1.
Im 18. Jahrhundert begannen die Menschen Wasserfälle, Sturzbäche,
Schluchten, Berggipfel, klare Seen und dunkle Wälder zu sehen. Und es
dauerte keine hundert Jahre, bis sich die Welt zum Panorama formte. Kein
Zweifel, die Menschen begannen sich von der Erde abzulösen, vom Schlamm,
der ihre Schuhe schwer werden ließ, vom Schmutz, aber auch von der Erde,
die ihnen Nahrung gab. Fortan gibt es diesen Kontakt nur noch dann, wenn sie
sich in die Erde graben, um Deckung vor dem Granatfeuer zu suchen. Aber selbst
hier dominiert der Blick in die Ferne, mag er noch so ängstlich sein.
Zweifellos hat sich das Auge gegenüber allen anderen Sinnen durchgesetzt.
Noch im achtzehnten Jahrhundert wurden die Sinne in ihrer Wertigkeit anders
beurteilt. Buffon etwa beginnt seine Abhandlung über die Sinne zwar mit
dem "Sinne des Gesichts", zählt dann aber eine Reihe von Irrtümern
auf, denen das Auge unterliege. Auf dem Grund des Auges würden die
Gegenstände verkehrt abgebildet. Da wir zwei Augen hätten,
würden wir alle Gegenstände doppelt sehen. Allein durch den Sehsinn
könnten wir keine Vorstellung von der Entfernung eines Gegenstandes haben.
Besondere Bedeutung weist er dagegen der Hand zu. Im Gegensatz zum Auge und zum
Ohr unterliege sie weniger Irrtümern, erschließe sie die
Wirklichkeit doch unmittelbar: "Um etwas mit dem Körper oder mit der Hand
zu berühren, müssen wir uns entweder dieser Sache oder sie sich uns
annähern, um in der Weite zu sein, wo man sie betasten kann." Sofern der
betrachtete Gegenstand "eine hinlänglich große Menge Licht
zurückschicken kann, um auf dieses Organ Eindruck zu machen", könne
auch das Auge berühren, aber mit der Hand lasse sich ein Gegenstand viel
genauer erfassen.
Berühren meint bei ihm
verstehen und
be-greifen.
"Es ist also nicht einzig der Grund, weil es eine größere Menge
nervigter Büschel an der Spitze der Finger, als an anderen Theilen des
Körpers gibt; nicht, wie man gemeinlich behauptet, weil die Hand eine
zartere Empfindung hat, daß sie in der That das Hauptwerkzeug des
Gefühls ist; man könnte im Gegentheile sagen, es gebe empfindlichere
Theile, und deren Gefühl zarter ist, wie die Augen, die Zunge etc.; aber
dies ist sie einzig, weil die Hand in mehrere Theile, die alle beweglich,
biegsam sind, alle zu gleicher Zeit thätig und dem Willen gehorchen,
getheilt ist, weil sie das einzige Werkzeug ist, das uns von der Gestalt der
Körper deutliche Vorstellungen gibt. Das Gefühl ist nur eine
Berührung der Oberfläche. Man berechne die Oberfläche der Hand
und der 5 Finger, so wird man sie verhältnismäßig
größer finden, als die jedes andern Theils des Körpers, weil es
deren keinen gibt, der so sehr getheilt ist; daher hat sie zuerst den
Vortheil,
den fremden Körpern mehr Oberfläche darbieten zu können. Hierauf
können sich die Finger ausstrecken, verkürzen, falten, trennen,
verbinden, und sich allen Sorten von Oberflächen anpassen [...]. Wenn
hingegen die Hand ohne Finger wäre, würde sie uns nur sehr
unvollkommene Begriffe von der Gestalt der betastbaren Dinge geben können,
und wir würden nur eine sehr verworrene Kenntnis von den
Gegenständen, die uns umgeben haben, oder wenigstens viel mehr Erfahrung
und Zeit brauchen, um sie zu erwerben. Die Thiere, welche Hände haben,
scheinen die geistreichsten zu sein; die Affen machen Dinge, die den
mechanischen Handlungen der Menschen so ähnlich sind, daß es
scheint, sie hätten als Ursache dieselbe Folge körperlicher
Empfindungen. Alle andere Thiere, die dieses Organs beraubt sind, können
keine hinlänglich deutliche Kenntnis von der Gestalt der Dinge haben; da
sie nichts ergreifen können, und keinen hinlänglich getheilten und
biegsamen Theil haben, um sich nach der Oberfläche der Körper
anpassen zu können, haben sie gewiß eben so wenig einen bestimmten
Begriff von der Gestalt, als von der Größe dieser Körper; daher
sehen wir sie oft ungewiß und erschrocken beim Anblicke der Dinge, die
sie am besten kennen müßten, und womit sie am vertrautesten sind.
