zu wissen scheinen,
widersprüchlichste Behauptungen nebeneinander stehen können und
Tatsächliches immer mehr mit Fiktionalem verschwimmt; nicht zu vergessen, in
einer Zeit, in der sich die Nachfahren der Täter die Sprache der Opfer zu
eigen machen.
Im Sommer dieses Jahres jährt sich Korczaks Todestag zum 75. mal. Die
Auseinandersetzung mit ihm lohnt sich auch deshalb, weil sich viele seiner
pädagogischen Überlegungen heute noch erfrischend lesen. Er konnte Kinder
als seine Lehrer begreifen. Ein Kind habe ein Recht auf eigene Erfahrungen,
ein Recht darauf, als individueller Mensch mit all seinen Schwächen und
Stärken angenommen und geachtet zu werden, also so zu sein wie es ist; es
habe ein Recht auf den heutigen Tag, es habe ein Recht, das war Korczak
wichtig, auf seinen eigenen Tod.
An dieser Stelle seien seine letzten Eintragungen vom 4. August zitiert, und
zwar in ganzer Länge. Zumeist finden sich nur einzelne Zitate abgedruckt,
die einem heutigen und wohl oft idealisierenden Bild entsprechen, welches
wir uns von Korczak machen. Gerade die Viellstimmigkeit, auch das
Irritierende dieser letzten Eintragungen scheinen mir bedeutend.
4. August [1942]
1.
Ich habe Blumen begossen, die armen Pflanzen des Waisenheims, die Pflanzen
eines jüdischen Waisenheims. – Die verdorrte Erde atmete auf.
Ein Wachposten sah mir bei der Arbeit zu. Ärgert oder rührt ihn diese meine
friedliche Verrichtung um sechs Uhr morgens? Breitbeinig steht er da. Und
schaut.
2.
Umsonst die Bemühungen, Esterka freizubekommen.– Ich war nicht sicher, ob
ich ihr, falls ich Erfolg hätte, einen Dienst erwiese oder ihr Schaden und
unrecht tun würde.
„Wo ist sie in die Falle geraten?“ fragt einer.
„Vielleicht ist nicht sie, sondern wir sind in die Falle geraten (weil wir
hierbleiben).“
3.
Ich habe ans Kommissariat geschrieben, sie sollen Adzio wegschicken: Er ist
unterentwickelt und mutwillig bösartig. – Wir können wegen des Unfugs des
einen nicht das Haus in Gefahr bringen. – (Kollektive Verantwortung.)
4.
Für die Dzielna-Straße vorerst eine Tonne Kohle – an Rózia Abramowicz.
Jemand fragt, ob die Kohle dort auch sicher ist.
Die Antwort, ein Lächeln.
5.
Ein bewölkter Morgen. Halb sechs in der Frühe.
Sozusagen ein normaler Tagesbeginn. – Ich sage zu Hanna: „Guten Morgen!“
Sie antwortet mit einem erstaunten Blick.
Ich bitte: „Lächle doch.“
Es gibt kranke, blasse, brustkranke Lächeln.
6.
Ihr habt getrunken, ihr Herren Offiziere, habt ausgiebig und genüßlich
getrunken, auf das Blut, beim Tanz klimperten eure Orden, auf das Wohl der
Schande, die ihr in eurer Blindheit nicht gesehen oder so getan habt, als
sähet ihr sie nicht.
7.
Meine Teilnahme am japanischen Krieg. Besiegt – eine Niederlage. Am
europäischen Krieg – besiegt – eine Niederlage.
Am Weltkrieg ...
Ich weiß nicht, wie der Soldat einer siegreichen Armee fühlt und als was er
sich fühlt ...
8.
Die Zeitschriften, mit denen ich zusammengearbeitet habe, wurden
geschlossen, eingestellt – machten bankrott.
Ein Herausgeber, ruiniert, nahm sich das Leben.
Und all das nicht etwa, weil ich Jude, sondern weil ich im Osten geboren bin.
Dass es dem prachtvollen Westen auch nicht gut geht, könnte ein trauriger
Trost sein.
Es könnte sein, ist es aber nicht. Ich wünsche niemandem etwas Böses. – Ich
kann das nicht. Ich weiß nicht, wie man das macht.
9.
„Vater unser, der du bist im Himmel ...“
Dieses Gebet haben Hunger und Unglück gemeißelt.
Unser tägliches Brot.
Brot.
Es war schon da, was ich erlebe. War doch schon da.
Sie haben Hausrat verkauft, die Kleider, für einen Liter Petroleum, für ein
Kilo Grütze – ein Glas Schnaps.
Als ein Junak-Pole auf dem Polizeikommissariat mich wohlwollend fragte, wie
ich durch die Blockade gekommen sei – fragte ich, ob er „etwas“ für Esterka
tun könne.
Nein, versteht sich.
Ich sagte hastig:
„Danke für die guten Worte.“
Dieser Dank ist die welke Frucht des Elends und der Erniedrigung.
10.
Ich gieße die Blumen. Mein Glatze im Fenster – ein gutes Ziel?
Er hat einen Karabiner. – Warum steht er da und sieht ruhig her? Er hat
keinen Befehl.
Und vielleicht war er als Zivilist Dorfschullehrer, vielleicht Notar,
Straßenfeger in Leipzig, Kellner in Köln?
Was würde er tun, wenn ich ihm zunickte? – Freundschaftlich mit der Hand
grüßen?
Vielleicht weiß er gar nicht, daß es so ist, wie es ist?
Er kann erst gestern von weither gekommen sein ...
© Bernhard Kathan, 2017
Janusz Korczaks Werkausgabe ist im Güterloher Verlagshaus erschienen.
ABB.: Bernhard Kathan, „Ich gieße Blumen ... Korczaks Tagebuch aus dem
Warschauer Ghetto“, 2017.
144,5 x 91cm
Preis: 800,00