Das Hauptorgan des Gefühls ist in ihrer Schnauze, weil dieser Theil durch
den Mund in 2 getheilt ist, und die Zunge ein anderer Theil ist, der ihnen
zu gleicher Zeit dazu dient, um die Körper zu befühlen, die man sie
umdrehen und wieder umdrehen sieht, bevor sie dieselben mit den Zähnen
ergreifen. Man kann auch vermuthen, daß die Thiere, welche, wie die
Tintenfische, Polypen und andere Insekten, eine große Anzahl Arme oder
Pfoten haben, die sie vereinigen und verbinden und mit denen sie sich an
verschiedenen Orten der fremden Körper bemächtigen können,
daß diese Thiere, sage ich, vor den andern Vortheil haben, und die Dinge,
welche ihnen zukommen, viel besser erkennen und aussuchen. Die Fische, deren
Körper mit Schuppen bedeckt ist, und die sich nicht biegen können,
müssen die dümmsten von allen Thieren sein; denn sie können
keine Kenntnis von der Gestalt der Körper haben, weil sie kein Mittel
besitzen, sie zu umfassen; und überdies muß der Eindruck sehr
schwach und die Empfindung sehr stumpf sein, weil sie nur durch die Schuppen
hindurch fühlen können. Daher werden alle Thiere, deren Körper
keine Extremitäten hat, die man als getheilte Theile ansehen kann, wie die
Arme, Beine, Pfoten, etc. viel weniger Empfindung durch's Gefühl, als die
übrigen haben. Die Schlangen sind jedoch weniger dum, als die Fische,
weil, obwohl sie keine Extremitäten haben, und mit einer harten und
schuppigen Haut bedeckt sind, sie doch das Vermögen haben, ihren
Körper nach mehreren Richtungen auf den fremden Körper zu biegen, und
folglich sie auf eine gewisse Art anzugreifen, und viel besser zu
befühlen, als die Fische thun können, deren Körper sich nicht
gut biegen kann. Die 2 großen Hindernisse bei der Ausübung des
Gefühlssinnes sind also zuerst die Einförmigkeit der Gestalt des
Thierkörpers, oder, was dasselbe ist, der Mangel an verschiedenen
getheilten und biegsamen Theilen; und zweitens die Bekleidung der Haut, sei
es durch Haar, Federn, Schuppen, Decken, Muscheln etc. etc. Je härter und
dauerhafter diese Bekleidung sein wird, desto weniger wird die Empfindung
des Gefühls sich ausüben können; je feiner und zarter dagegen die
Haut ist, desto lebhafter und ausgesuchter die Empfindung. Die Weiber haben
unter anderen Vortheilen vor den Männern den, eine schönere Haut und
ein zarteres Gefühl zu haben." Während in unserer Vorstellung der
Sehsinn über allen anderen Sinnen steht, sieht Buffon im Tastsinn jenen
Sinn, der den Menschen auszeichnet und vom Tier abhebt. Es ist leicht
nachzuvollziehen, daß erst die Fähigkeit des Menschen, tastend die
Welt zu
be-greifen, die Voraussetzung dafür geschaffen hat, den
Sehsinn so auszuprägen.
Erst die Hand vermag zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Welt zu
vermitteln. Sie ermöglicht gleichermaßen das Aufgehen in ihr und den
Abstand zu ihr. Den Menschen unterscheidet vom Tier nicht so sehr sein
aufrechter Gang als die Hand, die sich erst durch den aufrechten Gang
differenzieren und so zu einem universellen Werkzeug werden konnte. Erkennen,
Denken, Vernunft und Sprache setzen Abstand zur Welt voraus.
2.
Jeannot Schwartz' plastische Griffskulpturen mit ihrem Abdruck der Hand wie
den Fingern verstehen die Welt als
be-griffene Welt. Buchstäblich
krallen
sich die Finger an der Welt fest, allerdings an lauter Weltfragmenten, Ton
oder Wachsklumpen, der Erde entrissen oder dem Fleisch abgetrotzt. Diese
Griffskulpturen stehen in einem scharfen Gegensatz zu den Dingen des
alltäglichen Lebens, die sich um Neutralität bemühen. All diese Gegenstände
sind so beschaffen, daß sie
möglichst wenig Erinnerungsspuren aufnehmen; bestenfalls Fingerabdrücke,
Spuren des Lippenstifts oder mikroskopisch kleine Partikel
unseres Körpers, die wir an die Welt abgeben. Das Bierglas, berühren
wir es, behält seine Form, Gabel und Löffel nützen sich bestenfalls ab,
verlieren ihren Glanz, das Handtuch vermag die Berührung
nicht aufzunehmen. Legen wir es hin, fällt es schlaff zusammen. Haften
bleibt bestenfalls Schmutz. Alle Gegenstände des alltäglichen Lebens
sollen so beschaffen sein, daß sich ihre Oberflächen leicht reinigen lassen.
Jeannot Schwartz verwendet seine Finger weniger, um Objekte zu modellieren,
sondern Abdrücke zu hinterlassen. Er arbeitet mit den Erinnerungsspuren
seiner Hände. Angreifen, drücken, pressen, und das ohne jede Scheu.
Das Ergebnis sind Kleinstdokumente der Welterfahrung. Jede einzelne dieser
Griffskulpturen beschreibt eine Handbewegung, die längst vorbei ist.
Obwohl es nie ein oberflächliches Befummeln der Welt ist, haben die so
entstandenen Objekte etwas Obszönes, zeigen sie doch in aller
Deutlichkeit, welch fleischige Spuren unsere Hände hinterlassen
können. Alle Berührung ist obszön, letztlich unerträglich.
Greift man eines dieser Objekte dann, dann empfindet man, was es heißt,
ein Objekt - das kann eine Frau, ein Mann, ein Stück Fleisch, ein
Taschentuch, eine Papierserviette, ein Brief oder ein Bierglas sein -,
anzugreifen im Wissen, daß es von anderen bereits berührt wurde. Dem
Ton hat sich eine Empfindung mitgeteilt und diese teilt sich nun der Hand
desjenigen mit, der das Objekt in seine Hand nimmt und die eigenen Finger in
die Vertiefungen legt. Die Finger fügen sich nie in das Negativ und der
Druck der eigenen Hand scheint nie jenem zu entsprechen, an den hier erinnert
wird. Nicht zufällig fällt mir an dieser Stelle Roland Barthes ein,
der im Zugabteil beim Anblick rotlackierter Fingernägel ins Grübeln
kommt. Wie wird wohl der Mittelfinger dieser jungen Frau seinen Weg zu ihrem
Geschlecht suchen, um masturbierend diesen Raum zu formen?
Üblicherweise werden alle Lebenspuren - oftmals sogar durch rituelle
Reinigungsprozeduren - gelöscht. Auf der ganzen Welt findet sich fast
nichts, was nicht von anderen Menschen bereits berührt worden wäre.
Alle Gegenstände, mit denen wir uns umgeben, tragen - wenn auch unsichtbar
- diese Erinnerung in sich. Auch wenn der Computer, dessen Bestandteile in
Taiwan zusammenfügt wurden, nicht mehr an die handschuhverpackte Hand
eines Arbeiters denken läßt, so haben doch die vielen Hände,
die zu seiner Herstellung erforderlich waren, in eigentümlicher Form ihre
Spuren hinterlassen. Die Industrie muß sich bemühen, das Produkt
jungfräulich zu präsentieren. Das Gegenstück zur Technik ist die
Landschaft. Eine richtige Landschaft gilt erst als solche, wenn sie
unberührt, jungfräulich und rein erscheint. Wo immer ein Gelände
diese Botschaft verweigert, wird Landschaft gemieden. Jeannot Schwartz' Kunst
dagegen will berührt und begriffen sein. Allein das
HIDDEN MUSEUM
verweigert sich diesem Ansinnen, sperrt es doch das Berührbare hinter
eine Glasscheibe. Nur der aufmerksame Besucher wird die faustgroßen
Griff-Kirschblüten aus Ton unter dem Kirschbaum liegen sehen. Nicht lange,
denn schon wächst Gras darüber und löscht die Erinnerung an
diese obszönen Spuren der Finger. Schließlich wird der
Motormäher diese schweren Blüten in sein eisernes Gebiß nehmen
und über sie hinwegfahren. Die Erde wird sich den ihr abgetrotzten Lehm
wieder zurückholen. Was bleibt, ist Issas Tröstung:
Die Kirschblüten
beschimpft man - und nur wegen
dieser frechen Mücken.
B.K.
Draußen: 101 Ton-Kirschblüten. Drinnen: 101 S/W-Photos von 101
Ton-Kirschblüten. Umkehrung des Referenzraumes. Die eigentlichen Objekte
werden dem Zerfall ausgesetzt, über sie wird hinweggetrampelt, aber die
jungfräulichen Objekte finden sich hinter der Glasscheibe dokumentiert.
Das andere Bezugssystem bildet sich zwischen den Kirschblüten und den
Skulpturen aus der Werkgruppe ultimativer Abdruck, die die Bezeichnung
Kirschblüten tragen. Es kann nicht darum gehen, Kirschblüten
nachzubilden, sondern durch die Objekte einen Raum wechselseitiger Befragung zu
öffnen.
20.7.1999 [Nachtrag]: Die Kirschblüten sind auf einem Haufen gelandet.
Tauschnecken haben sich eingenistet und ihre Kotspuren hinterlassen. Regnet es,
so erscheinen sie braun, aber im grellen Sonnenlicht werden sie wieder wie
Knochen gebleicht. Die Ereignisse im Kosovo stellen diese Tonstücke in ein
völlig neues Assoziationsfeld. Wer nicht genau hinsieht, glaubt
aufgeschichtete Knochenstücke zu sehen. Das Sichtbare wird so hoffnungslos
durch Anderes, Fremdes überlagert. Man muß schon genau hinsehen, um
die Kirschblüten als solche zu erkennen. Aber vielleicht könnte ein
genauer Beobachter beim Anblick dieses Häufchens die Zukunft wie ein
Bilderbuch lesen. 1972 war im Kurier zu lesen: "Bub zündete Hund an:
Großbrand. Pristina (Jugoslawien). Ein 14jähriger Bub löste in
der jugoslawischen Stadt Pristina einen Großbrand aus. Weil ihn ein Hund
gebissen hatte, zündete der Jugendliche den Hund kurzerhand an. Vor
Schmerz jaulend, raste der Hund davon und setzte seinerseits einen Stoß
Altpapier in Brand. Das Feuer griff auf ein dreistöckiges Wohnhaus
über, das schwer beschädigt wurde. 56 Menschen verloren dabei ihr
Heim. Der Gesamtschaden beträgt über 1,5 Millionen Schilling." Wohl
niemand verstand damals diese Geschichte zu lesen.